Kontrastlos

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Ginger's Welt

Ich sah viel Weiß in letzter Zeit. Es hatte geschneit, die Straßen waren bedeckt, man konnte den verfluchten Weg nicht von der Straße unterscheiden. Der Himmel war weiß, keine graue Schattierung weit und breit, kein Kontrast, nur eine riesige Wolkendecke. Die Wände, an die ich seit drei Tagen starrte, waren auch weiß. Ich fühlte mich, als wäre ich wieder in der Klapse. Und die Tabletten, die ich säuberlich auf einen Haufen getürmt hatte, sahen genauso steril aus. Mein Zimmer war sauber und leer, ich hatte all den unnötigen Kram rausgeworfen, bis er von den eisigen Märzwolken mit der ganzen weißen Schneepampe bedeckt wurde.

Der Clown trug einen cremefarbenen Anzug, im Fernseher liefen die Tribute von Panem und mir war langweilig. Ich hatte frei, oder besser, ich hatte mir frei genommen, indem ich beschlossen hatte, einfach nicht mehr zur Arbeit zu gehen.

„Na Präsident Snow", raunte ich dem Clown zu. Seine Brust färbte sich Blutrot. ‚Du Provokateur', erwiderte er amüsiert.

Ich werde immer verrückter. ‚Warst du doch schon immer.'

Ich rollte vom Bett, um mir, wie in den letzten Wochen jedesmal aufs Neue, ein Glas Wasser zu holen, es neben die Tabletten zu stellen und diese dann anzustarren. ‚Du schaffst es nicht.' Auf einmal war mir der Clown ganz nah. Klar schaffe ich das, diesmal schon. Er lachte, aus seinen Mundwinkeln troff Blut. Mir war kalt und schlecht. ‚Na dann, nur zu. Nimm sie. Werde wieder – wie nennst du es? – Normal.' Ich war so allein, dass es wehtat. ‚Du wirst allein sein, wenn du die verdammten Pillen nimmst. Du bist so verblendet.' Das Weiß fraß mich auf in seiner Leere, in seiner gesamten Relationslosigkeit. Da waren nur mein leeres, identitätsfreies Zimmer, und der Clown. Ich zwang mich, ihn auszublenden, Distanz zwischen ihn und mich zu bringen, denn er war schuld, er hielt mich davon ab, meine Tabletten zu nehmen.

Medizin hatte es mein Therapeut genannt. Er meinte, es würde mir helfen, die Realität wieder mehr zu sehen, und die unrealen Dinge auszublenden. Die Positivsymptomatik würde zumindest in den akuten Phasen zurückgehen oder so. Mit anderen Worten, ich wäre ein bisschen weniger irre. Ich hatte ihm nie erzählt, was genau ich sehe. Das war viel zu privat, das ging ihn einen Scheiß an. Ich wollte nicht, dass er am Ende beginnt, mir irgendeinen tiefenpsychologischen Vortrag zu halten, denn gerade Clowns haben da sicherlich tausende von Bedeutungen, die mein krankes Unterbewusstsein näher beschreiben würden. Und ganz ehrlich, das wollte ich gar nicht wissen.

Der Clown lachte leise und meine Konzentration sackte auf den Tiefpunkt ab. ‚Ich weiß, warum du es nicht kannst. Du willst nicht. Weil du genau weißt, dass ich Recht habe. Du wirst allein sein, wenn du sie nimmst.' Lieber allein als mit dir. ‚Jetzt wirst du aber persönlich.' Ich atmete durch und griff nach dem Glas. ‚Aber der wirklich ausschlaggebende Punkt ist dein Stolz. Du bist viel zu egozentrisch, als dass du dir jemals eingestehen könntest, ein paar Tabletten könnten dir helfen. Denn dann wäre es ja eine Krankheit, aber das, mein lieber, ist es nicht. Alles, was du siehst, bist du. Ich bin du. Es sind deine Identitäten, und wenn du diese Tabletten nimmst, spaltest du dich von dir selbst ab. Du verleumdest dich selbst, und das schaffst du nicht, denn du liebst dich viel zu sehr.' Er flackerte und ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen, statt mich zu zwingen, die Pillen einfach zu schlucken. Er flackerte, wurde fast Transparent und beinahe hatte ich das Gefühl, seine Augen sehen zu können.

‚Dafür liebst du mich viel zu sehr.'

Ich warf das Glas um und schrie ihn an, mein Kopf fühlte sich an, als würde er explodieren, Vorschlaghammer krachten gegen die Schädelwände. Ich brüllte und fauchte, der Clown wich in die Ecken des Zimmers und ich jagte ihm nach, immer wieder und boxte in die Luft, einen Hauch daneben. Er lachte nicht mal. Sein Anzug hatte sich nachtblau gefärbt, jeglicher Spott war aus ihm gewichen. Ich atmete schwer und stützte mich an der Wand ab. Ich hasse dich mehr als alles andere. Du wirst niemals über mich Macht haben, denn das einzige, was wir gemeinsam haben, ist die Selbstbezogenheit. Und du bist so derart von dir eingenommen, dass dir entgangen ist, wie sehr ich mich verändert habe. Du bist schon lange nicht mehr so wie ich.

Es war still im Zimmer, Schneeregen pladderte an mein Fenster, irgendwo heulten Sirenen, und auf einmal hatte alles wieder einen Kontrast. Der Clown war verschwunden und ich triumphierte. Diesmal hatte ich gewonnen.

Ich wandte mich meiner Kommode zu, auf der immer noch die Tabletten lagen, um in den Spiegel zu sehen.

Als ich den Blick hob, sah ich allerdings nicht mich. Der Clown starrte mich an, und zum ersten Mal konnte ich in seine Augen sehen.

Es waren meine. ‚Ich werde immer Du sein', murmelte er.

Mein verdammtes Herz raste, als ich zur Haltestelle rannte. Es war dunkel, ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, ich wusste weder, welchen Tag wir hatten, noch, wie spät es war. Das letzte, woran ich mich erinnern konnte, waren meine Augen in dem Gesicht des Clowns. Es regnete, der Schnee war weggewaschen und zu braunen, matschigen Haufen zusammengeschrumpft. Ich bin auf dem Boden meines Zimmers aufgewacht, mit diesem fürchterlich rasendem Herzschlag. Es rannte, und meine Atmung kam nicht hinterher. Ich hatte mich aufgerappelt und war losgestürmt. Mit zitternden Fingern suchte ich auf der Anzeigetafel nach dem nächsten Abfahrtstermin, bis mir auffiel, dass ich nicht wusste, wie spät es war. Mitten in der Nacht auf jeden Fall. Ich versuchte, meine Atmung zu verlangsamen und fummelte mein Handy hervor. 03.27 Uhr. Dann rief ich Robin an.

Ihre Stimme klang zittrig, als sie ranging. „Robin, pass auf", keuchte ich, sprechen und atmen und das Herzrasen, das funktionierte irgendwie nicht, „Ich glaube ich habe irgendwie gerade ein Problem." „Irgendwie gerade, verdammte Scheiße? Irgendwie gerade!" Lichter leuchteten auf, der Bus kam. „Ich komme jetzt vorbei, Robin." Sie sagte irgendwas, ich glaube, nichts Nettes. Ich legte auf. Dann stieg ich ein.

Vier WeltenWhere stories live. Discover now