Das Mädchen

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Vorsichtig stellt Luis die bis zum Rand mit dampfendem Milchkaffee gefüllte Tasse neben Priskas Notebook ab. Sein Blick heftet sich auf den Monitor. »Du denkst also tatsächlich, dass das die Erklärung für deine nächtlichen Panikattacken ist?« Der Ausdruck in seinen Augen ist schwer zu deuten. Vermutlich ist er spätestens jetzt davon überzeugt, dass seine Frau nicht mehr alle Latten am Zaun hat.

Priska seufzt und nippt am heißen Milchschaum. Luis hat es nicht versäumt, den Kaffee mit etwas Karamellsirup zu verfeinern. Ein Hauch von Behaglichkeit legt sich über ihre ungemütlichen Gedanken. »Wir haben doch ausgiebig über meinen Traum von letzter Nacht gesprochen?«

Luis Miene verfinstert sich. »Dass Träume Beweischarakter haben, ist mir neu. Wenn dem so wäre, könnten wir diese Unterhaltung gar nicht führen. Denn dann hätten mich schon vor langer Zeit die schrumpeligen, grauen Männchen, die mir nachts hin und wieder begegnen, auf einen Planeten namens Numidos entführt und Hackfleisch aus mir gemacht.«

Obwohl ihr gar nicht danach zumute ist, muss Priska unwillkürlich auflachen. Sie verschluckt sich an ihrem Kaffee. »Ach Luis,« krächzt sie hustend. »Du machst mich noch wahnsinnig.«

»Ich befürchte, das erledigst du schon selbst,« entgegnet ihr Mann kühl. Seine Worte treffen sie unvermittelt wie ein Peitschenhieb und lassen sie zusammenzucken.

Solche spitzen Äußerungen sind untypisch für Luis. Ihre langjährige Liebe basiert auf nahezu vollendetem Gleichklang. Disharmonien gab es bisher kaum. Doch der gemeinsame Jahrmarktsbesuch und die darauffolgende Nacht scheinen die perfekt austarierten Waagschalen ihrer Beziehung aus der Balance gebracht zu haben. Bereits in dem Augenblick, da Elena ihren nächtlichen Besucher zum ersten Mal erwähnte und Priska sie in ihrem Glauben offensichtlich bestärkte, war Luis Toleranzschwelle eindeutig überschritten gewesen. Dass der Geisterfreund nun seine Identität aufgedeckt und sich noch dazu erdreistet hat, auch in Priskas Kopf herumzuspuken, verbessert die Situation, wie sie sich aus Luis Blickwinkel darstellt, nicht wirklich. Priska kann ihm seinen Unmut noch nicht einmal verübeln. Dennoch ärgert sie sich über seine Bemerkung. Sie fühlt sich von ihm im Stich gelassen. Luis macht es sich zu einfach, wenn er die seltsamen Ereignisse ausschließlich als Symptome ihrer Überspanntheit abtut. Elenas Telekinesedarbietung hat er sogar mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem weigert er sich strikt, übersinnliche Phänomene auch nur in Betracht zu ziehen. Vielmehr macht er seine Frau dafür verantwortlich, dass Elena sich derzeit lieber mit imaginären Geisterfreunden als mit solchen aus Fleisch und Blut umgibt. Die Szene im Kettenkarussell hat er ebenfalls auf die augenscheinlichen Tatsachen zurechtgestutzt. Der Bügel war defekt. Ebenso wie die Wahrnehmung von Frau und Tochter. Die dunklen Schatten seien Auswüchse ihrer beider blühender Phantasie. Eine Art Massenhysterie im Kleinen, so Luis. Die Vorwürfe, die in jedem seiner Sätze mitschwingen, sind inzwischen nicht mehr latent zu nennen, sondern springen Priska direkt ins Gesicht. Je mehr sie miteinander reden, desto unverstandener fühlt sie sich.

Der Milchschaum ist in sich zusammengefallen und der Kaffee erkaltet. Priska leert die Tasse hastig. Um Luis bohrenden Blicken auszuweichen, starrt sie dabei weiter auf den Bildschirm. Die flimmernden Worte ergeben keinen Sinn mehr. Nur Buchstabensalat. Dafür wirkt die alte Bleistiftzeichnung in dem Onlineartikel umso plastischer. Priska spürt förmlich, wie die Last der unheimlichen Kreatur, die da über dem schlafenden menschlichen Körper kauert, ihr selbst die Luft abdrückt und den Lebensodem raubt. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Zu präsent das unheimliche Wesen, welches letzte Nacht von ihrer Zimmerdecke hing.

Als Luis seine warme Hand auf Priskas steifen Finger legt, erschrickt sie. Doch sie entzieht sich seiner Berührung nicht.

»Priska, es tut mir leid, dass ich eben so schroff war. Aber Aufhocker? Ich bitte dich. Das klingt doch eher nach einem verstaubten Ammenmärchen als nach einer plausiblen Theorie.«

Am Anfang war Lila *PAUSIERT*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt