Ariel

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Die Schulglocke erinnerte uns an den Unterricht und half mir dabei, nicht erneut in ihren Augen zu versinken. "Ich muss dann..." Sie zeigte auf den Flur hinter hier. "Okay. Bis dann" verlegen fuhr ich mir durch die Haare. Sie lächelte, drehte sich um und ging den langen Flur entlang. Mir fielen ihre Klamotten das erste Mal an diesem Tag auf. Sie trug einen schwarzen Rock mit schwarzen Strumpfhosen, dazu schwarze knöchelhohe Schuhe, von denen ich vermutete doc Martens zu sein. Ihre langen schwarzen Locken fielen über ihren purpurroten Rucksack und die Rückseite ihres Hoodies verriet, sie sei zu "Pizza-tastisch" für uns. Ich musste lachen und erntete dafür prompt ein paar seltsame Blicke, denn ich stand ganz alleine dort. Seufzend machte ich mich auf dem Weg zum Unterricht.

Nach der letzten Stunde ließ ich die Flügeltür hinter mir ins Schloss fallen. Ich wartete immer extra auf den Schultoiletten bis der große Schülersturm vorbei war, um Ärger zu vermeiden. Ich stand alleine vor dem alten Schulgebäude und betrachtete es. Die weiße Farbe blätterte an einigen Stellen bereits ab, die Hälfte der Plakate für die Sport AG's war durch einen Sturm herunter gefallen und der Hof war übersät mit Strohhalmhüllen und zerknüllten Collegeblockblättern. Das Graffiti an den Wänden war alt und die Farbe verblasste langsam. Alles in einem sah es trostloser aus, als die Gefängnisse in meinen geliebten Kriminalserien. 
Ich wendete meinen Blick seufzend von dem Grauen namens Schule ab und begann Müll kickend zur Bushaltestelle zu laufen.
In der Bushaltestelle saß jemand, den ich aus der Ferne nicht erkennen konnte. Der Umriss sah aus wie Jacksons Freundin, Treena, deshalb wollte ich abgewandtem Gesicht an ihr vorbei, zur nächsten Haltestelle laufen. Doch als ich ankam, piepste eine zögernde Stimme aus dem Häuschen. "Mika?". Es war Ariel. Überrascht sah ich zur ihr herüber. Wie konnte ich nur denken es wäre Treena? "Hey, sorry, ich hatte dich nicht erkannt". Ich wurde rot und versuchte das mit meinen Haaren zu verstecken. "Schon okay" lächelte sie und schielte auf den freien Platz neben ihr. Ich setzte mich und schmiss meine Tasche links neben mir auf den Boden. Auf meinem grauen Pullover hatte ich einen Ketchupfleck vom Mittagessen und meine Jeans hatte ein kleines Loch am Knie, meine Füße wurden gewärmt von alten Chucks meines Bruders. Ich fühlte mich schäbig neben ihr und das einzige was mein Aussehen womöglich rettete, waren meine braunen glatten Haare. "Hey Mika, ich weiß wir kennen uns nicht, aber... meine Mum... naja sie meinte ich soll schnell Freunde finden und sie würde sich bestimmt weniger Sorgen um mich machen, wenn... wenn ich jemanden mitbringe". Verlegen kratzte sie sich am Handgelenk. "Okay, ja... klar" lächelte ich. Die Situation überforderte mich etwas, mich lud nie jemand zu sich ein. "Ich... schreib kurz meinem Dad" sagte ich und fing an auf meinem Touchscreen herum zu tippen.
Mein Vater schickte mir als Antwort klatschende Smileys, was mich schließen ließ, dass er genauso überrascht war wie ich.
Als wir im Bus waren, bezahlte ich für Ariel mit, denn sie hatte ihr Ticket verloren.
"Sorry" sagte sie wieder und wieder. "Echt, ist schon okay, ich hab sowieso immer Geld für zwei mit". Ich hatte es mit, in meiner inneren Jackentasche versteckt, da mir das Geld für das erste Ticket nicht nur einmal gestohlen wurde und ich den ganzen Weg zu Fuß gehen musste. Wir setzten uns hin, Ariel bekam den Fensterplatz. Wir redeten nicht, sie starrte aus dem Fenster als würde sich dort draußen ein Hollywood Buster abspielen.
Irgendwann, redete sie.
"Und wie ist er so?"
"Wer?"
"Dein Dad"
"Naja... wie ein Dad eben. Schätze ich."
In Wahrheit war er nicht nur mein Dad, sondern meine ganze Familie, aber das wollte ich ihr nicht erzählen. Ich wollte ihr nicht erzählen, dass meine Mutter vor zehn Jahren mit meinem Bruder abgehauen war und ich wollte ihr nicht erzählen, dass meine Granny letzten Sommer an Krebs starb.
"Aha" sagte sie.
"Und deiner? Deine Eltern?"
"Auch... Eltern eben."
Wir lachten.
Es war ein schwirrendes Lachen, eines das Ärger mit sich brachte, eines das Lügen wie eine Warnrakete sichtlich machte.

What about angels?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt