Wo die Zeiten sich kreuzen

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»Nein, ich will nicht zurück ins Waisenhaus! Bitte, bitte nicht!« 

Jeremias Flehen rührt Priska zutiefst. Sie wirft einen Blick in den Innenspiegel und ihr Herz macht erneut einen Satz. Noch immer hat sie sich nicht daran gewöhnt, dass der Junge Ranieri wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Es fühlt sich an, als befinde sich ein Teil von ihr in einer Art Zeitschleife. Immer, wenn sie in Jeremias unverwechselbare Augen sieht, reißt ein Strom aus Erinnerungen sie aus dem Hier und Jetzt. Und sie werden von Mal zu Mal intensiver. Mit jeder weiteren Stunde, die sie zusammen sind und mit jedem zurückgelegten Kilometer, der sie näher an die alte Heimat bringt, überlappen sich Vergangenheit und Gegenwart ein Stück mehr. Hin und wieder zuckt das Bild, das Priskas Netzhäute an ihr Gehirn weitergeben. Für einen kurzen, aber gefährlichen Moment verschwimmt alles und sie sitzt, selbst wieder ein kleines Mädchen, mit Ranieri im Kastanienbaum. Gemeinsam blicken sie ins Tal hinunter. Damals waren ihr die drei Jahre Altersunterschied riesig erschienen. Geliebt hat sie ihn schon immer. Zunächst wie einen großen Bruder.

Krampfhaft versucht Priska, wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Es gebe keinen ungünstigeren Moment für Tagträume. Nie würde sie es sich verzeihen, wenn sie aufgrund ihrer Fahrlässigkeit mit einem entgegenkommenden Wagen kollidieren oder die Böschung hinunterrasen. Zum Glück fällt das Gelände neben ihnen nicht so steil ab. Priska konzentriert sich auf das Lenkrad in ihren Händen und das Gefühl, in einem fahrenden Auto zu sitzen. Allmählich wird der blaugrüne Eisack grau und schließlich wieder zu der Straße, auf der sie gleich die italienische Grenze passieren. Noch einmal darf ihre innere Kamera nicht in die Vergangenheit schwenken. Inzwischen herrscht viel Verkehr auf dem Zubringer zur Brennerautobahn. Und tatsächlich freut sich Priska über jedes Fahrzeug, das ihnen entgegenkommt. Ebenso wie über das satte Grün der Wiesen und die Bauern, die dort ihr Tagwerk verrichten. All diese Dinge zeigen ihr, dass sie der alptraumhaften Parallelwelt entkommen sind. Vorerst zumindest.

»Sie werden bestimmt nach dir suchen, Jeremias.« Bis sie Matrei hinter sich gelassen hatten, verschwendete Priska keinen einzigen Gedanken an die Zukunft. Es war nur wichtig, dass sie jenem verfluchten Ort so schnell wie möglich den Rücken zukehrten und Jeremias bei Bewusstsein blieb. Er erholte sich erstaunlich schnell von seinem Martyrium. Nun, da er befreit war von der tödlichen Parasitin, deren Leib noch vor ihren Augen zu Staub zerfiel, regenerierte sich sein Körper im Zeitraffer. Entgeistert starrte Priska auf die leere Stelle, an der das Monstrum eben noch gelegen hatte. Nichts deutete mehr auf den Kampf hin, der ihnen fast das Leben gekostet hätte. Als sei alles, was in den vergangenen Stunden geschehen war, nur ihrer Phantasie entsprungen. Der Nebel über der Schlucht löste sich auf und die Sonne lugte zaghaft wieder hinter den Wolken hervor. Gemeinsam blickten sie auf die Sill hinunter, die sich sanft durch die felsige Landschaft schlängelte. Der Schrecken hatte sich verloren. Geblieben war nur das vertraute Schwindelgefühl, das Priska am Rande dieses Abgrundes immer erfasste. Lediglich das sanfte Rauschen der Birkenblätter erinnerte entfernt an die brandenden Wogen aus dem Traummeer. Das Feenhäuschen in Elenas Händen hatte aufgehört, zu leuchten. Niemand würde nunmehr von seinem niedlichen Äußeren auf das magisches Innenleben schließen. Auf Priskas linken Arm gestützt und noch etwas wackligen Beinen schlurfte Jeremias mit ihnen zusammen zum Parkplatz zurück. Erleichtert registrierte Priska, dass das Marterl mit der düsteren Prophezeiung verschwunden war. Doch Marlenes silberner Mercedes stand noch da. Priska baute den Kindersitz aus und montierte ihn auf der Rückbank ihres Autos. Als sie Elena und Jeremias angeschnallt und ihnen jeweils ein Käsebrot und einen Apfel in die Hände gedrückt hatte, hörte sie hinter sich Motorengeräusch. Ihr Herzschlag setzte kurz aus, als ein blauer Kombi neben ihr hielt. Aus dem Auto sprangen ein Mann, eine Frau und zwei Jungen. Sie warfen ihr ein kurzes »Hallo« zu, bevor sie in Richtung Schlucht liefen. So viel Normalität erschien Priska in diesem Moment erst recht surreal. Doch sie spürte, wie ihr Körper vibrierte. Die neue Zuversicht fühlte sich fast an, als sei sie frisch verliebt.

Am Anfang war Lila *PAUSIERT*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt