Rätsel

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4 Bone's Welt

Schweiß lief mir die Stirn herunter. Ich trainierte zu viel, sagten alle. Aber ich spürte die Wut nicht mal einen Zentimeter unter meiner Haut kochen, tagein, tagaus. Irgendwohin musste sie ja. Schlag, Schlag, Schlag. Ich boxte gegen ein improvisiertes Bündel an Zeug, welches von meiner Zellendecke baumelte.
„Junge, Junge, entspann' dich doch mal", raunzte Jimmie, ein hagerer, alter Kleinverbrecher und Betrüger. Ich hatte die Ehre, mir mit ihm eine Zelle zu teilen. „Jeden Tag schlägste dir die Seele aus'm Leib", brabbelte er weiter vor sich hin. „Wie'n junger Wilder. Als ich so alt war wie du, da hätt' mich das auch krank gemacht, das ewige Eingesperrtsein. Wie lange sitzte noch?"
„Zwei Monate", presste ich zwischen den Zähnen hervor. „Das geht ja noch, Jungchen. Das is' ja nichts! Kein Grund, so 'n Gesicht zu ziehen. Ich hab' noch zwei nette Jährchen vor mir. Das is' beschissen! Zwei Jahre kein Schnaps, keine Frauen, nur dieses schreckliche Essen und die Morgenkippe ... Da sind zwei Monate ja das Nirvana." Jimmie lutschte geräuschvoll an einem Hustenbonbon rum und ich war genervt, es regte mich auf, als würde mich jemand mit heißer, unbändiger Wut vollpumpen, bis ich wie ein aufgeblasener Heißluftballon explodieren würde. Doch das durfte nicht passieren. Ich wollte mir nichts mehr leisten, ich durfte mir nichts mehr leisten. Jimmie hatte recht, zwei Monate waren nichts. So kurz vor dem Ende würde ich mir den Weg nach draußen nicht verbauen.
„Bist ja nicht der Gesprächigste", stellte der alte Mann fest und schmatzte. „Na, soll mir recht sein. Ihr jungen Wilden. Die meisten reden ja immer zu viel. Schweigen ist Gold, mein Junge, das machst du gut." Ich keuchte und guckte als Antwort nur kurz zu ihm rüber.
Nach weiteren zehn Minuten hatte ich mich ausgetobt und lies mich auf mein Bett fallen. Die Briefe lagen unter meiner Matratze, unaussagekräftig wie zuvor.
Verfallene Gebäude. Was zum Teufel?
Unsere Tür wurde aufgeschlossen und ein Wärter trat ein. Ich richtete mich auf. „Sir?"
„Wieder ein Brief für Sie", sagte er und reichte mir einen weißen Umschlag, geöffnet. „Nichts Auffälliges darin. Wieder nur Bilder. Aber hinten steht was drauf...", er brach ab und runzelte die Stirn. „Wenn sie Schwierigkeiten haben, wenden sie sich an uns. Klären sie nichts auf eigene Faust. Sonst kommen sie hier womöglich doch nicht so schnell wieder raus." Ich schwieg. Unbehagen machte sich breit. Der Wärter schien auf eine Antwort zu warten. „Nun?", fragte er. „Ich weiß nicht, was sie meinen, Sir." Er schüttelte den Kopf. „Es erscheint mir, als würde ihnen jemand drohen." Ich hasste es, dass sie meine Post kontrollierten. Geht sie doch einen feuchten Wisch an. „Wer sollte mir drohen, Sir?", fragte ich stattdessen. „Das frage ich sie." Ich schüttelte wieder den Kopf, der Wärter seufzte tief und überreichte mir endlich den Brief. „Machen sie keine Dummheiten." „Nein, Sir", erwiderte ich, griff nach dem Papier und wartete, bis er wieder ging, nicht ohne mich vorher noch mit einem kritischen Blick zu begutachten.
Jimmie hatte sich aufgerappelt und spähte neugierig zu mir rüber. „Und, was steht drin?", krächzte er, ihm fielen fast die Augen raus. Der Arme hatte wahrscheinlich noch nie Post bekommen. „Nichts", sagte ich und schob den Brief ebenfalls unter meine Matratze. „Der hohe Herr interessiert sich also nicht für seine Briefe?", spottete der Alte und drehte sich beleidigt um. „Sei froh, dass überhaupt wer an dich denkt!" „Verschon mich mit deinem wehleidigen Gejammer", knurrte ich, und schon wieder saß mir die Wut wie ein Teufel im Nacken. „Ich habe nicht übel Lust, dir deinen kleinen Hals zu brechen, wenn du mir das antust." Ich funkelte ihn böse an und Jimmie verstummte. „Das wagst du nicht", murmelte er noch, doch das war das Letzte, was er für die nächsten Stunden von sich gab.
Ich verkroch mich in meinem Bett, starrte an die Wand und dachte nach.
Die Briefe waren seltsam aufstachelnd. Ich war irgendwo beunruhigt, aber eigentlich erleichterte mich dieses Rätselraten. Ich hatte etwas zu tun, ich musste etwas lösen. Meinen Körper konnte ich hier mühelos am Leben halten, doch der Geist geht irgendwann ein. Langweile wird unterschätzt. Sie frisst einen irgendwann mit Haut und Haar, ich hatte das Gefühl, das meine Gedanken verkümmerten oder so. Na ja, irgendwas hat sich ganz und gar nicht richtig angefühlt. Seitdem die Briefe auftauchten, fühlte ich mich leichter, befreiter, mehr als das ewige Hanteln heben bewirken könnte.
Ich griff unter die Matratze. Das Papier knisterte verheißungsvoll unter der Berührung meiner Finger. Ich sah über meine Schulter. Jimmie las. Irgendeinen dicken Wälzer, ‚Die Macht der Disziplin' oder so. Wollte sich bilden, der alte Betrüger. Ich war mir ziemlich sicher, dass so einer wie Jimmie nie aus seinen Fehlern lernen würde. Nein, er war besser. Er würde seine Fehler erweitern, sie detaillierter und feinfühliger einsetzen, sich durch seine Strafen durchschlängeln, ein wankelmütiges Leben, immer auf der Kante der Existenz führen, so etwas wie Routine oder Alltag gab es für Windhunde wie ihn nicht. Er erinnerte mich ein wenig an Ginger. Ein gerissener Dieb und Betrüger, egoistisch, listig und faul. Aber irgendwie liebenswürdig. Naja, Ginger zumindest. Jimmie ging mir herzlich am Arsch vorbei.
Ich drehte mich zur Wand und zog den Brief hervor. Das Bild zeigte wieder einen Zeitungsausschnitt, es war erneut eine Ruine zu sehen. Das Papier war zerknickt, es roch muffig und es musste etwas älter sein. Das Bild bestand aus schwarz-weißen Pixeln, es war kaum möglich, Details zu erkennen. Ich überlegte und holte die anderen Ausschnitte hervor, legte sie nebeneinander aufs Bett und fühlte mich, als würde ich Memory spielen. Sie waren allesamt schwarz-weiß, zeigten zerfallene Gebäudestücke und wirkten aspachuralt. „Es ist ein und derselbe Ort", murmelte ich. Die Perspektiven änderten sich von Brief zu Brief, und der letzte zeigte das Gesamtwerk. Es musste mal ein großes, stattliches Haus gewesen sein, eine Fabrik oder eine Bibliothek. Teile von geschwärzten Schornsteinen ragten in den grauen Himmel, die zersplitterten Fenster waren wandhoch.
Ich drehte das Papier um.
‚Ich dachte, ihr wisst es. Ich denke, man sollte es wissen. Wer verrät's, wenn nicht ihr?' Ich runzelte die Stirn. Was sollte das denn? Ich war fast belustigt. Die Handschrift war krakelig, fast unlesbar, wie von einem Kind oder einem sehr gehetzten Menschen. Wer war ‚Ihr'? Das war mir neu. Mein Kopf wummerte. Nicht nur ich wurde angesprochen. Aber wer dann? Und was zum Teufel sollten ‚wir' bitte wissen? Und was sollte verraten werden?
Ich musste, wollte rausfinden, was es mit den Bildern auf sich hatte. Denn es war offensichtlich, dass das, wovon ich nicht wusste, was es sein sollte, von dem Absender, von dem ich nicht wusste, wer es war, verraten würde. An wen, warum, und was so schlimm daran ist, tja, keine Ahnung.
In anderthalb Wochen würde ich die Anderen wiedersehen. Bis dahin blieb mir wohl nichts anderes übrig, als Sport zu treiben, um Jimmie nicht umzubringen. Und weiter zu grübeln.

Vier WeltenWhere stories live. Discover now