Wasserwald - an der Pforte zur Zwischenwelt

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Benommen stolpert sie der Zeitenwandlerin hinterher. Amalias schlanke, kühle Finger umklammern noch immer Priskas Hand. Zielstrebig lotst die junge Frau sie durch das Gehölz. Hin und wieder erhellen einzelne Sonnenstrahlen den dunklen Tann und lassen Amalias rotgoldene Locken aufleuchten. Der Saum ihres abgetragenen Schürzenkleides, das mehr einem Flickenteppich gleicht als einem Gewand, streift den Waldboden. Denselben weichen, mit Nadeln und Laub bedeckten Grund, welchen Priska bereits unzählige Male zuvor überquert hat. ›Nein‹, korrigiert sie sich. ›Nicht vorher. Sondern mehr als hundert Jahre später.‹ Für einen Menschen eine gewaltige Zeitspanne, aus Sicht der Natur dagegen nicht einmal ein Wimpernschlag. Das Gelände wird felsiger und der Pfad verliert sich in einem steinernen Labyrinth. Jetzt müssen sie klettern und Amalia ist gezwungen, Priskas Hand los zu lassen.

»Bleib dicht bei mir«, flüstert ihr das rothaarige Mädchen beschwörend zu, bevor sie sich daran macht, den Felsbrocken vor ihnen zu erklimmen. Unter ihrem langen Rock trägt Amalia derbe Wanderschuhe. Noch ein Beweis dafür, dass Priska nicht schläft. Solch ein kurioses Detail würde ihr tatsächlich nicht im Traum einfallen. Als sie ihre Finger in den rauen Fels krallt und sich keuchend emporzieht, wird sie erneut an ihre eigene Vergänglichkeit erinnert. Diese Gesteinsbrocken werden auch dann noch hier sein, wenn nicht nur Priskas Knochen, sondern auch die ihrer Nachfahren, längst zu Staub zerfallen sind. Und selbst in ferner Zukunft würde man genau hinsehen müssen, um die feinen Spuren der Verwitterung zu erkennen, die ein bereits Jahrmillionen andauernder Prozess hervorgerufen hat.

»Wo willst du hin?«, ruft Priska ihrer Begleiterin leise zu. Sie fühlt sich wie in einem düsteren Märchen. Unweigerlich fragt sie sich, ob die böse Hexe ihnen bereits auf den Fersen ist.

»Wir müssen dich schnellstmöglich wieder in deine Zeit und nach Hause zu Andreas bringen«, erwidert Amalia. Sie macht einen gehetzten Eindruck, blickt sich aber nicht um.

»Verfolgt sie uns?«, hakt Priska unbeirrt nach.

»Nicht so, wie du denkst«, lautet Amalias rätselhafte Antwort. »Aber ja. Sie wird versuchen, uns aufzuhalten. Das gefährlichste Stück des Weges liegt allerdings noch vor uns.« Priska blickt den Hang hinauf. Noch sind sie nicht an der Baumgrenze angelangt. Vor langer Zeit war an dieser Stelle eine Gerölllawine abgegangen und hatte eine Schneise in den Wald geschlagen. Doch ein Stück weiter oben endet die steinerne Wüste. Wie dunkle Soldaten reihen sich dort die hohen Fichten dicht an dicht. Zusammen bilden sie eine schwarzgrüne Mauer. Stolz recken sie ihre Wipfel in den blauen Himmel. Trotz des idyllischen Anblicks beschleicht Priska ein ungutes Gefühl.

Inzwischen sind sie an einer seltsam anmutenden Gesteinsformation angelangt. Anders als die übrigen Felsbrocken, die wild versprengt im weiß-grauen Schutt liegen, scheinen sich die beiden schroffen Türme, die sich vor ihnen erheben, nicht zufällig an diesem Ort zu befinden. Sie sind jeweils mindestens drei Meter hoch. Dort, wo sie aufeinandertreffen, befindet sich ein schmaler Spalt. Durch den jedoch nicht einmal eine flache Hand passt.

»Und jetzt?« Priskas Blick wandert ratlos von Amalia zu den steinernen Gebilden und wieder zurück. »Ich nehme an, wir können nicht einfach um diese Felsen herum laufen?«

»Nein. Es sei denn, du möchtest im Jahr 1874 bleiben«, antwortet Amalia prompt. Sie deutet nach oben: »Da müssen wir hinauf.« Der eine Gesteinsbrocken verfügt auf halber Höhe über eine Art Balkon, welcher gute anderthalb Meter nach außen ragt. Dunkelgrünes Moos bedeckt das Plateau und die Wurzeln einer knorrigen Fichte umschlingen die massive Felsplatte. Flink wie ein Wiesel klettert Amalia an der furchigen Wand empor. Wenige Sekunden später steht sie bereits auf dem grünen Moosteppich und streckt Priska ihre Hand entgegen. Doch sie ist noch zu weit entfernt. Priskas Finger suchen Halt in den gleichen Kerben, mit deren Hilfe Amalia den kantigen Stein zuvor erklommen hat. Als sie die kühle Oberfläche berührt, hat sie das Gefühl, der Fels sei lebendig. Unter ihren Fingerspitzen spürt sie eine leichte Vibration. Und ihr Blut pulsiert mit einem Mal im Rhythmus dumpfer Trommelschläge. Beherzt greift Priska nach den kräftigen Fichtenwurzeln, die sich neben ihr um das zerklüftete Gestein ranken.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 15, 2017 ⏰

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Am Anfang war Lila *PAUSIERT*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt