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Hey, ihr Lieben! Es gibt ein neues Buch und ich bin mega gespannt, wie ihr es findet! Deshalb bin ich für jeden Kommentar und jedes Vote dankbar!
Dieses Kapitel widme ich meiner liebsten Wattpadfreundin, die mich immer an allen Ecken und Enden unterstützt! Danke, meine Liebe winterwisdom

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Als er sie das erste Mal sah, stand sie halbnackt und mit Tränen verschmierten Wangen auf dem Bürgersteig und starrte ihn durch das offene Fenster hinweg an. Hinter ihr auf der Hauptstraße forderten sich die Autos selbst zu dieser späten Stunde zu Wettrennen heraus, schleuderten Abgase in die Luft und schrien wie rasende Monster ihren Zorn in die Nacht hinaus. Im Wohnblock nebenan versuchte eine junge Mutter ihr Kind zurück in den Schlaf zu wiegen, das noch immer voller Angst weinte und um sich trat, weil es glaubte, die zuckenden Schatten an der Decke wären die hämisch grinsenden Gesichter der schwarzen Riesen aus der Gruselgeschichte seines Bruders. Der Wind heulte um die Häuser, glühte die pulsierende Stadt ab, vertrieb die Hitze des Sommertages, der das Rennen gegen die Gegenwart verloren hatte.

Einzig die sanften Töne seiner Geige senkten ein süßes Schlaflied über die Stadt, die sich von ihrem Marathonlauf zu erholen versuchte. Es war seine alte Gewohnheit, abends die Geige auszupacken, um dem hetzigen, schrillen Treiben vor seiner Haustür mit tanzenden Noten Parole zu bieten. Musik war für ihn wie atmen, wie fliegen ohne Flügel, wie Magie, deren Zaubersprüche er allein beherrschte. Er besaß den Schlüssel die grauen Gefängniszellen des Alltags mit nur einer einzigen Kombination Achteln zu entriegeln, in Triole einen Spritzer Farbe in blasse Herzen zu tupfen, gestolperten Herzschlägen einen Beat zu zu flüstern und unüberwindbare Mauern mit einem Meer aus Freiheitskämpfern in Schutt und Asche zu legen, die alle zur selben Melodie kämpften und alle Gitterstäbe zerrissen, die versuchten die schönste aller Drogen auszusperren. Ein Schauer prasselte auf die rastlose Stadt hinab, tauchte sie in einen süßen Rausch, verdrehte ihr den Kopf, ließ ihren Herzschlag wieder lebendig werden. Es war kein Geheimnis, dass dieses Talent, diese Leidenschaft sein einziger Schatz war, den er hütete und an dem er Freude hatte, an den er glaubte und an dem er festhielt. Die Überdosis Glück kickte immer dann ein, wenn seine Finger über die Seiten huschten und der Bogen im Takt die Melodie summte.

Erst als sein Blick, der ziellos über die Straßen gehuscht war, den ihren traf, verirrten sich seine Finger erstaunt in den Saiten. Es war nicht die Tatsache, dass sie halbnackt war, die ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Es waren die Tränen, die ihr über die blasse Haut rannen. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar den leichten Bluterguss auf ihrer linken Wange erkennen. Sie schien sich keineswegs darum bemühen zu wollen mit dem Starren aufzuhören. Im Gegenteil, sie trat einen Schritt auf das geöffnete Fenster zu und legte den Kopf in den Nacken, um ihn besser sehen zu können. Er hasste diese Aufmerksamkeit. Sein Herz begann im Fortissimo zu galoppieren, kalter Schweiß prickelte unangenehm auf seiner Haut, die Finger begannen ihm  zu zittern. Krampfhaft versuchte er um Kontrolle zu ringen, kämpfte gegen diese uralte Angst an und wusste doch, dass er den Kürzeren ziehen würde, so wie immer. Seine Augen bemühten sich einen Punkt zu fixieren, begannen die dunklen, zahlreichen Knutschflecken auf ihrem Hals zu zählen und sorgten dafür, dass ihm augenblicklich die Hitze den Hals nach oben kroch. Keuchend ließ er die Geige sinken und stolperte geschlagen zurück, weg vom Fenster, aus dem Radius hinaus, in dem sie ihn sehen konnte. Ja, er war ein Feigling und der Elendste dazu. Aber er konnte sich nicht gegen diese Angst wehren, gegen dieses schrecklich unangenehme Gefühl, wenn ihm der Atem aus der Lunge getreten wurde. Ein müder Seufzer kam ihm über die Lippen, während er seine Geige zurück in ihren Kasten verbannte. Wie lange hatte sie ihm zugehört und zugesehen? Wie lange hatte sie dort unten gestanden und ihn angestarrt? Benommen strich er sich das helle Haar aus der Stirn. Sie hatte seine Routine vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht. Chopins Meisterwerk war noch lange nicht zu Ende gewesen. Seine Finger sehnten sich danach noch einmal die Saiten klingen und den Bogen tanzen zu lassen. Aber sie hatte es kaputt gemacht, dieses Mädchen mit dem pechschwarzen Haar und den dunklen, gepeinigten Augen. Weshalb hatte sie geweint, fragte er sich, erwischte sich selbst dabei, wie seine Gedanken rastlos um diesen veronnenen Moment kreisten, als wäre die Sonne unwichtig geworden. Diese salzigen Tränen waren ein grauenhafter Anblick gewesen. Tränen waren etwas, das eiskalte Panik in ihm auslöste. Vielleicht hatte er früher seine Mutter zu oft weinen gesehen, zu oft gespürt, wie sich ihre elenden Schluchzer in sein Herz gefressen hatten. Vielleicht hätte er von Anfang an stärker sein sollen, mehr Kampfgeist entflammen sollen, kalt sein, so, wie es seine große Schwester war. Sie hatte nie Schwierigkeiten gehabt, selbstsicher und stolz aufzutreten. Von Feuer und Wasser erzählte seine Mutter, wann immer von den beiden Geschwistern die Rede war. Louise, die ältere, wunderschöne, stolze, talentierte junge Anwältin und er, der schüchterne, verkrampfte, sommersprossige junge Mann, der sich von Job zu Job angelte und einfach nicht wusste, wo er hingehörte. Blind stolperte er auf seiner Landkarte entlang, wankte durch schlüpfriges Moor, stieß gegen Felsbrocken und konnte sich einfach nicht merken, wo denn der schöne Norden lag. Sein Kompass hatte lange versagt. Schon Ewigkeiten waren vergangen, seitdem er auf ein strahlendes Leuchtfeuer wartete, das ihn endlich von jeglicher Orientierungslosigkeit befreite.

Feigling im Sturm #FederlichtawardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt