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„Alles Gute zu deinem 20. Geburtstag, Nick", gratuliert Riva mir freundlich, während ich auf ihrem Behandlungsstuhl liege. Jede Woche derselbe Mist. Ich werde von oben bis unten abgecheckt, muss die selben langweiligen Fragen beantworten, die ich inzwischen schon im Schlaf rauf und runter beten kann und dann noch alle vier Untersuchungen eine Impfung. Und immer dasselbe langweilige Behandlungszimmer. Die weißen Wände, die blinkenden Bildschirme und in der Mitte der große weiße Stuhl, auf dem ich nun mal wieder sitze und mich von Riva untersuchen lasse.

„Danke, Riva", antworte ich freundlich, aber abwesend.

„Was bedrückt dich?", fragt sie mit ihrer monotonen freundlichen Stimme und ihrem aufgesetzten Lächeln. Alle Zarten tragen dieses Lächeln und haben diese Stimme. Dennoch fällt Riva aus der Masse raus. Ihr Haar ist dunkler als das der anderen. Es ist nicht schneeweiß, sondern grau. Dafür wird sie hin und wieder schief angeguckt, aber niemand sagt etwas dagegen. Wieso sollte er auch? Es ist zwar durchaus sehr ungewöhnlich, weil die Besetzer in ihrem jeweiligen Geschlecht irgendwie alle gleich aussehen. Aber sie ist praktisch mit uns Menschen aufgewachsen und wir sehen auch nicht alle gleich aus. Timo hat kurze blonde Haare und ich dunkelbraune Locken. Milli hat strahlend blaue Augen und ich braune. Fine ist klein und kurvig und ich groß und dünn. Deshalb hat Riva sich als wir jünger waren auch immer lieber an uns Menschen gehalten. Sie fühlte sich bei uns einfach wohler, weil jeder von uns ein Individuum ist. Nicht so wie die Besetzer.

Doch das klingt so als würde ich die Besetzer nicht mögen. Das stimmt nicht. Ich bin mit ihnen aufgewachsen. Sie haben mich trainiert, gelehrt, erzogen, ernährt und mich immer mit Respekt behandelt. Obwohl sie intelligenter sind und weiter entwickelt als wir Menschen, haben sie uns nie als irgendein Tier oder eine niedrigere Spezies betrachtet. Sie waren immer gut zu mir.

„Nick, was hast du?", fragt Riva erneut.

„Nein, es ist nichts Besonderes", antworte ich ihr, doch sie merkt, dass etwas nicht stimmt. Wir kennen uns einfach schon zu gut.

„Du weißt, dass ich merke, wenn du lügst. Sag mir, was los ist", drängt sie mich und horcht dabei meinen Brustkorb mit einem Stethoskop ab.

„Ich bin gelangweilt."

„Von der Untersuchung?"

„Von allem. Immer derselbe Trott. Jeden Tag das gleiche. Versteh mich nicht falsch, ich bin sehr dankbar dafür, dass ich es so gut habe. Wenn ich daran denke, dass außerhalb dieser Mauern Wilde leben. Menschen, die wie Tiere im Wald aufwachsen. Das ist doch krass. Ich gehöre derselben Spezies an, aber es sind einfach zwei völlig unterschiedliche Welten. Ich meine sie jagen, um zu überleben und leben bei jedem Wetter da draußen und ich habe es hier in der Stadt so gut. Das macht einen manchmal schon nachdenklich."

„Hast du schon mal einen Wilden gesehen? Bitte einmal husten."

Ich huste kurz. „Nein, bisher noch nicht. Du etwa?"

„Nein", antwortet sie knapp.

„Schade, ich hätte gerne gewusst, ob das auch wirklich alles stimmt, was man immer über die Wilden sagt. Dass sie sich gegenseitig bekämpfen und Intellektuell nicht so weit sind wie wir Menschen in den Städten. Wie kann das überhaupt sein, dass sich eine Spezies so unterschiedlich entwickelt?"

„Es gibt viele Faktoren die das beeinflussen. Huste bitte noch einmal."

Ich huste.

„Zum einen lernt ihr hier von uns viel", erzählt sie weiter, „Von Geburt an wird euch beigebracht eure Triebe im Griff zu haben und nicht unüberlegt zu handeln. Die Wilden lernen das nicht. Von wem auch? Sie leben doch schon immer dort draußen."

Ihr Tonfall ist anders. Ich kann nicht sagen, was anders ist, aber irgendetwas bringt mich dazu, an ihren Worten zu zweifeln. Ich glaube, es fehlt ihnen an Überzeugung. Sie sagt es, als hätte sie es auswendig gelernt und nicht so als wüsste sie es. Doch ich sage nichts weiter dazu. Sie merkt, wenn ich lüge. Sie soll also nicht wissen, dass ich an ihr und ihren Worten zweifle.

„Wenn du so dankbar bist, hier zu leben, warum langweilt es dich dann gleichzeitig so, Nick?", fragt sie, legt das Stethoskop hin und notiert etwas auf einem Klemmbrett.

„Ich weiß nicht. Ich kann es nicht beschreiben. In letzter Zeit wird dieses Bedürfnis etwas zu erleben einfach immer stärker. Vielleicht habe ich das von meinen Eltern vererbt bekommen. Dieser Wunsch ... dieser Drang nach Aufregung."

„Kontrolliere deine Triebe, Nick", mahnt Riva mich.

„Vererbte Anlagen kann man nicht unterdrücken, das weißt du. Wir Menschen ticken einfach ein bisschen anders als ihr. Und dass versteht ihr immer nicht."

„Wir verstehen das sehr gut. Wir haben euch jahrelang beobachtet und untersucht."

„Ja, aber ihr habt es nicht selbst erlebt. Ihr Besetzer seid doch alle gleich."

„Nein nicht alle, Nick", erinnert sie mich und deutet auf ihr Haar.

„Aber genau das meine ich. Nur weil dein Haar etwas dunkler ist als das der anderen, bist du schon sowas wie eine Außenseiterin. Wir Menschen sind alle ganz extreme Individuen. Ihr könnt uns gar nicht alle verstehen. Nur weil ihr ein paar Menschen untersucht und beobachtet habt, bedeutet das nicht, dass ihr wisst, wie jeder einzelne Mensch tickt."

Sie sieht mich stumm an mit diesem Besetzer-Blick.

Ich lache kurz auf. Kein echtes Lachen. Eher ein sarkastisches, herablassendes.

„Sag mir jetzt bitte nicht, ich hätte irgendwie deine Gefühle verletzt."

„Welche Gefühle?" Ihr Mundwinkel zuckt leicht. „Du kannst deine eigene Meinung haben, Nick. Aber lerne deine Triebe und Gefühle besser im Griff zu haben. So wurdest du nicht von uns erzogen."

Eulenaugen (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt