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Mein Kopf dröhnt. Ich liege am Boden. Es dauert einen Moment, bis ich mich wieder gesammelt habe. Das war eine massive Steinmauer und ich habe sie ohne irgendwelche Hilfe mit meinem gesamten Körper durchbrochen. Nur mit meinem Körper!
Meine Knochen fühlen sich ganzschön ramponiert an und ich sehe, dass ich blute. An meinem rechten Arm fließt dickes, warmes Blut hinunter. Ich kann es nicht nur sehen, sondern auch schmecken. Meine Lippe ist aufgeplatzt. Und erst jetzt stelle ich fest, dass mein rechtes Knie total zertrümmert ist. Wer weiß, wo ich noch überall verletzt bin. Mein ganzer Körper wird von diesen stechenden und pulsierenden Reizen überflutet. Alles schmerzt.
Doch der Schmerz lässt schon nach. Ich spüre, wie sich mein Knie wieder manifestiert und kann richtig dabei zu sehen, wie sich die Wunde an meinem Arm langsam wieder schließt. Ich fasse an meine Lippe und spüre nichts außer der Berührung meiner Finger. Keine Wunde, kein Blut.
Ich springe ohne Probleme auf und taste zuerst mein ganzes Gesicht und meinen Kopf und dann den Rest meines Körpers ab. Nichts. Keine offenen Wunden oder Brüche und auch kein Schmerz mehr. Nur die aufgerissenen Kleidungsfetzen und blutdurchtränkte Stoffstellen deuten darauf hin, wo ich gerade eben noch verletzt war. Ich habe ja schon gewusst, dass meine Wunden schnell heilen, doch das jetzt überrascht sogar mich noch.
Die anderen erreichen den Tunnel.
„Geht es dir gut?", fragt Riva mich ernst noch ehe sie richtig bei mir ist. Sie stellt sich sofort vor mich und untersucht mich. Sie tastet meine Arme und Rippen ab, ob ich mir irgendwas gebrochen habe.
„Überraschender Weise geht es mir gut, ja", antworte ich ihr und schiebe ihre flinken Hände von mir weg. Sie hat jahrelang die wöchentlichen Untersuchungen an mir durchgeführt. Sie weiß genau, was sie tut. Aber es geht mir gut. Mich zu untersuchen, würde jetzt nur Zeit verschwenden, die wir nicht haben.
„Los, lasst uns weiter", sage ich ruhig. Adam und Aurora keuchen noch.
Na das kann ja was werden. Na gut fairer Weise muss man sagen, dass ich vor dem Serum jetzt bestimmt auch noch gekeucht hätte.
Ich drehe mich um und will den Schienen weiter folgen, als mir plötzlich auffällt, wie stockdunkel dieser Tunnel ist.
„Wir verlaufen uns da drin", stelle ich fest. „Es hat nicht zufällig einer von euch eine Taschenlampe eingepackt, oder?"
Aurora schüttelt mit ihrem Kopf. Adam schaut eine Sekunde auf seine Füße, dann guckt er mich plötzlich an, als hätte er einen Geistesblitz. Vielleicht hat er was dabei, womit man Feuer machen kann.
„Riva, ich brauche deine Betäubungswaffe", beginnt er und ich stutze. Damit kann man nur sehr schlecht beziehungsweise überhaupt nicht ein Feuer machen.
„Nein", antwortet Riva entschlossen.
Ich sehe sie genauso überrascht an wie Adam. Nach den letzten Tagen, habe ich damit gerechnet, dass sie ihnen inzwischen vertraut. Und er vermutlich auch.
„Bitte, Riva. Vertrau mir."
„Sag mir zuerst, was du vorhast."
„Na schön. Jeden Moment wird ein Starker hier vorbeikommen, richtig? Und dieser Starke übernimmt die Nachtschicht. Also wird er eine Taschenlampe dabeihaben. Ich betäube ihn, nehme mir seine Taschenlampe, wir folgen dem Tunnel und er kommt ein paar Minuten später wieder zu sich. Niemand wird dabei verletzt."
Riva sieht ihn undurchschaubar an. Ich werde langsam ungeduldig. Es kann nur noch Sekunden dauern bis ein Starker vorbei kommt und sie überlegt hier erstmal in Ruhe drei Stunden oder was?
„Riva, er ..."
„Pssst!", unterbricht sie mich. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie an Adam vorbei guckt.
Im Tunneleingang erscheint auf einmal schwerfällig ein Starker. Riva zieht ihre Waffe und schießt gezielt auf ihn, noch ehe er uns oder die zerschlagene Mauer wahrgenommen hat. Adam und Aurora springen vor Schreck zur Seite. Der Starke sieht uns mit großen Augen an, dann geht er auch schon zu Boden.
Adam läuft augenblicklich zu dem betäubten Starken und nimmt ihm seine Taschenlampe ab.
„Ich habe nicht verstanden, warum ich dir meine Waffe geben sollte. Ich konnte doch genauso gut schießen", erklärt Riva. Adam geht mit der leuchtenden Taschenlampe an ihr vorbei und wirft ihr einen bösen Blick von der Seite zu, der Riva aber nur wenig interessiert.
Wir folgen Adam. Ich als Letzter, falls uns jemand folgen sollte.
„Ich hatte ehrlich gesagt, nicht erwartet, dass du auf einen Besetzer schießen könntest", erklärt Adam.
„Ich habe ihn ja nicht getötet, sondern nur betäubt."
„Die andere Option wäre gewesen, dass ich ihm das Genick breche", lache ich. Adam und Aurora sehen mich mit großen Augen an. Scheint, als würden sie meinen Humor nicht teilen.
Riva sagt wie üblich nichts dazu.
„Ist es weit?", fragt Aurora Riva.
„Nein. Es reicht, dass wir zur nächsten Haltestelle gelangen."
Das Licht der Taschenlampen zeigt uns nicht nur den Weg, sondern auch blasse Schriften und Zeichen an den Wänden.
„Was ist das?", frage ich.
„Graffiti", antwortet Riva mir. „Damals galt es als Straßenkunst, wobei allerdings nicht alle es als Kunst anerkannten."
Damals. Wie das immer klingt. Statt dass sie einfach sagt: ‚Bevor wir das Leben der Menschen völlig zerstört haben.'
„Also ich finde auch nicht, dass das unbedingt Kunst ist", meint Aurora und deutet dabei auf einzelne Schriften.
„Nicht alles sah so aus. Es gab richtige Bilder, welche auch etwas ausdrücken sollten. Comicfiguren oder Karikaturen. Viele Straßenkünstler wollten damit Kritik an der Gesellschaft ausüben."
Ich sehe sie überrascht an. „Woher weißt du das alles."
„Wir Yeahandarks haben alle einen geregelten Tagesablauf. Mit Absicht. Wir sollen eigentlich keine freie Zeit für uns haben. Doch nachts, wenn ich eigentlich schlafen sollte, lese ich manchmal lieber in alten Büchern. Und am interessantesten fand ich schon immer die von euch Menschen und wie ihr gelebt habt, bevor wir kamen. Ich weiß ich bin eine Zarte und ich habe meine Aufgaben, aber manchmal wäre ich lieber ein Gelehrter. Nur kann man sich das nicht aussuchen."
Sie klingt schon fast menschlich, während sie uns das erzählt.  Ich weiß ja, dass sie keine typische eiskalte Zarte ist, aber so wie jetzt kenn ich sie gar nicht. Doch irgendwie finde ich es schön das zu hören, dass sie sich auch so für uns Menschen interessiert. In solchen Momenten will ich irgendwie nicht wahrhaben, dass sie eine von ihnen ist.
Ein schwaches Licht erscheint vor uns und wird immer stärker, desto näher wir kommen. Erst habe ich die Befürchtung, dass es eine Taschenlampe ist, doch langsam wird klar, dass es das nicht sein kann.
„Eine Haltestelle", stellt Riva fest.
Das Licht muss von einer Straßenlaterne kommen, die von oben reinscheint.
Die Station ist wie erwartet leer. Niemand außer uns ist hier.
Ich klettere den Bahnsteig hoch und helfe Riva, Aurora und Adam dabei.
„Mach die Taschenlampe aus", sage ich Adam.
„Wozu?", hält Riva ihn auf. „Wir wollen doch gesehen werden."
Stimmt auch wieder. Es ist irgendwie total verrückt, dass wir uns ihnen praktisch ausliefern.
Ich spüre schon wieder wie mein Puls rast. Ich habe Angst. Aber nicht davor, von hunderten Starken umzingelt zu werden, sondern diesen hunderten Starken den Kopf abzureißen. Und danach Adam, Aurora und Riva, wenn sie nicht schnell genug weglaufen.
Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Und immer schön ruhig bleiben, Nick.
Ich will schon die Treppen hochgehen, als Riva mich festhält.
„Du brauchst keine Angst haben, Nick. Du kannst dich inzwischen schon viel besser kontrollieren als noch vor ein paar Tagen. Wenn sie dich angreifen, dann denk dran, dass sie das nur tun, weil sie Angst vor dir haben. Sie könnten dir nichts anhaben. Du bist stärker als sie, doch diese Kraft darfst du nicht gegen sie verwenden. Gib ihnen keinen Grund, dich weiterhin als Feind zu betrachten."
Ich weiß, dass sie Recht hat. Aber sie klingt so, als hätte ich das inzwischen völlig im Griff. Doch so ist das nicht. Es fällt mir immer noch sehr schwer. Und das ich gerade eben wieder einen Adrenalinschub hatte, als ich die Mauer durchbrach, hat mir nicht wirklich geholfen.
Doch ich nicke, um sie zu beruhigen.
Und dann steigen wir die Treppe hinauf.

Eulenaugen (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt