Kapitel 2

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Ich saß im Zug nach Grafenburg und freute mich schon unbändig auf Joker, der wahrscheinlich irgendwo im Wald umherschwirrte. Ich hatte ihn seit zwei Tagen nicht mehr gesehen und er würde sich sicher wie ein kleines Kind über mein Kommen freuen.

Zug fahren war schrecklich für mich und ich tat es auch nur sehr selten. Jeder glotzte mich an und ich konnte das einfach nicht ertragen. Die meisten Menschen verstanden nicht, wie sehr es einen verletzen kann, wenn man angeschaut wurde, als wäre man ein Monster.

Ich dachte über die vergangenen Wochen nach und mir wurde klar, wie langweilig mein Leben zur Zeit war. Früh morgens aufstehen, jagen, essen, trainieren, stundenlang mit Joker den Wald durchforsten und gegen Mitternacht schlafen. Das war das wahrscheinlich einfältigste Leben der Welt und ich musste dringend etwas unternehmen, um nicht mit 20 Jahren vor Langweile zu verenden. Ich könnte in der Tat Nachfolger meines Vaters werden, jedoch hatte ich keine Lust darauf, jahrelang auf einem staubigen Thron in einem riesigen Schloss zu vergammeln. Und außerdem müsste ich meinen Vater umbringen, um dessen Stelle einzunehmen und das war wirklich nicht die feinste Art, um an den Thron zu kommen. Mein Vater hatte gesagt, dass ich ein Mädchen bräuchte, um glücklich zu werden. Ein Mädchen meiner Art, versteht sich. Ein Mädchen, das wie ich beschaffen war. Leider gab es von denen kaum welche, zumindest nicht hier. Als ich meinen Vater gefragt hatte, wie er an ein solches Mädchen gekommen war, hatte er geschwiegen. Ich wusste, dass es ihm nicht leicht fiel, über meine Mutter zu reden. Allerdings war sie schon seit 19 Jahren tot und ich fand, dass es an der Zeit war, mir die Wahrheit zu erzählen. Wenn ich ihm das sagte, dann wurde er oft wütend. Er meinte dann, dass ich mich um mich und meine Zukunft kümmern sollte und nicht um die Vergangenheit. Für ihn sei die Vergangenheit nur eine nutzlose Erinnerung, eine Art Traum, den man vor langer Zeit einmal geträumt hatte und der nun vorbei war. Leider war es aber genau die Vergangenheit, die mich interessierte. "Such dir ein Mädchen. Eines, das du genauso lieben kannst wie deinen Joker. Sogar noch mehr als ihn.", hatte er neulich gesagt. Seit diesen Worten dachte ich ständig darüber nach, wie es wäre, nicht mehr allein zu sein. Doch irgendwie gefiel mir der Gedanke daran nicht. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich einem Mädchen gegenüber verhalten sollte. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich irgendwen so lieben konnte wie meinen Joker. Und wenn doch, dann musste dieses Mädchen schon sehr besonders sein. "Solange das Mädchen das gleiche Wesen hat wie du, darfst du sie behalten. Doch wenn du dir ein normales aussuchen wirst - ich schwöre bei Gott - du wirst dafür bezahlen." Auch das hatte mein Vater gesagt und ich wusste nicht recht, warum ein normales Mädchen so schändlich sein sollte. Sie musste schließlich nichts von meiner Identität herausfinden. Ich war mir jedoch sowieso sicher, dass ich kein normales Mädchen finden würde, das mich nehmen wollte. Ich war zu anders. Alles an mir war anders und das hasste ich inzwischen.

An solche Dinge dachte ich, wenn ich stundenlang in einem stickigen Zug sitzen musste, jedoch entdeckte ich dann etwas, das mich ablenkte.

Ich sah ein junges Mädchen, das schräg gegenüber von mir saß. Ich war erst jetzt auf sie aufmerksam geworden, weil sie zuvor mit dem Gesicht zum Fenster dagesessen war und Musik gehört hatte. Nun unterhielt sie sich jedoch mit dem Mädchen neben mir. Sie schienen zusammen zu reisen. Die Blonde, die neben mir saß, hatte bis eben einen kleinen Kater auf dem Schoß gehabt, der aber, als er mich bemerkt hatte, zu mir gekommen war. Sie sah recht normal aus, so wie die meisten in dem Alter, die ich in der Stadt sah.
Doch dieses wunderschöne Mädchen quer gegenüber von mir war anders. Sie hatte dichte, dunkelbraune Haare und eine eindrucksvolle Art sich zu bewegen und zu sprechen, was mich geradezu anzog. Ihr Lachen war bildhübsch und erinnerte mich an die Prinzessinen aus alten Märchen. Sie wirkte so anmutig und natürlich zugleich. Noch nie in meinem Leben hatte ich das Gefühl gehabt, mich so stark zu jemanden hingezogen zu fühlen. Sie erinnerte mich ein wenig an Ronja, die Räubertochter, von der mir früher manchmal erzählt wurde. Die hatte auch solche unglaublichen Haare und so einen wilden, jedoch klugen Blick. Das Mädchen hatte leuchtend grüne Augen und ich wünschte mir, dass sie mir nur einen Blick zuwerfen würde und ich ihr in die Augen sehen könnte. Denn nur ein Augenblick verriet mir vieles über die entsprechende Person.

Ich konnte mich kaum zurückhalten, zu ihr zu gehen, sie anzusehen, sie zu fragen, wie ihr Name sei. Nein, das ganze ging zu weit. Ich musste mich zusammenreißen. Ich drängte mich selbst zu sehr, jemanden zu finden, der mich liebt. Ich konnte kein normales, dahergelaufenes Mädchen nehmen. Mein Vater wäre wild vor Wut.

Die zehnte Lektion Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt