Kapitel 20

333 21 0
                                    

„Wo findet denn die nächste Runde des Musikwettbewerbs statt?", fragte ich beim Abendessen mit meiner Familie. Mein Vater verschluckte sich fast an seinem Trinken und meine Mutter gab ihm erst einen tadelnden Blick, dann räusperte sie sich. „Keine Ahnung, es hieß zwar, es würde noch bekanntgegeben werden, aber wir haben keine Nachricht erhalten." Am Ende wollten die mich gar nicht mehr dabeihaben und sagen deshalb nicht Bescheid, dachte ich und schon verging mir der Appetit. Daran konnte auch nicht das leckere Sandwich, das vorwurfsvoll vor mir auf dem Teller lag, nichts ändern. „Hä? Aber ihr habt doch die Mail von den Fernsehleuten vorhin bekommen", platzte Zoe heraus. Was? Dankbar schaute ich meine Schwester an. Dass sie alles bald ausplauderte konnte also auch mal zu Nutzen sein. „Warum lügt ihr mich dann an?", erkundigte ich mich stirnrunzelnd bei meinen Eltern. „Nun ja...", fing meine Mutter an. „Es ist so: Sie wollen euch nach Spanien schicken, mit dem Flieger. Und das können wir als verantwortungsbewusste Eltern nicht zulassen", erklärte mein Vater schließlich. „Was? Warum vertraut ihr mich nicht?" Ich war fassungslos. Ich hatte doch auch einmal einen Französischaustausch in der Schule gemacht oder war mit Sophie an ihrem Geburtstag einige Tage alleine weggefahren. „Nur mit fremden Leuten und dem Fernsehen in ein Land, welches nicht mal ein Nachbarland von uns ist. Das können wir unserer Tochter doch nicht zutrauen." „Aber ich kann auf mich selbst aufpassen!", entgegnete ich entrüstet. „Sagt die, die betrunken aus einer Disco abgeholt werden musste", argumentierte meine Mutter und der Ton ihrer Stimme war eiskalt. Sie hatten also doch davon erfahren, womit ich nicht gerechnet hatte. Wer hatte es ihnen erzählt? Etwa Manuel? „Sei froh, dass wir dir für den Vorfall keine Strafe verhängen." „Oh, wie gnädig von euch", meinte ich sarkastisch. Zu sarkastisch. Genau genommen so ironisch, dass ich mit den Worten „Du gehst in den nächsten Tagen nicht aus der Tür" Hausarrest bekam. Ausgerechnet in der Zeit in der die nächste Runde und Reise dorthin anstand! Obwohl ich ja doch nicht mit nach Spanien durfte. Aber mir fiel da gerade ein cleverer, wenn auch wagemutiger Plan ein.

Drei weitere Tage waren nun vergangen, in denen ich mich vorbildlich verhalten und letztendlich auch bei meinen Eltern entschuldigt hatte. Wie zu erwarten nahmen sie meinen Hausarrest dennoch nicht zurück, das hätte mich auch stark gewundert. Deswegen wollte ich mein Vorhaben tatsächlich in die Tat umsetzen: Ich würde mich nachts davonstehlen, zum Flughafen und dann mit den anderen nach Spanien reisen. Im Internet eignete ich mir das benötigte Wissen an, das hieß, die Abflugzeiten, der Treffpunkt mit den Fernsehleuten und Verbindungen über öffentliche Verkehrsmittel. Ich hatte es sogar geschafft, unauffällig einen kleinen Koffer zu packen und ihn etwas entfernt von unserem Hauseingang im Gebüsch zu verstecken. Mir war aber klargeworden, dass ich in der Nacht nicht aus der Haustür gehen konnte, denn das Schlafzimmer meiner Eltern lag quasi direkt daneben und sie würden mein Verschwinden dann eindeutig mitbekommen. Deshalb brauchte ich einen anderen Fluchtweg, denn ich durch Zufall entdeckte. In meinem Zimmer im zweiten Stock hatte ich ein Fenster und schon als Kind war ich auf den Fenstersims geklettert und hatte dort die Beine baumeln lassen, obwohl es mir eigentlich ausdrücklich verboten wurde. Doch mein Sitzplatz auf dem Sims wurde für mich der ideale Ort zum Nachdenken, kein Wunder also, dass ich mit all meinen Sorgen und Problemen in letzter Zeit öfters dort saß. Dabei rückte unweigerlich die Regenrinne, die neben meinem Fenster entlang nach unten führte, in mein Blickfeld. Wenn ich es nur geschickt anstellte, konnte ich so wirklich nach draußen gelangen. Natürlich plagten mich schon bei der Planung schreckliche Gewissensbisse, so stark hatte ich mich wahrscheinlich noch nie den Anweisungen meiner Mutter und meinen Vater widersetzt. Und das mulmige Gefühl breitete sich immer mehr in meinem Bauch aus. Aber andererseits war eine Reise in ein anderes Land und nichts Anderes als Singen genau das, was ich jetzt brauchte. Kurz mal weg von all dem Scheiß, den ich gerade durchmachte. Nicht an jeder Ecke gleich Manuels Gesicht sehen. Nicht Isabella und ihre Truppe im Rücken haben... Es war echt das Beste für mich zu gehen.

Draußen war es stockfinster geworden, nur die einzelnen Straßenlampen erleuchteten spärlich die Wege. Langsam öffnete ich das Fenster und es entstand ein Quietschen, bei dem ich unwillkürlich zusammenzuckte. Bei der Stille in der Nacht klang jedes noch so leise Geräusch sehr laut. Hoffentlich hatte das niemand gehört! Ich hielt kurz inne, horchte und atmete auf, als ich keine Geräusche vernahm. Erst schwang ich das linke und dann auch noch das rechte Bein über das Fenster und ließ mich auf dem Sims nieder, der dabei zerbrechlich knarzte. Mit meinen Händen krallte ich mich ans Fenster hinter mir und rutschte vorsichtig nach rechts, bis ich die kalte Regenrinne fühlte. Ich umschloss sie mit meinen Armen und schluckte noch einmal. Sollte ich das echt riskieren? „No risk, no fun", hörte ich meine innere Stimme sagen. Und schon glitt ich an der Regenröhre hinunter und landete unsanft mit einem lauten Poltern auf den Boden. Ich unterdrückte einen spitzen Aufschrei, rappelte mich auf und klopfte mir den Schmutz von den Knien. Ich lief keine paar Meter zu den Büschen und holte dort meinen Koffer, den ich anschließend leise klappernd hinter mir herzog. Kurz blieb ich stehen und schaute noch mal zurück, dann machte ich mich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Den schwierigsten Teil hatte ich schon mal geschafft. Ausnahmsweise kam der Bus mal pünktlich. Wie um diese späte Stunde zu erwarten, war er ziemlich leer und ich setzte mich auf den nächstbesten Zweierplatz. Ich schloss meine Augenlider und lehnte meinen Kopf gegen die Fensterscheibe, während der Bus im gleichmäßigen Tempo durch die Stadt zuckelte. Ich steckte meine Ohrstöpsel ein und machte mir am Handy etwas Musik an. Musik an, Welt aus. Es dauerte nicht lange, bis ich einschlief und anfing zu träumen.

Ichhatte Glück, denn der Flughafen war die vorerst letzte Station des Busses undso hatte ich sie nicht verpasst. Nach dem scharfen Bremsen des Busfahrersstürzte ich mit meinem Koffer und mit der durch den Schlaf neugewonnene Energiedurch die Doppeltüre in den Flughafen. Es dauerte nicht lange, bis Taddl undArdy mich zu sich winkten und ich mich zu ihnen setzte, um dort zu warten. „HeyMiriam", hatten mich die Jungs im Chor begrüßt. „Du siehst nicht glücklichaus", stellte Thaddeus fest. „Ach echt?", fragte ich und zwang mich schnell zueinem schiefen Lächeln. „Ich weiß, was sie aufmuntert, T", sagte Ardy zu seinemKumpel. Daraufhin munterte er mich mit wirklich schlechten Flachwitzen auf, beidenen ich wiederwillig anfangen musste zu grinsen. Unsere Wartezeit konnten wirgemeinsam ziemlich verkürzen und schon hieß es, dass wir zum Terminal gehenkonnten, wo wir auf den Rest der anderen Teilnehmer und Betreuer trafen. Siearbeiteten eine Checkliste ab und dann verlangten sie von den Minderjährigen,was fast alle waren, eine Einverständniserklärung der Eltern. Die anderen gabensie ganz selbstverständlich ab, aber mir trieb das den Schweiß auf die Stirn.Natürlich hatte ich das nicht bedacht. Hier endete es wohl schon wieder fürmich. „Miriam Steinfeld? Wo ist die Unterschrift deiner Eltern?" Innerlichkämpfte ich damit, ob ich die Wahrheit sagen sollte oder so tun sollte, als obich den Zettel nur vergessen hätte. Obwohl, vielleicht würden sie dann sogarmeine Eltern persönlich anrufen, die Daten hatten sie jedenfalls... DieEntscheidung wurde mir vom Schicksal abgenommen, denn just in dem Momentvibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Mit pochendem Herzen sah ich nach,wer mich da anrief. Es war weder meine Mutter, noch mein Vater, noch irgendeineandere eingespeicherte Nummer. „Hallo, wer ist da?", meldete ich mich. „Gut,dass ich dich erreiche, Miriam. Hier ist Peter Büttinger", kam es von deranderen Seite der Leitung. „Du?", fragte ich verblüfft. Ich erinnerte mich nochan Manuels Halbbruder, aber ein Anruf von ihm hätte ich niemals erwartet. Esgab wohl einen triftigen Grund, um mich in der Nacht erreichen zu wollen. „Wasgibt's den Wichtiges?", erkundigte ich mich, obwohl ich ungeduldige Blickezugeworfen bekam. „Ich wollte nur wissen, ob Manuel bei dir ist." „Manu? Beimir? Natürlich nicht!", antwortete ich. „Weißt du, wir haben uns ziemlich,naja", druckste ich herum. „Gestritten? Ich hab's mitbekommen." Ja super, ichwollte gar nicht wissen, wie schlecht Manuel über mich geredet hatte... „Aber wiekommst du darauf?" Mit einem Schlag war ich angespannt. „Was ist mit ihmpassiert?", drängte ich. „Manuel ist nicht mehr hier. Wir haben schon alleseine Freunde angerufen, aber bei keinem von ihnen ist er. Da habe ich gesehen,dass er sogar sein Handy liegengelassen hat und ein paar Sachen fehlen. Undwenn er dich nicht besucht, ist er abgehauen." „Hey, du willst doch mit,oder?", unterbrach mich einer der Betreuer genervt und schien zu erwarten, dassich mein Telefonat sofort beendete. „Nein, will ich nicht", sagte ichschnippisch, griff meinen Koffer und ergriff die Flucht. „Miriam, das ist nichtdein Ernst?", fragte Taddl rhetorisch. „Doch, ich habe meine Meinung geändert",erwiderte ich, ohne zurückzublicken. Ein verwirrtes „Hä?" von Ardy war dasLetzte, das ich hörte, bevor ich den Flughafen verließ und mir den nächstbestenBus schnappte. Nicht mein zuhause war das Ziel, sondern Manuels Haus.

Ein Urlaub ohne MaskeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt