Liebst du noch oder lebst du schon?

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Mona holte den Besen und ließ die traurigen Überreste der Nacht verschwinden: einen Haufen schwarzer Haare. Sie war das gewöhnt. Solche Aktionen konnten ja nur von mir kommen. Mein Vater würde am nächsten Morgen auch nichts zu den Stoppeln auf meinem Schädel sagen, denn ihn konnte ich schon längst nicht mehr überraschen.

Ich lag auf der Matratze auf dem Boden und blickte auf die Supermankuscheldecke aus der Grundschule, die mich bedeckte. Ich hatte keine andere gefunden. Der bloße Moment erinnerte mich an alte Zeiten. Mir war kalt und ich hatte Durst, doch es war kein Wodka mehr da. Aufstehen, um irgendwas Trinkbares zu holen, wollte ich auch nicht, denn sonst hätte ich Mona aufgeweckt. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte ich Lust wild drauf los zu plappern, zu reden über Gott und die Welt, doch ich atmete nur laut in die Stille, die uns umhüllte. Alkohol machte mich manchmal wirklich hibbelig. Das Mädchen in meinem Bett schien zu schlafen, bis sie sich plötzlich auf den Rücken legte und die weiße Decke anstarrte. Ich drehte mich auf die linke Seite, um sie zu beobachten, doch mehr als ihr helles Shirt, dass sich an ihre Brust schmiegte, die sich langsam hob und senkte, und ihre langen, lockigen Haare, die teilweise an der Bettkante herabhingen, konnte ich im Schein des Mondes nicht erkennen.

„Aleks, bist du wach?", flüsterte sie.

Ich wollte nicken, doch sie sah nicht zu mir, also murmelte ich zustimmend ein „Mhm".

„Ich bin so krank."

Ich setzte mich auf: „Was hast du?"

Verunsichert starrte ich auf die Stelle, an der ich anhand der Umrisse ihr Gesicht vermutete. Hatte sie sich etwas eingefangen? Etwa eine Geschlechtskrankheit? Ebola? Musste sie kotzen? Bitte nicht wieder in mein Bett...

„Liebe. Ich bin so krank vor Liebe. Und du bist überall."

„W-was?"

„Wie geht das nach all den Jahren? Warum verschwindet das nicht?"

„Ich weiß nicht", murmelte ich verwirrt und überrascht zugleich.

„Du weißt doch, vor zwei Jahren auf Marcs Party, als ich dich geküsst habe?", sie stockte. „Ich war nicht mal betrunken und ich weiß es noch ganz genau. Ich habe dich angelogen."

Ich musste unwillkürlich lächeln: „Ja, ich weiß...Ich habe keinen Alkohol geschmeckt."

„Aber du hast mich nicht weggedrückt und mich später auch nicht zur Rede gestellt, weil du wusstest, dass ich nichts dafür konnte. Du bist der beste Freund der Welt, aber ich liebe dich, ich liebe dich so sehr und ich sehe nicht ein, wie man auch nur zehn Minuten in einem Raum mit dir sein kann ohne sich Hals über Kopf in dich zu verlieben. Ich mache alles kaputt. Du bist mir so wichtig. Aber diese Gefühle verschwinden nicht. Egal was ich tue. Egal was ich versuche."

Sie schnaufte und würdigte mich immer noch keines Blicks. Ich raufte mich ohne zu zögern hoch und stand verschlafen etwas wackelig auf den Beinen. Mona kehrte mir wieder den Rücken zu und tat so, als würde sie nichts von dem mitbekommen, was ich tat.

Ich hob die schwarze Bettdecke an und legte mich darunter. Behutsam gab ich ihr einen Kuss auf das flammend rote Haar, rutschte näher an sie ran und schlang meine Arme um sie bevor ich meinen Kopf aufs Kissen sinken ließ. Ich raunte leise: „Liebst du mich immer noch?"
„Das geht nicht weg", flüsterte sie.

„Okay", gähnte ich. Ihre Haare kitzelten an meiner Nase, als ich einschlief.

Sie packte bereits gegen 10 Uhr ihre Sachen. Ich wollte sie nicht einfach gehen lassen. Ich konnte nicht zulassen, dass sie einfach verschwand. Wir standen vor der Haustür. Ich nippte an meinem Kaffee, den ich in der linken Hand hielt. Es war kalt an diesem Morgen und ungewohnt still. Nicht einmal das Rauschen des Flusses in der Ferne oder Autolärm der Hauptstraße drang zu uns. Wir waren allein und das mit unseren Gefühlen und allem, was dazu gehörte.

„Ich werde jetzt gehen", sagte sie und atmete tief durch.

„Du wirst jetzt gehen", wiederholte ich vollkommen perplex während ihre Augen in der Morgensonne schienen und ihre losen Haare, die nicht in den Dutt wollten, im Wind wehten. Es war als wolle sie die Flucht ergreifen, doch erst später wurde mir bewusst, wer wirklich der Jäger und wer das Reh war. Ich hielt sie, sie die Schrotflinte.

Gibt uns das Universum Signale? Denn wenn ja, hatte ich in meinem Leben genug davon. Durch Aufregung und Angst musste ich mich immer übergeben. War ich aufgebracht, bekam ich Kopfschmerzen. Passierte etwas Schlechtes, verkrampften davor meine Hände. War ich traurig, bekam ich Bauchschmerzen. Mein Vater brachte mich als Kind oft zum Arzt, doch alles war nur in meinem Kopf. Und jetzt, in diesem Moment, fühlte ich mich wie kurz vor einem Autounfall, wenn man die Augen schließt bevor es scheppert. Mein Gehirn pochte im Rhythmus meines Herzschlags. Ich legte meine Hand auf ihre Wange, doch ließ sie wieder fallen. Ich liebte sie nicht und würde es nie tun. Ich musste sie gehen lassen.

Was passiert mit einem, wenn man reden sollte, jedoch schweigt? Wenn man die Worte runterschluckt, in Einmachgläser scheucht und sie fest verschlossen in Regale stellt, wo sie verstauben? Seit Jahren war ich still, denn ich bereute jeden meiner noch so kleinen Ausraster, die vorkamen, wenn eines der Gläser zu Bruch ging. Ich bereute alles in meinem Leben früher oder später. Jede Narbe erzählte eine Geschichte, die ich nicht hören wollte. Jedes Tattoo war Kunst, die niemand verstand, jede Verbrennung von Kippen 15 Minuten weniger zu leben. Doch jetzt waren alle Gläser voll und kein Wort gesagt und ich brauchte Platz für meinen plumpen Körper.

Es war spät, als Kris vor der Tür stand. Wir gingen raus in den Innenhof und er setzte sich demonstrativ mit hoch erhobenem Haupt auf einen der knarzenden Plastikstühle, die unter seinem Gewicht fast nachgaben, während ich mich zu seinen Füßen mit meiner Flasche Bier auf die warmen Pflastersteine gesellte und meinen Goldfisch beobachtete, der seit elf Jahren in seinem Glas die Runden drehte. Es war gut möglich, dass mein Vater ihn in der Zwischenzeit ein, zwei, neun Mal ersetzt hatte, aber das wollte ich mir dann doch nicht eingestehen.

„Erde an Aleks", flüsterte der Dunkelhaarige und ich zuckte augenblicklich zusammen. Er strich mit seinen Fingern über meinen Kopf und musterte mich: „Toller Haarschnitt, ganz nebenbei."

„Nerven verloren", murmelte ich.

„Medikamente genommen?", fragte er. Ich schüttelte den Kopf und er sah mich beunruhigt an: „Bei dem ganzen Stress mit Mo würde ich die an deiner Stelle nehmen."

Ich sprang auf und blieb genau vor ihm stehen. „Was hat sie dir erzählt?", fragte ich und legte meine Stirn in Falten. „Nichts, nichts", winkte er ab. „Jedenfalls nicht viel. Hättest du keinen Krach mit ihr, hättest du mich sicher nicht reingelassen."

„Misch dich nicht ein!", fuhr ich ihn an. Mein Leben ging nach wie vor niemanden an und besonders nicht ihn. Er hob entschuldigend die Hände in die Höhe: „Ich meine ja nur. Ziemlich traurig, dass du mit dem Kerl, der dir das Herz gebrochen hat, über das Mädchen redest, dem du das Herz seit einigen Jahren regelmäßig zertrampelst."

Eine Träne kullerte meine Wange hinunter, ich konnte es nicht aufhalten: „Aber, ich", begann ich zu stottern. „Ich kann doch nichts dafür!"

Kristof sprang auf und legte seine Arme um mich. Er war vielleicht ein Arschloch, aber er gab die besten Umarmungen. Im einen Moment konnte er einen verletzen, im anderen wieder tröstend sein.

„Sag mal", lachte er, „weißt du überhaupt was Liebe ist?"

Er schien mich auszulachen. Was ist Liebe? Eine chemische Reaktion. Bevor ich antworten konnte, legte er seine Lippen auf meine.

Er sah mich an und ich blickte in braun-grüne Augen.

„Ja, sicher weiß ich das", dachte ich mir, doch sicher war ich nicht.

Everything is fineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt