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Es war ein langer Tag mit viel zu vielen Toten gewesen. Doch ich bin kein bisschen erschöpft. Dieses Serum putscht mich so sehr, dass ich scheinbar keine Müdigkeit mehr empfinde. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch schlafen kann. Zwar konnte ich das die letzten Nächte noch, obwohl ich schon das Serum in mir hatte, doch nach diesem Ausbruch ... oder sogar nach diesen beiden Ausbrüchen heute, ist mein Körper mir auf einmal völlig fremd.
Wir haben eine alte verlassene Hütte direkt an einem Fluss gefunden, in der wir übernachten wollen, bevor wir morgen sehen, wie es nun weitergeht.
Ich habe furchtbare Angst davor. Was habe ich schon für eine Zukunft als Killermaschine?
Ich liege nach Tagen endlich mal wieder in einem ordentlichen Bett und starre einfach an die Decke. Es wird langsam dunkel draußen. Riva meinte, wir sollten lieber keine Kerzen anmachen, um unentdeckt zu bleiben und ich stimmte ihr zu. Also liege ich nun einfach hier und warte darauf, dass es dunkel wird. Das Fenster ist weit aufgerissen, damit kühle Luft hereinkommt. Nach diesem verdammt heißen Tag, ziehen aus der Ferne Gewitterwolken auf. Man hört draußen nur noch wenige Vögel zwitschern und es werden immer weniger. Diese Ruhe ist unglaublich angenehm. Nach dem ganzen Stress dieses Tages ist es genau das, was ich nun brauche.
Doch die Ruhe hält zu kurz.
Riva klopft leise an meine Tür.
„Komm rein", stöhne ich genervt. Vorsichtig öffnet sie die Tür und tritt herein.
„Geht es dir gut?", fragt sie mich und setzt sich an meine Bettkante.
Ich sehe sie nicht an und schüttle einfach mit meinem Kopf. Über den Bäumen sehe ich ein erstes Wetterleuchten.
„Ich habe mir überlegt, dass wir das vielleicht trainieren sollten mit dir. Einerseits musst du wieder lernen, diese starken Gefühle besser zu kontrollieren, so wie früher. Und andererseits, wenn du deine Stärke wirklich beherrschen könntest, wäre das eine unglaublich starke Waffe, Nick."
Sie hat Recht.
„Und wie soll ich das trainieren?" Ein erstes Donnern ist zu hören.
„Indem ich dich wütend mache. Immer mal wieder und von Mal zu Mal ein bisschen mehr. Und du lernst mit dieser Wut besser umzugehen."
„Was ist, wenn es nicht klappt? Wenn ich wieder die Kontrolle verliere und du es dann bist, die ich kaltblütig zerfleische?" Ich denke an meinen ersten Albtraum vor ein paar Tagen. Es kommt mir vor als wäre es Jahrzehnte her.
„Das wird schon nicht passieren ..."
„Doch. Früher oder später wird es das mit Sicherheit." Ich sehe sie an und setze mich auf. „Ich kann doch nicht unbesiegbar sein. Irgendeine Schwachstelle muss ich haben. Und erst dann, wenn wir diese gefunden haben, bin ich einverstanden."
„Und wie wollen wir die finden?", fragt sie mich und legt dabei den Kopf leicht schief.
„Keine Ahnung, vielleicht gar nicht." Ich lasse mich wieder in die Kissen fallen und betrachte die dunklen Wolken und die immer häufiger werdenden Blitze.
Riva ist schon dabei zu gehen, als ich sie aufhalte.
„Was ist das vierte Geschlecht?", frage ich sie und kurz herrscht Schweigen. Nur ein Donnern und plötzlich eintretender Regen sind zu hören.
„Du wurdest von dem Netz eingefangen, als du mir gerade davon erzählen wolltest", spreche ich weiter.
Sie setzt sich zurück auf meine Bettkante und seufzt leise.
„Sie werden ‚die Ultimativen' genannt." Als ich sie ansehe fällt mir auf, dass ihr Blick auf meine Bettdecke fokussiert ist. So als würde diese Erinnerung wie ein Film vor ihrem geistigen Auge ablaufen.
„Und was genau sind diese Ultimativen?"
Sie sieht mich an, als würde sie mich erst jetzt bemerken.
„Die Starken sind groß und stark. Die Gelehrten sind intelligent. Und wir Zarten sind die Ruhigen und Achtsamen. Uns entgeht nichts, was in unserer Umgebung passiert. Und die Ultimativen ... sie sind einfach alles. Sie sind stark, hochintelligent und aufmerksam. Sie sind einfach ultimativ."
„Und warum sind sie nicht hier auf der Erde?"
„Weil wir vor ihnen geflohen sind. Aber auch nicht alle von uns. Viele Yeahandarks unserer drei Geschlechter leben noch auf unserem alten Planeten. Dort werden wir von den Ultimativen unterdrückt und versklavt."
„Wissen diese Ultimativen, dass ihr hier seid?"
„Ich hoffe nicht. Das würde unser aller Ende bedeuten."
Der Regen prasselt auf mein Fensterbrett, doch ich will gerade nicht aufstehen und das Fensterschließen.
„Dieses weiße Wesen in der ersten Simulation ..."
„... war ein Ultimativer", beendet Riva meinen Gedanken.
„Aber ich habe es geschafft ihn zu besiegen. Und das sogar noch bevor ich das Serum injiziert bekommen habe. Also können sie doch so stark nicht sein..."
„Diese Leistung hat die Gelehrten auch erst dazu veranlasst, dich an dem Experiment teilnehmen zu lassen, anstatt dich aus zu löschen, wie sie es erst vorhatten."
„Oder wie sie es jetzt wieder vorhaben", ergänze ich. „Riva, wozu genau diente das Experiment in Wahrheit? Ich weiß, dass es unsere Leistung steigern sollte und das hat es bei mir ja auch. Aber warum soll unsere Leistung gesteigert werden?" Um ehrlich zu sein kann ich mir die Antwort schon fast denken, nach allem, was sie mir erzählt hat. Aber ich will es von ihr hören.
Sie sieht lange aus dem Fenster, während es draußen stürmt, donnert und schüttet.
„Wir wollten aus euch Soldaten formen." Sie sieht mich dabei nicht an.
„Warum? Warum wir? Ihr könntet euch doch auch einfach selber damit stärken oder nicht?"
„So einfach ist das leider nicht. Jedes unserer Geschlechter hat sehr ausgeprägte Eigenschaften. Ihr Menschen dagegen seid sehr vielfältig und noch dazu leichter beeinflussbar. Wenn man euch von klein auf konditioniert und in bestimmten Punkten fördert, kann man euch praktisch formen wie man will. Eure Erbanlagen spielen natürlich ebenfalls eine große Rolle dabei, aber unsportliche Erzeuger stellen beispielsweise kein Hindernis da, um das Kind sportlich zu fördern. Es beeinflusst lediglich, wie leicht es sich fördern lässt."
Was sie alles erzählt, bereitet mir Kopfschmerzen. Nach diesem Tag bin ich eigentlich gar nicht mehr dazu in der Lage, um über solch ernste Themen zu sprechen. Doch ich habe es endlich geschafft Riva einmal zum reden zu bringen und das will ich nun auch ausnutzen.
„Wenn du von Erzeugern sprichst ... wer waren meine Erzeuger?", frage ich sie.
„Das weiß ich nicht."
„Mir ist schon klar, dass du mir nicht ihre Namen nennen kannst. Das habe ich auch gar nicht gemeint." Ich reibe mir die Augen, obwohl ich nicht müde bin. Ich fühle mich immer noch fit, als könnte ich augenblicklich aus dem Bett springen und einen Marathon laufen. Ich befürchte schon, dass ich nie wieder schlafen kann.
„Ich meine, woher komme ich? Ihr habt mich doch von klein auf in der Stadt großgezogen. Uns alle eigentlich. Alle Menschen, die ich kenne, leben seit sie denken konnten in der Stadt. Wie sind wir überhaupt erst in die Stadt gelangt?"
Wieder herrscht eine Weile stille. Riva sieht mich dabei stumm an und ich warte auf eine Antwort.
„Riva?", dränge ich sie sacht.
„Ich habe Angst, dass du die Kontrolle verlieren könntest und wütend wirst, wenn ich dir das erzähle."
Kein schlechter Einwand. Aber meine Neugier überwiegt.
„Sag mir, ob ich einen Grund habe, um ganz speziell auf dich wütend zu sein. Wie viel hast du damit zu tun?"
„Ich habe von all dem gewusst."
„Nur gewusst? Du hast nicht irgendwie etwas damit zu tun, dass wir Menschen mit euch in den Städten leben?"
„Nein, nicht direkt."
„Ok, dann sehen wir das doch jetzt einfach so, dass ich keinen Grund habe, um auf dich böse zu sein und nehmen das gleich als erstes Training, zur besseren Kontrolle meiner Aggressionen."
„Ich dachte, wir wollten uns langsam steigern?"
„Ja, aber stattdessen werde ich jetzt eben direkt ins kalte Wasser geworfen."
Sie seufzt erneut. Ich habe über all die Jahre gelernt, wie ich am besten mit einem Besetzer diskutiere, um das zu bekommen, was ich will. Und bei Riva bin ich sowieso am meisten geübt.
„Erinnerst du dich an die Jagdsaison, von der das Mädchen heute im Wald gesprochen hat?", fragt sie mich dann leise.
„Ja..."
„Momentan herrscht wieder solch eine Jagdsaison. Während diesen Sommermonaten jagen Starke die Menschen in den Wäldern. Sie fangen sie ein und bringen sie dann in die Stadt."
„Wie bitte?! Aber warum?!" Ich reagiere heftig auf diese Aussage. Das merke ich zu einem, weil Riva innehält und darauf wartet, dass ich mich wieder beruhige und zum anderem selber, weil mein Puls bereits wieder steigt.
„Es tut mir leid", entschuldige ich mich und bitte sie fortzufahren.
„Also diese Menschen werden dann in der Stadt aussortiert. Die gesunden und fruchtbaren Menschen kommen auf die sogenannte Zuchtstation."
„Und die Anderen?"
Sie zögert.
„Die Anderen kommen ins Schlachthaus."
Ich weiß nicht, wie ich jetzt reagieren soll ...

Eulenaugen (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt