Am Traummeer

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Dort, wo die Ausläufer der schäumenden Brecher sanft ans Ufer schwappen, sitzen zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Sie kehren Priska den Rücken zu. Etwas an ihnen ist anders als an den imaginären Gestalten, die Priska bewusst in ihren Traum gepflanzt hat. Die Sonne blendet sie. Doch die Umrisse der Beiden erscheinen ihr vertraut. Sie hebt die Hand und schirmt ihre Augen ab. Zuerst fällt ihr das blonde Haar des Jungen auf. Es leuchtet golden im gleißenden Licht und erinnert sie an Ranieri. Dann erkennt sie die rote Schleife auf dem Kopf des Mädchens. Und das gerüschte Kleid, welches die kleine Gestalt wie einen Fächer umgibt. Der Junge trägt noch immer die dunkle Jeans und das bunte T-Shirt, auf dem sich vorhin noch zahlreiche Fliegen tummelten. Als hätten sie gespürt, dass sie beobachtet werden, drehen sich Jeremias und Eleonore gleichzeitig um und winken ihr zu. Egal, wie trügerisch diese Idylle auch sein mag: Priska freut sich, dass sie da sind. Das Geistermädchen und der kleine Junge, der gerade an der Schwelle zum Jenseits entlangbalanciert. Sie winkt zurück. Die Kinder lächeln. Es ist das erste Mal, dass Eleonore so unschuldig wirkt, wie sie früher einmal gewesen sein muss. Ein kleines Mädchen, das mit ihrem Freund Sandburgen baut. Keine seelenlose Wachspuppe auf einem alten Foto. Keine Ansammlung negativer Energie. Keine düstere Erscheinung mit dunklen Höhlen statt Augen und einem hämischen Grinsen im flackernden Antlitz.

»Sie haben es also auch geschafft, hierher durchzudringen.« Marlene tritt neben Priska. Das sechsäugige Monster hat sich in ihr Inneres zurückgezogen und die Maskerade ist wieder perfekt. Vollendet bis in die Fingerspitzen mit den rotlackierten Nägeln. Diese krallen sich jedoch statt in Priskas Fleisch in den Rand des hellen Strohhutes, der Marlene vom Kopf zu segeln droht. Aber ihre Präsenz alleine reicht schon aus, um Priska zu lähmen. Und sie fühlt, wie das Gift der Dämonin in ihren Adern pulsiert. Obwohl sie sich kaum bewegen kann, ist Priska bis in die kleinste Körperfaser angespannt und bereit, sich zur Wehr zu setzen. Fast hofft sie, dass es bald zum Kampf kommt. Diese Ruhe vor dem Sturm ist unerträglich.

»Ich werde mich diesmal nicht wie ein wildes Tier auf dich stürzen, Priska«, erklärt Marlene beiläufig, während ihr Blick über den glitzernden Ozean schweift. »Mir stehen noch andere Methoden zur Verfügung. Diese Umgebung verlangt nach einem eleganteren Abgang. Oder wie siehst du das?«

Priska wird erst jetzt bewusst, dass Marlene sich in ihrem Kopf befindet und auch ihre verstohlensten Gedanken kennt. Deshalb nimmt sie wohl auch Eleonore und Jeremias wahr. Die Dämonin sieht mit Priskas Augen. Sie denkt mit ihrem Hirn und fühlt mit ihrem Herzen. Priska ist ihr mit all ihren Sinnen ausgeliefert. Sie spürt, wie die Hoffnungslosigkeit ihren Geist nach Schwachstellen abtastet. Mit einem Mal scheint das Meer nicht mehr ganz so blau und die Sonne verschwindet hinter einer dunklen Wolke, die aus dem Nichts aufgetaucht ist. Die Wellen werden höher und die windigen Böen zudringlicher. Priska sammelt all ihre Konzentration, um der Verwandlung ihres persönlichen Paradieses entgegenzuwirken und die Hölle auszusperren.

Plötzlich merkt sie, wie der Sand unter ihren nackten Füßen nachgibt. Ehe sie es sich versieht, steckt sie bis zu ihren Knien in der rieselnden Masse. Und sie sinkt immer tiefer. Die Badegäste um sie herum nehmen keinerlei Notiz davon, dass der Sand sie langsam verschluckt. All diese Menschen sind lediglich Statisten in ihrem Traumfilm. Seelenlose Phantasiegestalten. Keine mitfühlenden und eigenständig handelnden Personen. Priska fühlt, wie Panik in ihr aufsteigt. Verzweifelt versucht sie, den Sand mittels ihrer Gedanken in einen festen Untergrund zu verwandeln. Doch das Bild eines asphaltierten Weges passt nicht in diese Kulisse und sie scheitert. Inzwischen reicht ihr der Sand bis unter die Achselhöhlen. Ihre Hände finden keinen Halt. Unmöglich kann sie sich selbst aus diesem kühlen, weißen Sumpf, der sie in wenigen Sekunden lebendig begraben wird, befreien. Je mehr sie sich bewegt, desto schneller rutscht sie nach unten. Hektisch blickt sie sich nach einem Rettungsanker um. Doch da sind nur Marlenes gebräunte Füße, die in strassbesetzten Zehensandalen stecken.

Am Anfang war Lila *PAUSIERT*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt