Kapitel 24 - Meine Familie

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Wie mit den Lebenszeiten, so ist es auch mit den Tagen. Keiner ist uns genug, keiner ist ganz schön, und jeder hat, wo nicht seine Plage, doch seine Unvollkommenheit, aber rechne sie zusammen, so kommt eine Summe Freude und Leben heraus.
Friedrich Hölderlin


Noch 688 Kilometer

Jeli

Ich liege da mit einem Lächeln auf dem Gesicht. In meinen Händen das Tagebuch. Ein Tagebuch, das mich begleitet hat, das Jason begleitet hat, das diese Reise mit uns gemacht hat.

Ich fühle mich immer noch schwach, aber ich erhole mich langsam. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich das Gefühl, gesund zu werden. Ich weiss nicht wieso, denn eigentlich haben die Ärzte gesagt, man könne mich nicht mehr heilen, der Krebs sei zu weit fortgeschritten. Aber irgendwas in mir ist anders als vorher. Irgendwas in mir schreit nach Leben.

Ich schlage das Tagebuch auf und sehe sofort, dass ihm wieder ein paar Einträge hinzugefügt wurden. Jasons Schrift fällt mir ins Auge.

Liebe Jeli
Wir haben beschlossen, dir alle einen Eintrag in deinem Tagebuch zu hinterlassen. Jeder hat dir ein paar Zeilen geschrieben, gezeichnet, oder sonst etwas gemacht. Lass dich überraschen.
Ich liebe dich, Zwergchen, und ich hoffe, du kannst dein Versprechen halten!

Ein Blick zur Uhr sagt mir, dass er in ein paar Stunden zurück sein sollte. Ich kann es noch nicht ganz glauben, dass er das wirklich für mich tut. Von Kiruna sind es bei guten Strassenverhältnissen immer noch zehn Stunden Fahrt bis ans Nordkap, und zurzeit liegt Schnee auf den Strassen. Hoffentlich passiert ihm nichts.

Ich blättere eine Seite weiter. Lora steht dort als Überschrift.

Eine imperfekte Formel:
Rechne eins und eins zusammen und ein neues Leben beginnt zu entstehen.
Quadriere die Summe der entstandenen Zellen so oft, bis das kleine Menschlein Hände, Füsse, einen Kopf, ein Herz hat. So oft, bis es komplett ist.
Dafür gib ihm neun Monate.
Wenn es nach neun Monaten nicht Anstalten macht, zur Welt zu kommen, helfe nach.
Ein neues Leben wandelt von nun an auf unserem Planeten.
Leider ist dieser Bauplan nicht immer perfekt. Es gibt Fehler. Wir alle sind voller Fehler.
Aber manchmal führen diese Fehler zu Krankheiten.
Sollte das passieren, gib der betroffenen Person gute Freunde, eine Familie, die zusammenhält.
Gib ihr Grund trotz allem zu lachen.
Schenke ihr Momente, Momente des Glücks.
Und zünde ihr ein Licht an in den dunkelsten Stunden.
Vergiss sie nicht, denn jeder Mensch ist imperfekt. Jeder hat Fehler.
Das Leben ist eine imperfekte Formel.

Auch wenn ich nicht gewusst hätte, dass diese Worte von Lora stammen, hätte ich es erraten. Die Mathematik begleitet sie überallhin. Früher hat sie immer versucht, alles mathematisch zu erklären. Sie wollte, dass das Leben logisch ist, dass alles genau berechnet werden kann. Nun scheint sie eingesehen zu haben, dass das Leben nicht so spielt. Sollte alles immer aufgehen, hätte es mich gar nie geben dürfen. Wäre alles perfekt, dürften Krankheiten wie Krebs nicht existieren. Aber wie sie richtig erkannt hat, ist das Leben nicht perfekt. Alles hat seine Macken.

Die nächste Seite sieht vollkommen anders aus. So unterschiedlich wir als Personen sind, so unterschiedlich sind auch die Seiten.

Rocco

Ja, nach Lora komme ich mir etwas schlecht vor. Mir fällt nämlich absolut nichts ein, was ich dir schreiben könnte. Ich bin kein Schreiber. Ich bin Mechaniker. Ich flicke Autos, repariere sie, so dass sie wieder fahren können. Ich lackiere sie neu, wenn ihre Farbe abblättert, so dass sie wieder glänzen im Sonnenschein. Ich wechsle kaputte Teile aus, so dass sie wieder perfekt sind.
Manchmal habe ich mir echt gewünscht, du wärst ein Auto, dann hätte ich dich nämlich reparieren können. Ich kam mir immer so verloren vor, weil ich vollkommen machtlos war. Was du wohl für ein Auto wärst? Wahrscheinlich ein gutes. Nicht schnell, aber ausdauernd. Du wärst ein Auto, das einen nie im Stich lassen würde. Ich weiss das, weil du als Mensch auch so bist. Du bist ein wunderbarer Mensch, Jeli!
Weil ich nicht glaube, dass du hier stirbst, vermache ich dir den VW Bus. Dafür musst du die Autoprüfung machen, Kleine. Aber keine Angst, ich werde dir helfen. Das machen wir im Sommer. Hörst du? Du packst das! Du bist stärker als Krebsi, das Krebsmonster in deinem Körper! Du wirst das schaffen!

So langsam treten mir wirklich die Tränen in die Augen bei so vielen lieben Worten. Ich hätte mir wirklich keine bessere Familie wünschen können. Sie sind einfach fantastisch. Sie alle.

Auf der folgenden Seite kann ich die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Mein kleiner Bruder ist einfach nur viel zu süss! Weinend aber mit einem Lächeln auf den Lippen betrachte ich seine Zeichnung. Sie zeigt uns alle vor dem VW Bus. Über dem Bild hat er einen einzigen Satz geschrieben: Für meine supercoole Schwester.

Schluchzend wische ich mir die Tränen von den Wangen, was nicht viel bringt, denn schon beim nächsten Eintrag fliessen sie wieder. Der nächste Eintrag ist von Mum. Sie hat mir ein Gedicht geschrieben. Das hat sie früher oft gemacht, dann nicht mehr. Meine Krankheit hat alles verändert und plötzlich war keine Zeit mehr da, um Gedichte zu schreiben. Ich habe mich immer schuldig gefühlt, dass sie ihr Leben für mich opfern musste. Aber sie hat immer gesagt, dass sie für mich alles tun würde. Leo und ich seien das wichtigste für sie. Alles, was sie möchte, sei, dass wir beide glücklich seien. Und ihr Gedicht bestätigt das.

Ich fange dich auf, wenn du drohst zu fallen.
Ich leite dich, wenn du den Weg verloren hast.
Ich unterstütze dich, wenn du meine Hilfe brauchst.
Ich tröste dich, wenn du Angst bekommst.
Ich heitere dich auf, wenn du traurig bist.
Ich stehe an deiner Seite, wenn du dich alleine fühlst.
Ich gebe dir Rat, wenn du unsicher bist.
Ich werde immer für dich da sein, denn du bist meine Tochter.
Ich möchte nur, dass du glücklich bist.

Ich schliesse für einige Sekunden meine Augen, lasse ihre Worte auf mich wirken. Dann blättere ich weiter und eine Mischung aus Schluchzer und Lacher entfährt mir. Mein Vater hat sich wieder einmal selbst übertroffen. Komplette achtzehn Seiten hat er mit Fotos gefüllt. Aus jedem meiner Lebensjahre hat er ein paar Fotos rausgesucht und eingeklebt. Zu jedem Foto hat er zudem einen kleinen Satz hingeschrieben. Ich schaue mir jedes einzelne genau an, lache und weine zur selben Zeit. Das letzte Foto zeigt uns alle in Kopenhagen. Wir sehen glücklich aus. Wir waren auch glücklich. Die Reise war eine Summe von Glücksmomenten.

Auf der nächsten Seite befindet sich Zacs Eintrag.

Liebe Jeli
Du bist die beste Freundin, die ich jemals hatte. Dir kann ich Dinge erzählen, die ich niemand anderem erzählen kann. Durch dich habe ich gelernt, das Leben auf eine andere Art zu sehen. Früher war ich einfach nur ein fussballbegeisterter Typ, der oberflächlich und arrogant war. Du hast mir klar gemacht, dass die Menschen so viel mehr sind, als sie von aussen scheinen. Du und deine Familie, ihr habt mich verändert und zwar positiv. Ich hoffe, dass das hier nicht das Ende ist. Ich will nicht, dass es das Ende ist. Wir alle wollen dich nicht verlieren, Jeli.
(Siehst du, du hast aus mir eine sentimentale Memme gemacht!)

Ich muss lachen wegen seinem letzten Satz. Das hat schon etwas.  Wenn sich jemand verändert hat während den letzten Wochen, dann ist das Zac. Er ist mir mehr ans Herz gewachsen, als ich je gedacht hätte. Er ist zu einem richtig guten Freund geworden.

Ich blättere die Seite um und finde die nächste leer vor. Jason hat nichts geschrieben. Ob ich will oder nicht, es gibt mir einen Stich. Ist es nicht seine Idee gewesen?

Aber dann merke ich, dass sein Eintrag nochkommen wird. In seinem Eintrag wird er mir schildern, wie es am Nordkap war. Erwird mir erzählen, was hinter dem Ende Europas kommt. Er wird mir alleserzählen.



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Sorry, dass das Kapitel erst heute kommt, aber Wattpad hatte gestern wohl etwas gegen mich.

Das ist schon das zweitletzte Kapitel. Ziemlich unglaublich finde ich. Ich hoffe es hat euch gefallen und ihr lasst vielleicht ein Sternchen oder einen Kommentar da. Würde mich freuen!

NordlichtWhere stories live. Discover now