Prolog

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„Nicht hinsehen! Lauft doch! LAUFT!"

Während Moritz noch Herrn Arnold, der irgendwo vor ihm her lief, schreien hörte, rannte er durch den Regen um sein Leben. Die nackte Angst trieb ihn immer weiter in den düsteren Wald hinein. An manchen Stellen hingen die Äste der Bäume so tief, dass Moritz sich beim Laufen ducken musste. Unfassbare Gedanken durchfuhren ihn, so dass er kaum noch mitbekam, was um ihn herum geschah. Er hörte die angsterfüllten Schreie, die durch die allmählich einsetzende Dunkelheit in sein Ohr drangen, bald nur noch als Hintergrundrauschen. Wind und Wassertropfen peitschten ihm ins Gesicht und erschwerten ihm das Sehen. Keuchend schwang Moritz sich über einen knorrigen umgestürzten Baumstamm und hätte dabei fast das Gleichgewicht verloren, als er auf dem nassen Laub auf dem Boden dahinter ausglitt und beinahe stürzte.

Du darfst nicht hinfallen! Wenn du es tust, dann kriegt er dich.

Adrenalin schoss durch seine Venen in jeden Winkel seines Körpers und ließ Moritz vergessen, wie unsportlich er eigentlich war. Er war der dickste Junge in seiner Klasse und besonders das schnelle Laufen fiel ihm schwer. Seine Lunge und sein Herz arbeiteten jenseits ihrer Belastungsgrenze. Er befürchtete, gleich bewusstlos zu werden.

Vielleicht ist es ja sogar besser, wenn er mich erwischt. Dann hat dieser Alptraum endlich ein Ende!

Moritz rannte jedoch weiter, immer weiter, so schnell er konnte und sah sich nicht um. Der Atem des Todes verfolgte ihn. Moritz konnte ihn hören. Und vor allem riechen. Die Knie taten Moritz weh, in seinem Oberschenkel bahnte sich ein Krampf an und doch musste er weiterlaufen. Wie weit er bereits gelaufen war, konnte er schon nicht mehr sagen.

Noch konnte Moritz mit den anderen mithalten. Er hatte Alicia und Max sogar bereits überholt. Hülya, die genau vor ihm lief, stürzte plötzlich über eine Wurzel. Sie schrie. Ihr Bruder, Ramzi, machte eine Vollbremsung und fuhr herum, um ihr zu helfen. Moritz hatte die beiden bald eingeholt und half mit, Hülya wieder auf die Beine zu kriegen.

Das Mädchen kreischte, als es sich umsah, und brachte Moritz' Ohren zum Klingeln. Aber Moritz sah nicht nach hinten. Er befürchtete, der Anblick könnte ihn lähmen. Zu dritt rannten sie weiter. Der Wald wurde dichter und dichter, doch Moritz versuchte angestrengt, mit den beiden Geschwistern Schritt zu halten. Palmfarne streckten ihre Wedel wie nasse, schwarze Gardinen vor sein Gesicht und wenn er sie beiseiteschob, tauchten immer wieder Bäume, Sträucher und umgestürzte Baumstämme als Hindernisse vor ihm auf. Immer wieder musste Moritz sich entscheiden, ihnen auszuweichen oder es zu versuchen, sie zu überwinden, was ihm nicht selten als die schlechtere Wahl erschien, weil er ja so dick war.

Kann das Vieh uns hier im Dickicht überhaupt noch folgen?

Es konnte. Krachend brach es durch das Unterholz, viel zu dicht hinter ihnen. Moritz roch den Gestank von Verwesung und Blut, den das Ungeheuer verströmte. Der Boden war glitschig und beinahe wäre Moritz ein weiteres Mal gestürzt, als er zusammen mit Ramzi und Hülya einem großen Baum auswich. Die anderen aus seiner Klasse sah Moritz nun nicht mehr. Der Nebel hatte sie verschlungen.

Oder vielleicht auch eines dieser Monster...

Moritz wusste nicht, wohin er lief. Er sah niemanden mehr, nur Schatten und Nebel. Irgendwo vor ihm zeichneten sich die Silhouetten der beiden Geschwister in der Dunkelheit ab. Mit Schrecken erkannte Moritz, dass sich Ramzi und Hülya wegen seiner Strauchelei wieder ein ganzes Stück weit von ihm abgesetzt hatten. Moritz musste an ihnen dran bleiben.

Oder ich muss sterben.

Das Herz schien ihm in den Kehlkopf zu kriechen und ihn mit seinen Schlägen zu zertrümmern. Es schlug so laut, dass das Rauschen in seinen Ohren inzwischen sogar die Schritte der Bestie übertönte. Bald würde Moritz zusammenbrechen, das wusste er.

Ab sofort mache ich Diät und gehe jeden Tag joggen! Nie wieder Schokolade, ich schwöre es bei Gott!

Eigentlich glaubte Moritz gar nicht an Gott, doch redete er sich ein, dass in so einer Lage wohl jeder Mensch entweder zu beten beginnt, oder sich in die Hose scheißt. Bei vielen Leuten geschieht das bestimmt sogar gleichzeitig, überlegte Moritz und er fragte sich, ob sich eine vollgeschisssene Hose für die besonders strenggläubigen Menschen negativ auf das Erhören eines Gebets auswirken könnte. Dass Moritz in so einer Situation überhaupt etwas so Absurdes denken konnte, erschien ihm noch absurder als der eigentliche Gedanke ihn. Doch lenkte er ihn wenigstens von den Schmerzen ab, die er gerade verspürte und die ihn sonst gewiss langsamer gemacht hätten.

Die Bestie, die ihn jagte, brüllte erneut, so dass Moritz einen panischen Satz nach vorne machte, bei dem er schon wieder beinahe gestürzt wäre. Das Geräusch machte ihn trotzdem schneller, die Angst schien ihm Flügel zu verleihen. Und das, obwohl er beim Rennen bereits Blut in seinem Gaumen schmeckte. Er überholte Hülya, die sich an der Hand ihres Bruders festklammerte. Er überholte auch Ramzi und ließ die beiden in seinem Rücken. Jetzt konnte er auch wieder andere Mitschüler durch den Dunstschleier des Regens sehen, doch er erkannte nur Alina und Melina. Moritz rannte ihnen hinterher. Das Knacken und Krachen im Wald entfernte sich und auch den Todeshauch roch Moritz bald nicht mehr. Nur noch der Geruch eines Waldes im Regen drückte sich in seine Lungen, die kurz vorm kollabieren waren. Und doch keimte nun eine kleine Hoffnung in ihm.

Schließlich holte Moritz Melina ein. Sie strauchelte, rappelte sich selbst aber wieder hoch und lief weiter, als Moritz gerade zu ihr aufgeschlossen hatte.

Moritz wagte einen kurzen Blick nach hinten und sah sich nach Hülya und Ramzi um. Das Monster sah er dabei nicht mehr, aber die Geschwister waren ganz in der Nähe hinter ihm und Max hatte er bei diesem kurzen Blick zurück auch gesehen.

Ob Alicia es auch geschafft hat?

Der Wald war nun so dicht, dass man nicht mehr rennen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich zu verletzten. Moritz musste bei jedem seiner Schritte immer wieder Zweige beiseiteschieben, Sträuchern ausweichen und über Äste und Baumstümpfe springen. Ein tief hängender Ast eines dornigen Strauches traf dabei sein Gesicht und riss seine Lippe auf. Moritz schmeckte noch mehr Blut und hörte Max hinter sich wimmern. Der Arme pfiff auf dem letzten Loch, und als Moritz ihn hörte, wunderte er sich, dass er selbst überhaupt noch stehen konnte.

„Wartet! Bitte wartet auf mich...", keuchte Max. „Ich... Ich... kann nicht mehr."

„Weiter, Max! Bloß immer weiterlaufen!", rief Herr Arnold in barschem Befehlston, doch sehen konnte Moritz ihn nicht. Aber er musste hier auch irgendwo sein. Da lief er, rechts neben ihnen. Auch wenn Arnold nicht gerade sein Lieblingslehrer war, war Moritz aus irgendeinem Grund auf einmal sehr glücklich, ihn in der Nähe zu wissen.

Wie konnte unsere Klassenfahrt nur so schief gehen?

Als er am vergangenen Abend die Augen zugemacht hatte, hatte er noch so sehr gehofft, dass er aufwachen und alles nur ein Traum gewesen sein würde. Doch er war wieder hier in dieser Wildnis aufgewacht, die nur er, er allein als einziger seiner ganzen Klasse richtig zu deuten gewusst hatte.

Und niemand hat mir geglaubt. Niemand. Nicht einmal Frau Lehmann. Warum nur hat sie nicht auf mich gehört? Bestimmt ist sie jetzt schon tot. Und ich bin es bestimmt auch bald.

Neue Alte Welt - Die Weißen Steine, Band IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt