Vermutung

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Einige Stunden später lande ich völlig erschöpft in einem kleinen Wäldchen. Die Sonne ist bereits aufgegangen und strahlt unentwegt über den Himmel. Es braucht eine Weile, bis sich mein Körper wieder in meine menschliche Form verwandelt. Schlussendlich sacke ich kraftlos auf meine Knie und halte mir meinen Magen. Die Kugeln sind sauber durchgegangen und die Wunde hat sich verschlossen, allerdings spüre ich immer noch den Schmerz, als sie mich durchstoßen hatten. Wegzudenken ist er auch nicht, weshalb ich länger als geplant knien bleibe und einfach nur Atme. Nachdem es endlich ertragbar ist, stehe ich auf und begebe mich in das nahe liegende Dorf. Von dort aus schmuggele ich mich als Schwarzfahrer in einen Linienbus und fahre in einen Ort, den ich seit den Verlust meines Bruders penibel meide.
Stumm starre ich aus dem Fenster, beobachte die vorbeiziehenden Autos, Bäume und Wege. Viele Gedanken reisen nicht im meinen Kopf umher. Eher ist er komplett leer, genauso wie meine Gefühle. Ich war mir so sicher, dass das hier der einzige Weg sein würde, um endlich mit der ganzen Sache abschießen zu können, jetzt bin ich mir doch nicht mehr so sicher. Ist es wirklich das Richtige? Schließlich breche ich hier die einzige Regel in den Ferien: Niemals das Schulgelände verlassen. Ich könnte rausgeschmissen werden, was diesmal wirklich schlimm für mich wäre. Jetzt so ich Freunde gefunden und diese sogar akzeptiert habe, würde ich von der Schule fliegen, wenn mich jemand erwischt.
Ich seufze, sehe das Ortsschild vorbeiziehen und drücke auf den „Halt"-Button. Kurz darauf hält der Bus und ich steige aus. Das kleine Busshäuschen sieht noch genauso aus wie früher. Sogar die selbe graue Farbe und die selben Risse im Beton. Wahrscheinlich sind nach all den Jahren noch mehr dazukommen. Ich schüttele den Kopf, gehe weiter, Bergaufwärts. Ich hatte ganz vergessen, was das für eine Qual war, jeden verdammten Tag da rauf zu stiefeln. Fast schon höre ich meinen großen Bruder neben mir schnaufen und sich beschweren, wer diese beschissene Idee hatte, eine Schule auf einen Berg zu setzen. Ein Schmunzeln legt sich auf meine Lippen und weicht erst wieder durch diese dämliche Anstrengung.
Schlussendlich stehe ich vor einem großen Gebäude, welches groß über mir aufragt. Dunkel und fast schon furchteinflößend ist es so wie früher. Die großen Lettern blättern mittlerweile ab, dennoch kann man den Namen immer noch gut erkennen. EAST LINE REALSCHULE.
Kurz schüttelt es mich, dann atme ich tief durch, bis ich mich auf das Gelände wage. Die Schule wurde anscheinend schon länger geschlossen, da das Grundstück verwesen ist. Die Pflanzen wuchern, Teile der Fenster sind herausgebrochen und einige Türen sind aus den Angeln gehoben worden. Durch eine dieser Türen steige ich, gehe innerlich als kleines Mädchen von damals hinein und laufe den selben Weg in mein ehemaliges Klassenzimmer. Dort öffne ich langsam die quietschende Tür, starre auf die durcheinander liegenden Tische und Stühle. So wie damals. Aber der erwartete Flashback bleibt aus. Stattdessen mustere ich mit nichts aussagenden Gefühlen den Raum, trete wieder hinaus und laufe den Fluchtweg entlang. Bleibe dort knien, wo Julien mich tröstete, bog dort ab, wo wir abbogen. Bis ich an den Ort kam, den ich mied. Ich sah den ramponierten Boden und einen roten Fleck. Sein Blut. Es klebt noch immer dort, für ewig.
Ich knie mich hin, streiche über die roten Dielen. Sehe auf, dort, wo die Männer standen. Meine Erinnerungen sind so gut wie nie, lassen mich wie im Kino beobachten, wie ich aus Wut meine Kräfte zum ersten Mal entfessele und sie auf sie loslasse. Wie ich sie zerfetze, wie ich sie zerfleische. Wie ich um meinen Bruder schrie. Und wie ich von einem Mann mit roten Haaren gestoppt wurde.
Rote Haare ... diese außergewöhnliche Haarfarbe verfolgt mich. Erst ich, dann mein Bruder. Dieser Mann. Kid. Shanks ... Shanks?!
Ich vergleiche die Beiden. Den Unbekannten und meinen Lehrer. Und verdammt, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Zwillinge? Gut möglich, er hat jedoch niemals etwas in diese Richtung erwähnt. Sein Vater? Oder gar ... mit einem Ruck stehe ich auf und laufe aus der Schule, Richtung Gemeinde. Hoffentlich hat sie noch offen, hoffentlich haben die Angestellten die Geburtsurkunden, oder Heiratsurkunden oder so etwas in der Art. Irgendetwas, was meine verdammte Vermutung bestätigt!
Vor dem Backsteingebäude angekommen drücke ich die Glastür auf und laufe in das Einwohnermeldeamt. Überraschenderweise sitzt dort ein mir bekanntes Gesicht. Unsere Nachbarin, die sich damals nach dem Tod meines Bruders um meine arme Mutter gekümmert hatte. Sie erkenne mich nicht, was auch besser so ist. Ich frage nach den Unterlagen der Familie Dragonia zwecks Recherchearbeiten. Sie nickt, diesmal etwas blasser als sonst. Ja, damals war es ein richtiger Skandal gewesen.
Nach einigem Suchen hatte sie einige große Ordner, die sie mir überreicht. In einem Nebenzimmer darf ich alles lesen und durchblättere gleich die Akten. Unser ehemaliges Haus, die Kinder, die Mutter. Was aus meiner Mutter wurde, weiß ich erschreckender Weise nicht einmal. Ich wurde vom Jugendamt abgeholt, weil sie den Verlust von Julien und meine vom Teufel verliehene Gabe nicht verkraften konnte. Seitdem habe ich keinerlei Kontakt mehr. Doch ein Sterbedatum ist nirgendwo zu sehen, was nur heißen kann, dass sie noch lebt! Nach einigem Stöbern finde ich auch tatsächlich das, was ich finden will. In einer psychiatrischen Klinik lebt sie. Nicht weit von meiner Schule entfernt. Ich atme tief ein und aus. Plötzlich überkommt mich das Gefühl, sie dringend sehen und umarmen zu müssen, nur sitzt da die tiefe Angst in mir, dass sie mich abweist, mich hasst. Das könnte ich nicht ertragen. Aber ich will sie auch sehen, wenigstens nur um die Gewissheit zu haben, dass sie lebt und es ihr gut geht. Kurzerhand schreibe ich die Daten auf, stecke sie mir in die Tasche und krame dann weiter.
Dann endlich fallen mir Juliens und meine Geburtsurkunde in die Hände. Ich atme tief durch, bis ich mich durchringen kann, sie zu lesen, dauert es erneut eine Weile. Wird meine Vermutung bestätigt? Hat Shanks mit der ganzen Sache etwas zu tun? Und wenn ja ... welche Rolle spielt er dann?


Mein Chaos, mein Leben & eine neue Schule [One Piece]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt