6.Kapitel

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Chris und ich standen uns gegenüber und ich konnte nichts anderes tun, als ihn einfach nur anstarren. Das war also mein Vater. Ohne die gestylten Haare wie auf der Bühne sah er ganz anders aus. Ich betrachtete sein Gesicht genauer und bemerkte, dass meine Mutter Recht hatte. Wir sahen uns ähnlich, wir hatten die gleichen Augen und die gleiche Nase.

Chris machte ebenfalls keine Anstalten etwas zu sagen oder zu tun, er starrte mich seinerseits an und in seinem Blick lagen lauter Emotionen. Unsicherheit, Hilflosigkeit, Verwirrung und Überforderung, aber auch so etwas wie Neugierde.

Ich wollte irgendetwas sagen um die Stille zu unterbrechen, aber ich brachte kein Wort raus. Mir schien, als wäre jedes mögliche Wort in dieser Situation blöd und unpassend. Abwartend sah ich Chris an und hoffte, dass er irgendetwas sagen würde.
Er räusperte sich und zupfte nervös an seinem Hemdärmel.
"Hey Emily. Ich bin Chris".
Er reichte mir seine Hand, die ich zögerlich ergriff.
"Hallo ähm.. ", antwortete ich, meine Stimme eine Oktave höher als sonst. Wow, sehr einfallsreich.

Chris und meine Begrüßung war an Peinlichkeit schwer zu übertreffen, aber meine Mutter schaffte es. Sie und Chris gaben sich höchst umständlich die Hand, beide peinlich berührt in den Boden schauend wie zwei Teenager.

Bevor es hier vor der Haustür dann noch komischer und unangenehmer werden konnte, brachte Andreas uns rein und stellte uns seiner Frau Mia vor.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer lief ich an einer Wand vorbei, an der ein paar Fotos hingen. Ich blieb stehen und betrachtete sie genauer. Die meisten zeigten Andreas mit seiner Frau und seinen Kinder - offenbar waren wir bei ihm zuhause - und auf den anderen sah man Chris und Andreas. Auf der Bühne, im Urlaub, in einer Werkstatt,... Sie sahen unbeschwert aus.
Ich betrachtete die Bilder eine Weile. Es fiel mir schwer zu glauben, dass Chris mein Vater war. Für mich war er ein völlig Fremder. Ich grübelte vor mich hin, als mich plötzlich eine Hand an der Schulter berührte. Es war Chris.
"Alles ein bisschen viel auf einmal, was?", fragte er.
Ich nickte.
"Na komm, gehen wir rein. Du hast sicher viele Fragen". Ich nickte erneut, unfähig zu entscheiden wie ich mit ihm reden sollte.
Gemeinsam gingen wir ins Wohnzimmer. Wir setzten uns alle an den Tisch und Mia brachte Kuchen und Gebäck herein. Ich nahm mir direkt ein großes Stück Schokokuchen. Für die Nerven. Eine Weile aßen wir in Schweigen, niemand redete. Ich entschied, dass wohl darauf gewartet wurde, dass ich das Gespräch begann.

"Also...", startete ich deshalb nach einer Weile zögerlich, wobei mir auffiel, dass ich eigentlich gar nicht genau wusste wie ich anfangen sollte. Ich beschloss, dass jetzt nicht der Zeitpunkt war, um sich um Formulierungen Gedanken zu machen und fragt direkt heraus: "Wie kommt es, dass Chris mein Vater ist?". Wenig geschickt eingeleitet, aber diese Frage hatte mich die letzten Tage am meisten beschäftigt. Meine Mutter und Chris warfen sich einen kurzen Blick zu.

"Ich glaube, dazu müssen wir ein wenig ausholen", meinte meine Mutter und legte ihre Gabel beiseite. Ich sah ihr an, dass sie sich sehr unwohl fühlte, aber im Moment konnte ich kein Mitleid für sie aufbringen. Alles was ich wollte, war endlich ein wenig Klarheit in die ganze Sache zu bekommen.

"Dein Vater und ich waren damals schon einige Jahre zusammen. Wir hatten eine schwierige Phase und haben uns oft gestritten. Einmal hatten wir einen besonders schlimmen Streit. Wir haben uns Dinge an den Kopf geworfen, die keiner von uns so meinte und haben uns reingesteigert, bis wir uns dann getrennt haben. Ich war völlig fertig die nächsten Tage und wusste nicht, wie ich mit dem Liebeskummer fertig werden sollte. Ich wusste einfach nicht, wie es weiter gehen sollte".
Meine Mutter wurde immer verzweifelter, je mehr sie erzählte und es klang, als wolle sie sich rechtfertigen.

"Eines Abends war ich dann auf einer Party, in einer Bar. Ich wollte mich einfach irgendwie ablenken, verstehst du? Und dann hab ich...getrunken. Viel zu viel, aber es hat den Schmerz gelindert. Und dann traf ich auf Chris. Er war damals 18 und ich 26. Er hatte ebenfalls eine gescheiterte Beziehung hinter sich und viel zu viel Alkohol. Und dann sind wir uns...näher gekommen...".

Ich zog meine Stirn kraus, als ich merkte worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde.
"Das ist nicht euer Ernst, oder?", platze es aus mir heraus.
"Ihr habt einfach miteinander geschlafen, obwohl ihr euch nicht kennt? Nur weil es euch schlecht ging und ihr betrunken wart?".
Meine Mutter begann unter meinen Vorwürfen immer kleiner zu werden.
"Es tut mir wirklich leid, Kleine.. Wir waren einfach jung und sehr, sehr dumm, das wissen wir Emily... ", murmelte sie.
"Oh ja. Toll."
Mein Blick flog von Mom zu Chris. Wollte er denn gar nichts dazu sagen? Überwältigt und irgendwie wütend sprang ich auf und stürmte aus dem Raum.

Ehrlich Brothers-Verlorene Familie ffWhere stories live. Discover now