1 Woche vorher

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„Ach, komm schon, Sarah! Das ist deine letzte Woche hier und du hast die Chance, mit dem heißesten Typen unseres Jahrgangs auszugehen, und sitzt hier zu Hause herum und liest?" Seit ungefähr 10 Minuten redet Leslie schon auf mich ein, dieses verdammte Buch – ihre Worte, nicht meine – wegzulegen und mich endlich aufzuraffen, um mit „dem heißesten Typen des Jahrgangs" auszugehen. Besagter heißer Typ ist Jonas Field. Er geht in unsere Parallelklasse und jedes, wirklich jedes Mädchen steht auf ihn! Außer mir, natürlich. Und ausgerechnet mit mir will er etwas unternehmen. Okay, zugegeben, er sieht nicht schlecht aus, das stimmt. Und wahrscheinlich ist er auch der heißeste Typ des Jahrgangs, aber er ist eben trotzdem noch so ... durchschnittlich. Bis auf sein Aussehen, hebt er sich nicht gerade von den anderen Jungs ab. Er ist genauso oberflächlich wie die anderen und sieht in mir auf kurze Zeit nur eine Herausforderung, eine, die er erobern will, um damit angeben zu können. Aber, so bin ich nicht. Ich hab ihn und die anderen schon längst durchschaut. Jaa, auch trotz seines tollen Aussehens. Aber, allein tolles Aussehen reicht mir nicht. Er muss mich, wenn dann, auch schon irgendwie von seinem Charakter her überzeugen, oder? Irgendetwas anderes, außer sein Aussehen, müssen doch etwas in mir auslösen, richtig? So ist es doch, bevor man anfängt, sich möglicherweise noch zu verlieben oder so. Nun, bei ihm ist es eben nicht der Fall, und Leslie sollte, verdammt nochmal, auch endlich mal aufhören, nur darauf zu achten. Nicht, dass ich sie deswegen verurteile. Sie ist meine beste Freundin. Aber, ich meine ja nur. Sie hat besseres verdient. Wir beide haben das.

„Hallo?? Erde an Sarah!! Hörst du mir überhaupt noch zu??" Erst jetzt nehme ich Leslies Stimme wieder wahr. Anscheinend hat sie noch immer vom Gleichen geredet, wie auch schon die letzten 10 Minuten. Ich schlage mein Buch zu und seufze. „Hör zu, ich hab doch gesagt, dass ich nicht mit ihm ausgehen möchte. Ich meine, anscheinend wusste jeder vor mir Bescheid, dass er einfach mal so mit mir ausgeht. Er hat mich nicht mal richtig gefragt. Und als ich ihn darauf angesprochen habe, hat er nur gemeint, dass er eigentlich davon ausgegangen sei, dass ich mit ihm ausgehe, da er mir ja schön länger immer mal wieder „Signale gesendet hätte." Ja, das hat erwirklich gesagt! 

„Ich meine, hallo? Wie eingebildet und naiv kann er denn bitte sein? Er ist viel zu überzeugt von sich, denkt, er könne sich alles erlauben und jeder würde das tun, was er gerade so will!" Als ich gerade aufstehen will, um mein Buch zurück ins Regal zu räumen, ist Leslie nun an der Reihe, zu seufzen. Ja, das hat sie gut drauf. Besser als ich!

„Musst du immer alles bis ins kleinste Detail auseinander nehmen und so negativ auf die Welt blicken? Okay, zugegeben, das ist zwar mit einer der Hauptgründe, warum du meine beste Freundin bist,– lässt man deine perfekten, riesen Brüste mal außer Acht – und manchmal ist es ja auch ziemlich amüsant, aber wir reden hier von Jonas! Und deiner letzten Woche in dieser Stadt, bevor du mich für immer verlässt! Warum also nicht einmal alles unkompliziert gestalten und mit ihm ausgehen!?" Jetzt zieht sie auch noch einen Schmollmund!

Und, da bin ich wieder an der Reihe mit Seufzen, dieses Mal aber gefolgt von einem kurzen Lachen. Leslie hatte schon immer einen Hang zum Dramatischen und Übertreiben. Schon seit ich sie damals in der 1.Klasse kennengelernt habe!

„Ich werde dich nicht für immer verlassen, Les. Du weißt doch, dass ich, allein schon wegen meiner Großmutter, wenigstens einmal im Monat hierher zurückkommen muss. Und, wir telefonieren sowieso jeden Tag, schreiben, na ja, oder snappen, also ist das mit dem Verlassen schon mal Quatsch. Und, ich hab eben wirklich keine Lust, überhaupt irgendwo hinzugehen. Ich wollte dieses Buch heute eigentlich noch zu Ende lesen!" Leslie verdreht die Augen. „Gott, Sarah! Du weißt, die Leidenschaft fürs Lesen, teile ich nur zu gern mit dir. Aber in letzter Zeit übertreibst du es doch ganz schön, oder? Es ist nicht immer so toll, abends allein im Zimmer zu sitzen und Bücher bis zum Einschlafen zu lesen." Endlich habe ich es geschafft, mein Buch wieder ordentlich ins Regal, das einzige Möbelstück, welches ich bis zum letzten Tag vollständig stehen lassen will, einzuräumen. Dann setze ich mich wieder gegenüber von ihr auf mein Bett. „Nun,die Tatsache, dass ich in einer Woche nicht mehr hier sitzen kann,mit meiner besten Freundin 10 Minuten weit entfernt, lässt mich eben etwas melancholisch werden, okay? Nicht, dass ich mit ihm ausgegangen wäre, würden wir nicht wegziehen, aber dadurch, dass ich weiß,dass das hier meine letzte Woche in diesem Zimmer ist, will ich meine Abende eben noch so oft wie es nur geht hier drinnen verbringen. Und im Idealfall mit dir. Denn danach werde ich ein anderes Zimmer haben. In einer anderen Stadt, ohne, dass du nur 10 Minuten von mir weg wohnst und nicht mal eben zu mir kommen kannst, verstehst du das? Eigentlich solltest du dich doch geehrt fühlen, dass ich nur dich allein bei mir haben will." Ich lächle bei diesen Worten. Ich wette, darauf wird sie anspringen. Muss sie einfach. Tut sie immer! Wir wollten zwar kein Trübsal blasen, - so hatten wir es uns versprochen - aber so sehr Trübsalblasen ist das ja gar nicht ... Das nächste Seufzen ihrerseits folgt. Sie will mich heute wirklich herausfordern!

„Ich muss mich nicht geehrt fühlen, immerhin ist das ja wohl selbstverständlich!" Jetzt grinst sie etwas. Ha! Ich wusste es doch! Nicht, dass ich es nur gesagt habe, damit sie endlich von dem Betteln abkommt oder so, nein, ich meine es wirklich so!

Sie streift, endlich, ihre Schuhe ab, wirft ihre Jacke in irgendeine Ecke – das tut sie immer- und legt sich auf ihre Seite in meinem Bett,die wirklich nur für sie reserviert ist.

„Schön, ich nerve dich nicht mehr damit. Du hast gewonnen und ich genieße jetzt wieder einmal die Tatsache, dass niemand gegen mich ankommt.Ist ja verständlich, dass du nur Zeit mit mir verbringen willst!" Ah, das ist sie, meine Les! Ich grinse und lege mich neben sie. „Eben! Und jetzt erzähl mir mal, wie deine „Nachhilfe" in Mathe am Nachmittag so abgelaufen ist!"

Mathe Nachhilfe. Ihr Lieblings Thema. Das wird wieder ein langer Abend.Und, ja, ich freue mich darauf, ehrlich!

* * *



Nachdem Leslie mir bis spät in die Nacht bis ins kleinste Detail erzählt hat, wie ihre Nachhilfe so abgelaufen ist, jedoch nicht einmal erwähnt hat, bei welchem Thema genau er ihr überhaupt Nachhilfe gegeben hat, sind wir irgendwie – in einer mir bisher nicht bekannten Position –eingeschlafen. Das liebe ich am meisten an unseren Abenden im Zimmer des jeweils Anderen. Wir können uns stundenlang über ein Thema unterhalten, uns unsere Sorgen und Ängste erzählen oder einfach nur „Dinge über andere feststellen". Ja, so nennen wir das! Wir würden niemals auf die Idee kommen, zu lästern. Warum denn auch? Immerhin gibt es da doch überhaupt keinen Grund für, bei den ganzen tollen Menschen in unserer Umgebung!

„Nimm deinen Arm aus meinem Gesicht!" Leslies warme Hand umschließt meinen Arm und legt ihn neben mich. Ich öffne ein Auge, um zu erkennen, wie, zur Hölle, mein Arm denn überhaupt dahin gekommen ist. Ich liege schon etwas wach, aber daran, dass ich meinen Arm tatsächlich in ihrem Gesicht hatte, habe ich gar nicht gedacht. Ich grinse etwas. „Sorry! Aber dein Gesicht war gerade so eine tolle, weiche und warme Stütze." Sie stöhnt. „Darauf stehst du, was?"Jetzt öffnet auch sie eines ihrer Augen und ihr Blick begegnet meinem. Als sie dann sieht, wie ich wahrscheinlich wie blöd vor mir her grinse, grinst auch sie. „Du Perversling!" Jetzt muss ich lachen. Wie ich das vermissen werde! Ich hasse den Gedanken, dass ich in ein paar Tagen, das hier vermutlich so gut wie nie mehr jeden Tag haben werde.

„Hm, und trotzdem kommst du jedes Mal wieder zu mir ins Bett." Ich ziehe einen Schmollmund, öffne endlich auch mein zweites Auge und setze mich langsam auf. Dann greife ich nach meinem Handy und schaue auf die Uhr. Puuhh, es ist schon halb 1! Wir haben zwar noch Ferien, -Leslie sogar noch eine Woche länger als ich, diese blöde Kuh - aber es gibt trotzdem noch einiges, wobei ich meinen Eltern helfen muss.Zum Glück lieben sie Leslie genauso sehr wie ich und haben wohl mitbekommen, dass sie direkt bei mir geschlafen hat, sonst wäre meine Mutter sicher schon ein paar mal hier drin gewesen und hätte mich höchstpersönlich geweckt. Aber meine Mutter hat Verständnis.Ich hab ihr das, was ich gestern auch schon Leslie erzählt habe, mit der wohl aufkommenden Melancholie, auch erzählt.

„Ich kann bei dir eben einfach nicht widerstehen, weißt du doch!" Jetzt setzt auch sie sich auf, fährt sich durch die Haare und seufzt kurz. „Wie spät haben wir es denn??" Ich lege das Handy wieder weg. „Halb 1. Wir sollten vielleicht mal langsam aufstehen. Meine Mutter hat zwar sicherlich Verständnis, aber das will ich nicht unbedingt zu sehr überstrapazieren." Ich stütze mich ab, stehe vom Bett auf und steuere mein Bad an, in dem auch Leslie noch ein paar ihrer Sachen deponiert hat. „Heute ist wieder großes Packen angesagt!"Jetzt seufzt sie wieder und ich nehme wahr, wie auch sie sich langsam vom Bett hoch stützt. „Gott, ich freue mich ja so, wenn du endlich hier weg bist!"

Ich lache und betrete das Bad. „Ich liebe dich auch!!"



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