Kirchenchöre

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„Guten Morgen", wünschte mir die wasserstoffblonde Frau im bordeauxroten Hosenanzug, die mich hereinbat, ironisch. Sie deutete auf einen der kobaltblauen Sessel und ich nahm mir die Augen reibend Platz. Als ich gähnte, legte sie den Kopf schief: „Du siehst sehr müde aus. Warst du die ganze Nacht hier im Krankenhaus?"

Ich nickte und blickte auf meine schmutzigen Klamotten: „Die wollten mich wegen den Schnittwunden an den Wangen dabehalten."

„Nicht, weil du fast Suizid begangen hättest? Ich dachte echt, ich würde dich hier nicht mehr wiedersehen, Aleksander."

Sie strich sich über den Blazer, als sie sich mir gegenüber setzte und die Beine übereinander schlug. Ich blickte von meinen Händen auf, die ich in meinem Schoß knetete: „Nein, so ist es nicht, Frau Fisher, Sie müssen mir glauben."

Lüge.

„Wie ist es dann, wenn es nicht „so" ist?", fragte sie und rückte ihre Brille zurecht. 

Ich seufzte: „Nun ja... Mir ging es wirklich nicht gut, das gebe ich zu. Doch ich wollte mich nicht umbringen. Ich war mit Dima dort oben und dann nahm das alles eine unglückliche Wendung. Ich schwöre, es war ein Versehen. Der Beton war feucht und ich war müde und habe nicht aufgepasst."

Lüge.

„Also ist es so wie Dimitri es mir vorhin erzählt hat?"

Ich räusperte mich nervös schief grinsend und total verwirrt: „Kommt darauf an, was er ihnen erzählt hat."

Sie blickte auf ihren Block und begann ihn zu zitieren: „Ja, das war schon eine schräge Sache, das letzte Nacht, aber wissen Sie, der wollte sich gar nicht umbringen oder so und ich auch nicht, ganz sicher nicht, ich bin doch nicht verrückt. Immerhin trage ich rote Schuhe. Glauben Sie, jemand mit so roten Schuhen könnte versuchen sich das Leben zu nehmen? Fragen Sie Aleks, der erklärt Ihnen das. Aber wenn Sie es so genau wissen wollen, wir kennen uns schon länger. Nicht gut, würde ich sagen, aber schon irgendwie, und wir haben uns dort oben getroffen, weil ich dem was sagen wollte und das ein ziemlich guter Ort ist, um so was zu sagen. Auf was ich hinaus will, Sie müssen sich keine Sorgen um ihn machen oder ihn in die Klapse stecken, wissen Sie, das würde alles nur noch schlimmer machen, denn wir haben das schon geklärt. Er kann bei mir knacken, damit er nicht nach Hause muss. Wegen dem ganzen Stress mit seinem Vater. Das haben wir auch beredet, bevor er fast gestorben ist. Und wie Sie sehen, habe ich alles bestens im Griff, weil ich Reflexe habe. Ich zeig's Ihnen. Los, versuchen Sie mich zu schlagen! Versuchen Sie's!"

Lügen über Lügen.

Ich stürmte aus dem Gebäude. Nichts fühlte sich mehr richtig an, als hätte irgendjemand mit einer Abrissbirne die Stadt in meinem Inneren zerstört und zwischen Glasscherben und Bruchstücken fanden nur noch Entsetzen und Leere Platz.

„Aleks, warte doch!", rief Dimitri und versuchte sich meinen Arm zu greifen. Die Erinnerung katapultierte mich zu Kris ins Auto zurück. Ich wollte nur weg und steckte doch fest. Vollkommen entnervt drehte ich mich um und sah ihm ins Gesicht: „Was hast du dir nur dabei gedacht? Letzte Nacht hätte ich es fast geschafft und nun ist alles schlimmer als es davor war. Sehe ich so aus als würde alles schlagartig besser werden, wenn ich mal ein paar Nächte bei dir penne? Bist du komplett übergeschnappt? Was hast du genommen?"

Tränen bildeten sich in seinen Augenwinkeln und er ließ langsam die Hand sinken, die sich in mein Fleisch gekrallt hatte: „Ich habe nichts genommen. Ich bin verdammt nochmal clean! Und ich will dir nur helfen, aber wenn du das so siehst..."

Klare Perlen strömten seine Wangen hinab, als er sich mit bebenden Lippen umdrehte, um zu verschwinden. Totale Enttäuschung säumte sein Gesicht, aber das konnte nicht das Ende sein. Ihn gehen zu sehen ließ in mir die Übelkeit aufsteigem. Er erschrak als ich meine Arme von hinten um ihn schloss und meinen Körper fest an seinen presste. Mein Gesicht vergrub ich in seinem Rücken. Er roch nach Moschus, Minzbonbons und nassem Herbstlaub. Er roch nach Zuhause und ich wollte ihn nicht verlieren.

„Dima?", flüsterte ich leise.

„Hmn?", murrte er.

„Was wolltest du mir sagen? Oder war das nur ein Teil der Lügengeschichte?"

Er griff nach meinen Armen, die ich fest um seine Hüfte geschlungen hatte und führte sie zu seiner Brust. Dort legte er meine Hände ab und murmelte: „Ich möchte der Freund sein den du brauchst."

So hätte es sein können. Dimitri erschauderte bei dem Gedanken daran. Er saß in einer der vorderen Bänke in der Kirche und zog die Ärmel seines Hoodies über seine Hände, als Kris, der im Hemd neben ihm saß, behutsam den Arm um seinen langjährigen Kumpel legte. Die beiden sahen sich vorsichtig mit Tränen in den Augen an, denn ihnen beiden war Aleks wichtiger gewesen als er wusste. Henry saß neben ihnen, seinen schwarzen Blazer, den er üblicherweise auf Beerdigungen trug, um Monas Schultern gelegt, die in ihrem kurzen Kleid fror, das in einem Rot erstrahlte, das dunkler nicht hätte sein können. Er hielt ihre Hand, doch nicht so fest wie er es sonst getan hatte, denn er hatte keine Kraft mehr. Beide wussten, dass ihre Beziehung nun in ein Nichts führte, das sie beide auf ewig gefangen halten würde, denn ein Teil von ihnen war für immer verschwunden und jeder war einsam für sich. Die Zeremonie hatte bereits begonnen, als eine schwarzhaarige Frau die schwere Kirchentür zufallen und somit alle aufschrecken ließ. Zügig trat sie den Mittelgang entlang. Kristof musterte sie genauer. Sie hatte langes, glänzendes Haar, war elegant in Schwarz gekleidet und sehr schlank. Sie setzte sich auf die andere Seite des Gangs und schien eine x-beliebige Frau zu sein, aber er konnte nicht aufhören sie zu beobachten, denn irgendwas hielt ihn fest. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als sie ihre Beine übereinander schlug und die Handtasche neben sich abstellte. Niemand hatte sie bisher gesehen, doch allen stockte der Atem, als sie ihre große Sonnenbrille absetzte, die ihr halbes Gesicht verdeckt hatte, und zu ihnen rüber sah.

„Ist das-", setzte Mona an.

„Das kann nicht sein", unterbrach Kris sie und schüttelte ungläubig den Kopf.

Dimitri, der zwischen den beiden hin und her blickte, wunderte sich: „Was ist los? Was meint ihr?"

Doch mit einem Blick zu Henry hatte sich das Rätsel gelöst. Er starrte die Fremde mit offenem Mund an. Dreizehn Jahre hatte er sie nun nicht gesehen. All die Zeit hatte er mit Warten verbracht. Nun war sie endlich zurückgekommen, doch um welchen Preis? Sie musste den Sohn beerdigen, den sie damals verlassen hatte. War es das wert?

„Sie...sie sieht genauso aus wie Aleks. Ich meine, die Augen...und die Wangenknochen", flüsterte Dima.

„Schnellchecker", fuhr Kristof ihn an und zog seinen Arm zurück. Er hatte kurz vollkommen vergessen, weshalb er hier war. Er hatte die Liebe seines Lebens verloren und das alles, weil er zu lange gebraucht hatte, um zu verstehen was er fühlte. Er sah zu dem schniefenden Schwarzhaarigen neben sich, der die Welt nicht mehr verstand und wohl wieder zu viele Schmerzmittel intus hatte. Dieser versuchte die Wunden an seinen Armen zu verstecken, die er sich selbst zugefügt hatte. Er würde wohl nie damit klarkommen, dass er Aleks nicht hatte halten können. Die Rothaarige, die ehemals seine beste Freundin gewesen war, konnte nicht aufhören, sich ihn dabei vorzustellen, wie er Stockwerk für Stockwerk in die Tiefe fiel und dann auf dem feuchten Beton einer stark befahrenen Straße aufschlug. Sie stellte sich immer wieder die Frage, ob er nach dem Aufprall schon tot war oder ob ihn erst der Lastwagen tötete, der nicht bremsen konnte. Alle vier, wie sie dort nebeneinander saßen, hatten immer noch die Schreie im Kopf, die sie ausstießen, als die Nachricht sie erreichte. Nur Dimitri kannte auch Aleks' Schrei.

„Wir sind heute hier, um uns von unserem geliebten Sohn, Freund und Bekannten Aleksander Petrowitz, genannt Aleks, zu verabschieden. Viel zu früh ist er durch einen tragischen Unfall von uns gegangen."

Everything is fineWhere stories live. Discover now