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„Du schlägst wie eine Pussy", versucht Timo mich zu motivieren. Mit Erfolg. Ich schlage ihm beim Boxen beinahe den Mundschutz aus seiner vorlauten Schnauze. Er stolpert nach hinten und fällt. Triumphierend stelle ich mich über ihn und nehme meinen Mundschutz raus. „Wer ist hier die Pussy", lache ich ihn aus und reiche ihm meine Hand, um ihm wieder hoch zu helfen.
Unser Trainer, ein Starker, steht nur da und beobachtet uns. Seine Mine ist ausdruckslos, aber ich kenne die Besetzer nun doch schon gut genug, dass ich mir denken kann, was in diesem Muskelberg vor sich geht. ‚Diese idiotischen/ kindischen oder wilden Menschen...' wäre das Geläufigste. Der Starke dreht sich um und geht. Das übliche Zeichen dafür, dass unser Training für heute beendet ist.
Timo nimmt seinen Mundschutz raus. „Muss ich dich immer erst beleidigen, damit du mal richtig zu schlägst?"
„Ist doch im Kampf ganz praktisch. Als ob mir mein Gegner in den Arsch kriechen würde."
Timo fällt vor mir auf die Knie und zerrt an meinem Shirt. „Vielleicht, wenn er um sein Leben fleht und dich anbettelt ihn noch eine letzte Chance zu geben", antwortet er theatralisch.
„Wenn er mir nichts tut, ist er nicht mein Feind. Und wenn er nicht mein Feind ist, kämpfe ich nicht gegen ihn. Und überhaupt ... welche Feinde haben wir hier schon? Das Training dient doch auch nur unserer Fitnessmaximierung."
„Ich weiß ja nicht. Wir wissen doch auch nicht genau, was wirklich hinter dieser Mauer ist. Vielleicht brauchen wir diese ganzen Kampftechniken ja doch irgendwann", flüstert Timo und sieht sich rasch um, ob ihn jemand gehört haben könnte, doch wir sind hier allein.
Zu hören, dass er genauso skeptisch ist wie ich, macht mir Hoffnung, dass ich nicht paranoid werde und langsam durchdrehe ... naja, jedenfalls nicht allein. Timo und ich haben schon immer alles geteilt, warum dann nicht auch unsere Geistesgestörtheit?
„Was glaubst du denn, was außerhalb dieser Mauern ist?", frage ich ihn.
„Was ist, wenn diese Wilden nicht nur irgendwelche dreckigen Menschen sind, die nur von ihren Urinstinkten und Trieben geleitet werden? Was ist, wenn sie stattdessen richtige Bestien sind und uns fressen wollen? Oder was glaubst du, warum die Mauer so hoch ist?"
„Ich bitte dich Timo. Wir stammen von ihnen ab. So viel anders als wir können diese Wilden doch auch nicht sein."
„Aber die Besetzer haben uns jahrelang erzogen und uns von klein auf zivilisiert behandelt. Wir haben doch gelernt, was das alles für einen Einfluss auf einen Menschen haben kann. Im Gegensatz zu den Wilden wurden wir konditioniert und gelehrt, wie es ist, ein zivilisiertes Geschöpf zu sein. Von wem sollen sie es denn gelernt haben?"
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Besetzer dazu in der Lage sind die primitivsten und animalischsten Triebe aus einer wilden Spezies zu vertreiben, wenn diese Spezies wirklich so krass zurückgeblieben ist, wie man uns immer erzählt. Das schaffen nicht mal die Besetzer."
„Was glaubst du lauert sonst hinter dieser Mauer?"
Ich zögere auf diese Frage. Ehrlichgesagt, habe ich auch keine genauen Vorstellungen, was dahinter liegt. Ich habe es mich schon öfters gefragt, aber niemand von uns weiß es. Wir wissen nur das, was uns die Besetzer sagen und in letzter Zeit fange ich immer mehr an, daran zu zweifeln, was sie uns erzählen.
„Timo? Glaubst du manchmal, die Besetzer lügen uns an?", frage ich ihn, während wir uns in die Umkleide schleppen.
„Ja, glaube ich. Ich glaube sie verheimlichen uns viel, um uns in Sicherheit zu wiegen. Wir sollen nicht wissen, wie es da draußen wirklich zugeht. Wir sollen keine Angst bekommen."
„Wieso sollten wir Angst haben? Außer die Mauer ist nicht sicher."
„Wer weiß. Vielleicht sind die Wilden ja gar nicht dumm. Vielleicht sind sie sogar sehr intelligent und planen bereits, wie sie diese Mauer stürmen und uns alle zerfleischen", versucht Timo mir mit bedrohlicher Stimme Angst zu machen. Ich schubse ihn weg und er lacht. Mir ist nicht nach Lachen zu mute. Ich glaube nicht, dass er damit Recht hat. Aber andererseits habe ich auch keinen Gegenbeweis.
In der Umkleide öffne ich meinen Spinnt und will mich grade umziehen, als mein Blick zum Fenster wandert. Hinter den ganzen Häusern verbirgt sich eine meterhohe Mauer. Sie ist nicht sehr weit von hier entfernt und an ein paar Stellen scheint man sie zwischen den Häuserwänden erahnen zu können. Sie ist hoch, aber auch nicht übermäßig hoch. Und sie ist schon gar nicht unbezwingbar. Wenn da draußen wirklich die Wilden lauern, um uns alle zu töten, warum haben sie dann noch nicht versucht hier rein zu kommen? Oder haben sie es vielleicht schon, aber sind gescheitert? Oder warten sie auf eine passende Gelegenheit? Oder was ist, wenn es sie gar nicht gibt? Wenn die Wilden nur ein Märchen sind, damit wir diese Stadt nicht verlassen?

Eulenaugen (Band 2)Where stories live. Discover now