Kapitel 3

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"Das glaub ich jetzt nicht".
Lassy deutete nach vorn.
Vor uns erstreckte sich eine wunderschöne Landschaft.
Ich hätte Stunden gebraucht, um sie zu beschreiben. Wir standen auf einem Hügel und unter uns war unberührte Natur, soweit das Auge reichte. Ein schmaler gekiester Feldweg schlängelte sich erst durch eine hohe Wiese, in der man Grillen zirpen hörte. Danach verlief der Weg durch mehrere Felder, auf denen Mais, Hafer, Raps, Mohn und alles mögliche angepflanzt wurde. Zum Schluss führte der Weg in einen dichten Nadelwald. Dort verschwand er zwischen den Bäumen. Ich fragte mich, was hinter dem Wald war. Auch Felder und Wiesen? Oder ein kleines Dorf?
"Was meinst du?", fragte ich.
"Die Wolken da hinten sehen echt nicht gut aus. Ich glaub unseren ersten Tag verbringen wir lieber drinnen", meinte Lassy.
Ich sah in den Himmel. Über uns war er himmelblau und fast unbewölkt, doch dort, wo der Nadelwald aufhörte (mit anderen Worten: Dort wo wir hinmussten) türmten sich dunkelgraue Wolken zusammen, die aussahen, als würden sie jeden Moment zerplatzen.

"Ich würde mal spontan sagen, wir gehen auf schnellstem Wege los.", sagte ich wenig begeistert. Lassy nickte. Wir betraten den Feldweg und liefen den Hügel, der mit ausgetrocknetem Gras bewachsen war, hinunter. Er war nicht besonders steil und wir waren nach fünf Minuten unten am Fuß des Hügels angekommen. Wir genossen die noch warme Sonne, als wir durch die hohe Wiese schlenderten. Um uns herum flogen bunte Schmetterlinge, Käfer und Bienen. Merle war ganz aufgeregt, er raste durch die Wiese und schlug fast Purzelbäume. Als wir am Ende der Wiese angekommen waren, sahen wir die riesigen Felder. Vor allem das Mohnfeld, an dem wir gerade entlanggingen, gefiel mir besonders. Jeder Blumestängel war von einer großen wunderschönen roten Blüte gekrönt. Innen war diese pechschwarz. Ich hätte gerne eine der Blumen gepflückt, um sie in unserem Landhaus in eine Vase zu stellen, aber meine Mum hatte mir einmal erklärt, dass Mohnblumen, wenn man sie pflückt, sofort verwelken.
Das Mohnfeld ging zu Ende und ein Maisacker, ein Lavendelfeld und ein Rapsfeld folgten. Ich liebte die knallgelbe Farbe, die man schon aus weiter Entfernung leuchten sehen konnte und die unnatürlich kräftig wirkte. Als wir auch das Rapsfeld hinter uns gelassen hatten, tat sich vor uns ein Eingang in den Wald auf. Es sah wirklich wie ein Tor aus: Vor uns standen zwei große Bäume, deren Zweige in einem Bogen über unsere Köpfe hinwegwuchsen. Sie stellten den Eingang in den dahinterliegenden Wald dar. Zögernd gingen wir unter dem Tor hindurch und staunten. Der Wald bestand aus gewaltigen Nadelbäumen, deren Kronen unglaublich groß waren. Der Himmel über ihnen war kaum zu sehen, weil eine leichte Nebelschicht zwischen den Wipfeln schwebte. Die Bäume hatten lange Wurzeln, die sich am bemoosten Boden um die Büsche schlängelten und wie versteckte Stolperfallen wirkten. Ich fragte mich, wie wir mit unseren Koffern diesen Weg bewältigen sollten. Um uns herum wuchsen Farn und Brombeerbüsche. Die dicken Beeren der Sträucher waren dunkelrot, fast schwarz und glänzten in den wenigen Sonnenstrahlen, die durch den Nebel drangen, wie frischer Lack. Sie rochen köstlich und zogen einen wie magisch an. Nachdem wir den zauberhaften Anblick des Waldes verarbeitet hatten, konnte ich mich natürlich nicht zurückhalten und blieb neben einem Brombeerbusch stehen. Gierig griff ich nach einer großen, saftigen Beere und drehte sie in der Hand. Dann roch ich daran und senkte die Augenlieder. "Die riechen echt ziemlich betörend." Lassy verdrehte die Augen, als ich das Wort 'betörend' ausgesprochen hatte.
Nachdem ich mehrere Beeren verputzt hatte, machte sie mich darauf aufmerksam, dass die Brombeeren möglicherweise vom Fuchsbandwurm befallen sein könnten und dass diese Erkrankung tödlich sei. Ich sah ihr daraufhin mehrere Sekunden lang kalt in die Augen, wandte mich dann von ihr ab und zischte: "Weißt du was, du kannst mich mal." Lassy kannte mich zu gut und wusste genau, dass ich panische Angst vor jeglichen Krankheiten hatte und schon bei leichten Bauchschmerzen an eine Blinddarmentzündung dachte.
Ich pfiff einmal durch die Zähne. "Merle, komm!". Dieser streckte sich und sprang dann von einem Ast auf den Moosboden. Dann stapfte ich davon, Lassy schmunzelnd hinterher.
Wir setzten unseren Weg fort und liefen durch den märchenhaften Wald. Umso weiter wir ins Innere des Waldes gingen, umso dichter wurde der Nebel. Bald sah man den Weg vor sich nur noch verschwommen und langsam begannen wir zu frösteln. Die kleinen Tropfen des Nebels setzten sich auf unserer Haut ab und nach kurzer Zeit waren unsere Haare nicht nur feucht, sondern pitschnass. Doch der Wald nahm kein Ende. Langsam wurde ich ungeduldig. " Wie groß ist denn dieser doofe Wald? Mir ist saukalt und es ist finster wie in der Nacht! Wer ist eigentlich auf die blöde Idee gekommen, dass wir unsere übelst schweren Koffer eigenhändig durch einen Wald schleppen?", fluchte ich. "Hätten wir ein Privatjet nehmen sollen?", fragte Lassy belustigt. Ich schaute sie mürrisch an. "Du bist schon von Natur aus emotionslos, ist ja klar, dass dir die Kälte nix ausmacht!"

Ich hatte inzwischen die Arme verschränkt und rieb mit den Händen über sie, um sie zu wärmen, doch es half nicht. Frustriert beobachtete ich Merle, wie er neben uns umhersprang. Ihn störte die Kälte, die sein Fell kaum zu durchdringen schien, nicht. Als wir weitere zehn Minuten gelaufen waren, wurde es allmählich heller. Lassy und ich seufzten erleichtert. Der Nebel lichtete sich langsam und einige Sonnenstrahlen scheinten zwischen den Blättern der Bäume hindurch. Direkt in unsere Gesichter. Wir konnten das Ende des Waldes sehen. Die immer weniger werdenden Bäume und Büsche standen nun nicht mehr so eng beieinander und auf dem Boden neben dem Weg wuchs kein Moos mehr, sondern hohes Gras. Der Wald wurde zu einer Wiese und als wir alle Bäume hinter uns gelassen hatten, erkannten wir, dass das Unwetter nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Der mit grasbewachsene Hügel, auf dem wir standen, war kleiner als der vorherige und direkt vor uns lag eine winzige Siedlung. Eingebettet zwischen Wiesen, Hügeln und zwei Wäldern. Wir konnten die Höfe, es waren vier Stück, und ihre Gärten von unserem Hügel aus sehen. Weil der Weg durch den Wald sehr anstrengend gewesen war, machten wir eine kurze Pause auf dem Hügel, um zu verschnaufen.
Wenn man den Hügel hinunterlief, verlief dort ein schmaler Kiesweg. Nach ungefähr hundert Metern teilte sich der Weg in vier weitere Wege, die zu den jeweiligen dahinterliegenden Höfen führten. Eins der Häuser müsste unseres sein. Lassy tippte mir von hinten auf die Schulter. "Welches Haus gehört wohl deiner Oma?", fragte sie mich. Ich zuckte die Schultern und sah mir jeden der Höfe von unserem Rastplatz aus an. Der erste von links war der kleinste. Es war sehr alt und die Holzwände des Hauses sahen ziemlich einsturzgefährdet aus. Ich hoffte, dass das nicht der Hof war, auf dem wir vier Wochen verbringen sollten. "Der sieht aus wie aus der letzten Steinzeit", spottete Lassy. Ich grinste. Die anderen Höfe waren etwas prunkvoller, mit riesigen Schornsteinen und farbigen Wänden. Diese waren teilweise aus Holz, teilweise aus Beton und hatten wunderschöne Balkone, an denen prächtige, verschieden farbige Garanien wuchsen. Außerdem hatte jeder Hof einen Garten, ein riesiges Blumenbeet und mehrere Obstbäume, welche Birnen, Äpfel, Pflaumen oder Kirschen trugen.

Wir packten wieder unsere Koffer und liefen den Hügel hinab. Merle schnaufte schon, während er träge neben uns hertrottete. Weil Lassy ihn nicht wirklich beachtete, erbarmte ich mich und nahm den dicken Kater auf den Arm. Er schmiegte seinen Kopf an meinen Hals und schnurrte. Ich seufzte und kraulte Merle hinter den flauschigen Ohren. Lassy schmunzelte, als sie bemerkte, wie ich ihren Kater wie ein Baby in den Armen hielt. Wir gingen den Kiesweg weiter, ich glaubte, erste Regentropfen zu spüren. Als wir die Stelle erreichten, an der sich vier neue Wege teilten, blieben wir ratlos stehen. "Und jetzt", fragte Lassy zögernd, "wohin gehen wir?" Ich hatte nicht die geringste Ahnung, deshalb zuckte ich nur die Achseln. "Wir gehen einfach jeden der Reihe nach ab.", meinte Lassy, nachdem ich sie nur stumm angesehen hatte. Ich setzte Merle auf den Boden und nickte wenig begeistert. "Klar, machen wir". Wir nahmen uns also das erste Gebäude von links vor. Es war der kleine alte Hof, den Lassy und ich wenig beeindruckend fanden. Wir statteten ihm trotzdem einen kurzen Besuch ab. Doch als wir kurz darauf dort angelangt waren, stellte sich heraus, dass der Hof weder einen Bewohner, noch eine Bewohnerin hatte. Er war verlassen und an der zerfallenen Tür hängte ein Schild, auf denen tiefe Kratzer zu sehen waren:
Dieser Hof steht zum Verkauf frei. Bitte wenden Sie sich an Falco de Kalacuro.
Lassy zupfte an meinem Shirt. "Ein unheimlicher Ort, nicht?", flüsterte sie beeindruckt. Ich sah mich um. Sie hatte recht. Eine große Trauerweide stand direkt neben dem Eingang des Hauses. Ihre langen herunterhängenden Zweige und Blätter hingen in eines der zerbrochenen Fenster hinein. Auch ein paar kahle Büsche wuchsen um den Baum herum. "Stimmt". Ich flüsterte automatisch, wie man es immer macht, wenn man an einem unheimlich stillen Ort ist. Weil ich mich hier unwohl fühlte, zog ich Lassy wieder aus diesem grusligen Grundstück auf den normalen Weg zurück.
"Hier geh ich nie wieder hin, irgendetwas ist seltsam.", sagte ich. Doch Lassy hatte mir gar nicht zugehört. Sie hatte ihren Blick nach oben gerichtet und starrte in eins der trüben Fenster. Dann sah sie mich nachdenklich an und sagte: "Ich könnte schwören, dass da gerade ein Gesicht am Fenster war."

Die zehnte Lektion Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt