Tanz mit dem Dämon

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Eine ungeheure Schwäche hat von Priska Besitz ergriffen. Marlene ist ein Dämon, der mit Engelszungen spricht. Trotzdem ist Priska geneigt, sich von ihren säuselnden Worten einlullen zu lassen. Sie ist so unsagbar müde. Zu müde sogar, um Angst zu verspüren. Allein die Liebe zu ihrer Tochter hält ihren Lebenswillen aufrecht. Bevor sie sich dem Tod zuwendet, der neben ihr geduldig auf seinen Einsatz wartet, wirft sie einen Blick in den Innenspiegel. Statt Elenas Augen begegnen ihr die des Geistermädchens. Eleonore hockt mit angezogenen Beinen neben dem Kindersitz. Die Arme hat sie um die Knie und ihre Puppe geschlungen. In einer wiegenden Bewegung schaukelt sie vor und zurück. Als wolle sie sich selbst beruhigen. Ihre Mimik kann Priska nicht recht deuten. Die Gesichtszüge des Gespensterkindes sind verschwommener als die letzten Male. Nur ihre dunklen Augen stechen hervor. Und sie sind angsterfüllt. Elena dagegen hat noch immer ihre Hände vorm Gesicht. Ob zum Schutz vor den Fliegen oder aus schierer Verzweiflung, vermag Priska nicht zu sagen. Soviel leichter wäre ihr ums Herz, wenn sie das Kind in Sicherheit wüsste. Instinktiv greift Priska nach hinten. Sie bekommt Elenas rechten Unterschenkel zu fassen und drückt ihn sachte. Ihre Tochter anzusprechen, traut sie sich nicht. Und was soll sie schon sagen: »Du brauchst keine Angst zu haben. Alles ist gut.« Nein, solche Worte helfen jetzt nicht. Sie würden alles nur noch schlimmer machen. Nichts ist in Ordnung. Inständig hofft Priska, dass Elenas Kinderseele unversehrt aus diesem Grauen hervorgeht.

»Deiner Tochter wird nichts geschehen, Priska. Das versichere ich Dir. Es ist nicht ihr Kampf. Noch nicht.« Marlenes Strahlen ist einnehmend wie das einer Hollywooddiva. Makellose, weiße Zahnreihen. Damit könnte sie für Zahnpasta werben. Der Junge auf Marlenes Schoß sieht aus wie tot. Priska muss schon genau hinsehen, um zu erkennen, dass sein Brustkorb sich sachte hebt und senkt. Eine Fliege krabbelt träge über seine blassen Lippen. Auch ihre Artgenossinnen sind zwar nicht weniger, aber ruhiger geworden. Sie sitzen überall. An der Windschutzscheibe, auf den Türgriffen, dem Schalthebel, am Innenspiegel und natürlich auf den vier Insassen. Das Geistermädchen ausgenommen. Es scheint so, als würden die Insekten auf etwas warten.

»Wer ist dieses Kind?«, fragt Priska unverblümt. Die Zeit des Schmierentheaters ist vorüber. Es gibt keinen Grund mehr, sich gegenseitig etwas vorzuspielen.

»Eine erste Anzahlung. Zur Begleichung der alten Schuld.« Beinahe zärtlich streicht Marlene dem Jungen eine blonde Haarsträhne aus dem weißen Gesichtchen. Sie macht dabei jedoch keine Anstalten, die penetranten Fliegen zu verjagen, welche ihn in Beschlag genommen haben wie ein Stück gammliges Fleisch. Sie hebt den Kopf und blickt Priska unverwandt an. Die Augen der Dämonin sind inzwischen so schwarz, dass Priska nicht einmal mehr die Pupillen erkennen kann. »Doch den größten Anteil dieser Schuld wirst du abgelten, Priska.« Marlenes selbstgefälliges Lächeln ist noch breiter geworden.

Priska spürt, wie ihre Angst einer unbändigen Wut weicht. Glaubt Marlene wirklich, sie ließe sich wie ein argloses Lamm zur Schlachtbank führen?

»Was soll das für eine Schuld sein?« Kaum haben die Worte Priskas Mund verlassen, da muss sie an ihren Traum von letzter Nacht denken. Ihr Gefühl sagt ihr, dass es die schwarze Frau ist, die hier die Fäden zieht und Marlene nicht eigenmächtig, sondern in ihrem Auftrag handelt. Hat dieses angebliche Schuld etwas mit Ranieri zu tun? Doch ein Zusammenhang mit ihm und der Spukgestalt aus dem alten Haus existiert doch nur in ihren Träumen. Oder? Priska schafft es nicht, die Gedankenfetzen zu sortieren, die in ihrem Kopf wild durcheinanderwirbeln. Sie weiß, dass sie unter Schock steht. Ihr Körper ist wie gelähmt, während ihr Hirn krampfhaft nach einem Ausweg sucht. Ein weiterer Gedankenschnipsel taucht vor ihrem geistigen Auge auf und hält kurz inne. Was hatte die Nichtnixe im Antermoiasee gefordert? Sie sollen erst die Verrückte und ihre Schergen loswerden? Inzwischen ist Priska sicher, dass damit die schwarze Geisterhexe gemeint war sowie die Kreaturen, die Priska des nächtens heimsuchen. Und hatte sie nichts von einem alten Pakt gesagt? Doch auch dieses Zusammentreffen hat lediglich im Traum stattgefunden. Einen Wimpernschlag lang fragt sich Priska, ob sie nicht auch jetzt, in diesem Moment, in Morpheus Armen liegt und gleich aufwachen wird. Wenn sie das hier überlebt, braucht sie dringend einen Anker. Irgendetwas, das ihr dabei hilft, Schlaf und Wachzustand zu unterscheiden.

Am Anfang war Lila *PAUSIERT*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt