Kapitel 8 - Sein Mitbewohner

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Liebe ist der Entschluss, das Ganze eines Menschen zu bejahen, die Einzelheiten mögen sein, wie sie wollen.
Otto Flake


Donnerstag, 8. Oktober

Ich wache schreiend auf. Mein sowieso schon schwerer Atem, geht noch schwerer. Ich habe richtige Panik. Ich kann mich einfach nicht beruhigen. Tränen treten in meine Augen und plötzlich wird die Tür aufgerissen und jemand stürmt in das Zimmer. Ich zittere am ganzen Körper und da legt er sich einfach neben mich und zieht mich an seine Brust. Jason. Ich schliesse die Augen und lasse mich von ihm festhalten.

Kennt ihr das, wenn ihr im Traum zu fallen beginnt und kurz bevor ihr am Boden aufschlägt, wacht ihr auf?

Ich kenne dieses Gefühl nicht. Ich habe keine Angst vor dem Fallen, denn Fallen bedeutet Schwerkraft und Schwerkraft bedeutet, dass ich noch irgendwo in meinem Körper bin, dass ich noch am Leben bin. Nein, ich habe keine Angst zu fallen. Ich habe Angst vor dem Abheben. Wenn meine Füsse den Kontakt zum Boden verlieren, wenn ich nicht mehr zurück kann, egal wie sehr ich mich anstrenge. Wenn das passiert, sterbe ich. Bisher bin ich noch jedes Mal wieder aufgewacht. Aber ich weiss, dass ich irgendwann nicht mehr aus dem Schlaf hochschrecken werde. Irgendwann wird es kein Albtraum mehr sein. Irgendwann werde ich wirklich diese Erde verlassen. Und das macht mir mehr Angst, als ich vor den anderen je zugeben würde.

„Es war nur ein Traum", flüstert er mir ins Ohr und hält mich noch stärker fest. Ich versuche mich auf seinen regelmässigen Herzschlag zu konzentrieren, meinen Herzschlag an seinen anzupassen. Ich versuche die Panik zu verdrängen, versuche den Moment zu geniessen, schliesslich liege ich in den Armen des Jungen, den ich am liebsten für immer an meiner Seite hätte. Ich spüre Jasons starke Arme, die um meinen zierlichen Körper geschlungen sind, ich spüre seine Atemzüge in meinem Nacken, ich spüre die Wärme, die er ausstrahlt.

„Du bist hier. Du bist hier bei mir. Dir kann nichts passieren. Ich bin bei dir", haucht er leise. Ich lege meine kleinen Hände auf seine Arme, so dass er mich auch ganz sicher nicht mehr loslassen kann. Ich brauche ihn jetzt. „Keine Angst, ich bleibe bei dir", flüstert er und ich kann seine Lippen in meinem Nacken spüren, während er das sagt. Erleichterung durchströmt meinen Körper und beruhigt meinen Puls wieder ein wenig. Ich fühle mich geborgen. In seinen Armen fühle ich mich geborgen. Ich kenne diesen Jungen kaum und doch brauche ich ihn so sehr. Er darf mich einfach nicht verletzen. Wenn er mich verletzt, ist es aus, dann erlischt das Licht in mir, dann würde ich wohl aufgeben. Ich hätte es vermutlich ohne ihn schon heute getan. Aber ich darf nicht aufhören zu kämpfen. Wenn ich aufhöre, werde ich in wenigen Tagen tot sein.  Ich muss weitermachen. Ich muss kämpfen bis zum bitteren Ende. Und er ist ein weiterer Grund, um meinen Tod so weit als möglich raus zu zögern.

„Danke", krächze ich heiser. Seine Arme ziehen mich enger an sich. „Du brauchst dich nicht zu bedanken. Ich bin schliesslich Arzt in spe und tue nur meinen Job", flüstert er mir zu. Ich muss trotz allem ein wenig lächeln. „Die Kotze hätte ich mir schon selbst abwischen können", antworte ich und fahre mit meinem Finger über die nackte Haut seiner Arme. „Ich habe eigentlich gemeint, danke, dass du mich festhältst. Und das ist nicht der Job eines Arztes, das ist der Job eines Freundes."

„Der Job eines Freundes mit dem du alles bereden kannst, den du schon seit Ewigkeiten kennst, mit dem du aber nie eine Beziehung starten würdest, oder meinst du die andere Sorte Freund?", fragt er mich leise. Sein warmer Atem lässt meine Haut brennen. Ich schliesse die Augen und atme seinen Duft ein. „Die andere Sorte", beantworte ich seine Frage so gedämpft, dass die Worte kaum hörbar sind. Er hat sie dennoch gehört, denn kurz darauf spüre ich seine weichen Lippen an meinem Hals.

„Du bist wunderschön, Jelena", haucht er und mein Herz tickt völlig aus. Es überschlägt sich und vollführt Purzelbäume und Saltos, die ich ihm nie zugetraut hätte. Aber wenn ich gedacht habe, dass sei schon alles, habe ich mich gewaltig geirrt.

NordlichtWhere stories live. Discover now