Kapitel 1

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Ich stolperte die Treppe hinunter und sah meine Mum, die grinsend in der Küche stand und Obst schälte. Sie hatte vor ein paar Tagen eine Diät angefangen, die sie nun wirklich nicht nötig hatte, und aß seitdem nur noch Obst und Vollkornbrot.                                                 
Die letzten drei Stufen sprang ich mit einem Satz hinunter. Das war sehr gewagt, schließlich hatte ich noch meinen Koffer in der Hand und der wog sicher über 10 Kilo. Mit einem lauten "Plock" landete ich auf dem Parkettboden. Strahlend sah ich meine Mum an, die mich kopfschüttelnd beobachtet hatte. Nun stand ich vor ihr, mit meinem Koffer und einer Semmel, die mit reichlich Nutella beschmiert war, in der Hand. "Lass dir doch Zeit, Sophie! Der Zug fährt erst um 10 Uhr. Das ist in zwanzig Minuten.",versicherte meine Mum mir. Entgeistert starrte ich sie an. "In zwanzig Miuten! Das ist ja schon bald! Oh mein Gott! Wenn Lassy verschlafen hat, dann schaffen wir das nie!", rief ich und fuchtelte hysterisch mit meinen Händen in der Luft herum.
Lassy, meine beste Freundin, die eigentlich Larissa hieß, wollte mich zum Landhaus meiner Oma begleiten. Wir hatten beide vor einem Monat die Schule beendet und wollten jetzt erst einmal das Leben genießen. Ich war gerade erst 16 geworden und hatte meinen Realschulabschluss in der Tasche, während Lassy schon seit einigen Wochen 17 war und die Schule geschmissen hatte. Sie war der Typ, der ohne groß darüber nachzudenken irgendwelche Entscheidungen trifft und sich auch nicht über die Konsequenzen schert. Jetzt hatte sie vor, eine Lehre als Schreinerin zu beginnen, was ich beim besten Willen nicht verstehen konnte. Vielleicht hatten wir in unserer Kindheit doch zu viel "Meister Eder und sein Pumuckl gehört"... Ich war das komplette Gegenteil. Ich war nach der Grundschule auf ein hochgepriesenes Gymnasium gekommen, hatte bis zur 8. Klasse fast nur einsen geschrieben und musste dann aber auf eine Realschule wechseln, welche ich mit links beendet hatte. Der Grund für den Schulwechsel war ganz einfach: Meine Eltern mussten umziehen und in unserer Nähe gab es kein Gymnasium. Das war für mich damals mein Todesurteil gewesen, da die Schule mein halbes Leben gewesen war. Aber durch die Schüler der Realschule hatte ich gelernt, dass es wichtigere Sachen als Schule gab und jetzt war ich unheimlich froh, das alles hinter mir zu haben.

Eigentlich hatten Lassy und ich vorgehabt, für zwei Wochen nach Thailand zu fliegen und dort den besten Urlaub unseres Lebens zu verbringen. Doch Lassy hatte dann beim Buchen der Flüge und des Hotels bemerkt, dass ihr die ganze Sache zu teuer war und sie ihr erspartes Geld lieber in eine eigene Wohnung investieren wollte. Als dann meine Oma, die ein wunderschönes Haus auf dem Land besitzt, die Treppe zu ihrem Keller hinuntergefallen war und jetzt für einen Monat in eine Klinik gesteckt werden sollte, kam meiner Mum die perfekte Idee. Lassy und ich würden das Haus meiner Oma in Stand halten, die Blumen gießen und den Briefkasten leeren und dafür dürften wir dort vier Wochen wohnen. Und so sollte aus unserem Luxusurlaub in Asien ein Auf-dem-Land-Urlaub in Grafenburg werden. Natürlich war ich zuerst wenig begeistert von der Idee, doch als meine Oma mir bei einem Telefonat erzählt hatte, dass es in der Innenstadt von Grafenburg sogar einen Brandy Melville gab (ich habe keine Ahnung, wie es diesen Laden nach Grafenburg verschlagen hat) und im Garten ihres Hauses ein Pool stand, war ich überzeugt.
"Du weißt noch, wie die Station heißt, bei der ihr aussteigen müsst?", fragte meine Mum mich. "An der Endstation Grafenburg", antwortete ich knapp und dachte mir dabei, für wie alt meine Mum mich eigentlich hielt. Sie hatte mir die Station nicht nur fünf mal gesagt, sondern auch auf den Notfallzettel geschrieben, den sie sorgfältig mit ihrer Nummer in der Arbeit, der Nummer von Papas Arbeit, der Nummer meiner Oma und noch anderen Sachen beschriftet hatte. Ich kam mir in solchen Momenten wie ein 10 jähriges Kind vor und nicht wie ein fast erwachsenes Mädchen. 
Genervt schlüpfte ich in meine neuen Chucks. Sie waren dunkelrot, hatten neongrüne Schnürsenkel und meine Mum fand die Farbkombination einfach nur schrecklich. "Ich gehe lieber jetzt schon, wer weiß, ob Lassy ihren Koffer überhaupt schon gepackt hat.", meinte ich dann noch. Meine Mum nickte lächelnd. "Ok, ich wünsche dir viel Spaß und ruf Papa und mich so oft du willst an. Passt auf euch auf und trinkt nicht so viel von diesem hochprozentigen Zeug, das du da in deinen Koffer gepackt hast.", befahl sie mir gespielt streng. Ich überspielte meinen Schock mit einem Grinsen und überlegte, wieso ich extra meinen 18-jährigen Nachbarn dazu gezwungen hatte, mir heimlich Wodka zu kaufen, das Zeug dann auf die aufwendigste Weise für eine Woche in meinem Kleiderschrank versteckt hielt und meine Mum das ganze nun doch irgendwie mitbekkommen hatte und jetzt nicht einmal annähernd sauer war . "Klar doch, ich hab dich lieb", versicherte ich ihr, als ich mich wieder gefasst hatte. Sie seufzte und umarmte mich. Als ich mich nach einer mindestens 20 Sekunden langer Umarmung aus ihren Armen befreien konnte, lief ich mit meinem Gepäck und meiner Semmel, die ich immer noch nicht angerührt hatte, zur Haustür. Ich stellte meinen Koffer kurz ab und nahm meine Jacke vom Kleiderhaken. Dann warf ich mir sie über die Schulter und packte meinen Koffer wieder. Schwungvoll öffnete ich die Tür und ging nach draußen. Die warme Mittagssonne schien mir ins Gesicht und mir lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Meine Mum winkte und ihre Augen glänzten ein wenig, was ich persönlich für ein wenig übertrieben einstufte. Sie führte sich auf, als ob sie mich nie wieder sehen würde... "Grüß Lassy und ihre Mutter von mir", rief meine Mum mir hinterher. Ich nickte und verschwand hinter den Nachbarshäusern. Zum Glück wohnte Lassy ganz in der Nähe von mir. Ich lief ein paar schmale Gassen entlang und genoss die Stille dieses Freitagmorgens. Es war kaum jemand zu sehen, die Leute waren entweder schon arbeiten oder sie schliefen noch.

Die zehnte Lektion Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt