Kapitel 19 - Nadelstiche

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Alles ist vorherbestimmt, Anfang wie Ende, durch Kräfte, über die wir keine Gewalt haben. Es ist vorherbestimmt für Insekt nicht anders wie für Stern. Die menschlichen Wesen, Pflanzen oder der Staub, wir alle tanzen nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in den Fernen des Weltalls anstimmt.
Albert Einstein


Noch 1'280 Kilometer

„Wir sind da", dringt eine Stimme in mein Bewusstsein vor. Jemand berührt mich sachte an der Schulter. Ich zwinge mich, die Augen aufzumachen. Über mir schwebt Mums Gesicht. Sie streichelt mir über die Wange und drückt mir einen leichten Kuss auf die Stirn. Genau so wie es Jason immer gemacht hat. Und wieder schmettert mich die Erkenntnis zu Boden. Er ist nicht mehr hier. Jason ist nicht mehr bei mir.

„Komm, Schatz", ertönt Dads Stimme. Er hebt mich von der Matratze hoch und trägt mich zu einem rotgestrichenen Haus mit weissen Fenstern und einer weissen Eingangstür. Das ist alles, was ich registriere, während ich in Dads Armen liege. Jemand öffnet die weisse Tür und mein Vater trägt mich ins Innere des kleinen, schwedischen Hauses. Die alte Frau, deren Name ich noch immer nicht kenne, weist ihn an, wo er mich hinlegen soll. Ich werde auf eine weiche Strickdecke gebettet. Jemand legt mir seine Hand an die Stirn, lässt sich nach einigen Sekunden wieder sinken und deckt mich sanft zu. Ich höre knarzende Schritte auf dem alten Parkett des Hauses, das Zischen eines Wasserkochers, leise Stimmen in einem anderen Zimmer. Aber alles ist gedämpft, so als würde eine dicke Schneedecke über der Szene liegen. Ich verstehe nicht, was meine Familie beredet, kann nicht einmal die einzelnen Stimmen voneinander unterscheiden. Alles vermischt sich zu einem unkenntlichen Brei aus Geräuschen. Und wieder gleite ich weg in den Dämmerschlaf. Wieder verlässt mich der Lebenswille, zieht mich der Schmerz nach unten. Erst jetzt wird mir bewusst, wie viel ich in den letzten Tagen verdrängt habe. Ich habe mich nur auf Jason und meine Familie konzentriert, habe den Schmerz, der in meinem Körper brennt, fast vollständig ausgeblendet. Aber jetzt übermahnt er mich. Welle um Welle schlägt er über mir zusammen. Ich bin vollkommen ausgelaugt. Jetzt, wo ich mich endlich zur Ruhe gelegt habe, kommt alles hoch. Mein Wille war so stark, dass ich einfach durchgebissen habe, aber das geht nun nicht mehr. Meine Glieder schmerzen, mein Kopf pocht, mein Atem geht flach. Fühlt es sich so an, wenn man stirbt? Ich weiss es nicht. Aber ich weiss, dass ich meine Reise beendet habe. Für mich ist hier fertig. Für mich geht es hier nicht mehr weiter. Ich werde nie die Nordlichter sehen. Ich werde nie am nördlichsten Punkt stehen. Ich werde nie sehen, was hinter dem Ende Europas kommt. Niemals.

In dem Moment geht die Tür auf und die alte Frau betritt den kleinen Raum, in dem ich liege, schwach, kraftlos und mutlos. Sie kommt zu dem massigen Holzbett und setzt sich auf den Rand. Wortlos greift sie nach meiner Hand und umfasst sie mit ihren schmalen Fingern. Sie hat wie ich die Augen geschlossen und scheint auf irgendetwas zu warten. Ich weiss nicht worauf. Ich warte auch. Aber ich weiss nicht wieso. Ich tue es einfach. Mein Herzschlag verlangsamt sich, meine Gedanken kommen zur Ruhe. Ich warte. Sie wartet. Wir warten. Auf den Tod? Auf das Licht? Ich habe keine Ahnung.

„Vertraust du mir?", fragt mich die Alte nach minutenlangem Schweigen leise. Ich nicke. Ich weiss nicht einmal recht, wieso ich ihr vertraue. Auch das tue ich einfach. Instinktiv. Etwas tief in mir bestimmt über meinen Körper, zieht die Fäden. Mein Kopf führt nur noch aus. Er hat nichts mehr zu sagen. Es gibt Dinge, die kann man mit dem Verstand nicht fassen. Es gibt Dinge, die soll man einfach tun, weil sie richtig sind. Man soll nicht hinterfragen wieso. Man soll nur auf sein Innerstes hören, es wird wissen, welcher Weg zu gehen ist.

„Du hast Lungenkrebs seit du fünfzehn bist. Stimmt das?" Wieder nicke ich. Sie schweigt kurz, dann nickt auch sie. „Ich kann dir nicht versprechen, dass ich dich vollständig heilen kann, aber ich kann dir versprechen, dass ich es versuchen werde."

NordlichtOnde as histórias ganham vida. Descobre agora