51 - Spielsteine des Lebens

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Irgendwann im Laufe des Abends verließen auch Harry und die anderen die Bar und dank des anzüglichen Grinsens von Mara, die ihren Arm besitzergreifend um meinen Prinzen gelegt hatte, konnte ich an nichts anderes mehr denken.

„Ist etwas zwischen dir und deinen Freunden?", fragte Jim, als endlich alle Gäste die Bar verlassen hatten und auch Paolo sich ein Stockwerk höher breit gemacht hatte. Wir waren alleine und ungestört.

„Es ist nichts Weltbewegendes, nur kitschige und verdammt pubertäre Probleme, die jeder Drehbuchautor sofort in einem Film verpacken würde.", tat ich es leichtfertig ab und ging zwischen den Tischen durch, um nachzusehen, ob ich noch irgendwo ein Glas vergessen hatte.

„Ich war ja schon immer ein Fan von den kitschigen Liebesfilmen!", meinte Jim und lehnte sich dabei so übertrieben selbstsicher, gegen die Bar, dass ich einfach ungläubig lachen musste. Dieser stämmige Mann, der eine Familie und eine eigene Bar besaß, schaute sicherlich keine Romanzen in seiner Freizeit.

„Ehrlich – ich kenne mich aus!" Ich zog zwar weiterhin skeptisch meine Augenbrauen in die Höhe, jedoch brannten mir die Erkenntnisse des Abends so sehr auf der Zunge, dass ich sie ihm vermutlich auch dann erzählt hätte, wenn er sich schützend die Hände auf seine Ohren gelegt hätte. 

Also stellte ich mich dicht neben ihn, lehnte mich auf dieselbe Art gegen die Bar, verschränkte meine Arme vor der Brust und fing an zu reden: „Hast du den Lockenkopf gesehen? Der, der eigentlich die ganze Zeit lacht?"

„Klar, der Typ konnte seine Augen ja gar nicht von dir lassen – er hat sich dauernd umgedreht." Das Herz in meiner Brust setzte für einen Moment erschrocken aus. Harry hatte mich tatsächlich beobachtet? Die kurze Freude versiegte leider ziemlich schnell wieder, als meine Gedanken zur Ökotusse schweiften, die er trotzdem nicht von sich gewiesen hatte.

Und dann fing ich an von unserer Freundschaft zu erzählen, weihte Jim sogar in meine frühste Kindheit ein und sprach das zufällige Wiedersehen an. Es tat wie erwartet wirklich gut, über die schönen Dinge, die Harry zu der Person machten, die er noch immer für mich war, doch als es dann zum unangenehmen Teil kam, stockte ich kurz.

„Kurz bevor meine Eltern mit mir weggezogen sind, habe ich aufgehört mit Harry zu reden. Ich habe den Kontakt zwischen uns komplett abgebrochen." Die Prinzessin hatte ihren Prinzen aus dem Königreich verbannt.

„Warum hast du das getan?", fragte Jim aufrichtig interessiert und bestätigte mir damit wieder einmal, dass er ein wirklich guter Zuhörer war. Ich hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen, hatte das Thema ja sogar vor Harry vermieden, dabei war es doch so einfach: Ich hatte unsere Freundschaft beendet und war drauf und dran, es wieder zu tun.

„Wir haben uns damals geküsst.", antwortete ich knapp und wartete auf Jims Reaktion, ehe ich zu einer weiteren Ausführung ausholte. „Wir wollten es einfach mal ausprobieren, wollten wissen wie es sich anfühlt." Ich biss mir auf die Lippe, um ein Lächeln, welches mich bei der Erinnerung an meinen ersten Kuss überkam, zu vermeiden. „Und habe ich erst verstanden, wie hoffnungslos verknallt ich in meinen besten Freund war."

Jim sah mich immer noch leicht verwirrt an, doch ich konnte seinen Blick auf einmal nicht mehr erwidern und legte ihn auf den Boden unter meinen Füßen. „Ich wusste, dass ich wegziehen würde und bin daher auf Abstand gegangen." Damals war ich mir nicht sicher, ob sich bei Harry dieselben Gefühle anbahnen könnten, doch ich wusste ganz genau, dass ich verletzt werden würde, wenn ich noch weitere Sachen mit ihm unternahm. Also wartete ich meine Zeit bis zum Umzug ab, verbarrikadierte mich zuhause, ließ mich von meinen Eltern auf alle möglichen Veranstaltungen schleppen und kündigte still und heimlich die einzige Freundschaft meines Lebens.

„Und dann habe ich ihn heute wieder geküsst, um festzustellen, ob da immer noch dieser kleine Funke ist. Scheinbar bin ich zwar älter geworden, jedoch unreif geblieben, denn alles in mir schreit danach ihn wieder aus meinem Leben zu streichen.", gestand ich und wurde automatisch kleinlauter.

„Warum solltest du so etwas bescheuertes tun?", fragte Jim gerade heraus und sah mich immer noch von der Seite an. Er hatte seine Stirn in Falten gelegt und schien sich tatsächlich Gedanken darüber zu machen.

„Warum bist du Anna nicht schon längst hinterher gefahren?", stellte ich ihm die direkte Gegenfrage, die ihn eindeutig aus dem Konzept brachte. Ich atmete noch einmal tief durch, ehe ich die Erkenntnis aussprach, die sich an diesem Abend in mir breit gemacht hatte: „Weil wir beide Menschen sind, die es unkompliziert mögen. Bahn sich ein Konflikt an, laufen wir weg und versuchen ihn einfach durch Schweigen aus dem Weg zu räumen. Wir wollen uns für die Spieler halten und ignorieren dabei, dass wir eigentlich nur die untätigen Spielfiguren sind." Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus, ich schaffte es endlich Jim wieder anzusehen, überlegte gar nicht mehr, was alles schief gehen könnte. Ich wusste nur eines – ich musste präsent bleiben, durfte nicht schon wieder fliehen, ohne wenigstens eine Erklärung zu hinterlassen. 

Ich erkannte in Jims Gesicht eine Regung die mir verriet, wie stark er über meine Worte nachdachte, wie sehr er sie sich zu Herzen nahm, doch dann machte er das, was ich an seiner Stelle genauso gemacht hätte: Er fing an zu lachen und klopfte mir auf die Schulter. „Wow, das war ja poetisch!", meinte er sarkastisch und wehrte damit meine Worte vollkommen ab. Jedoch wusste ich, dass er sie gehört hatte.

„Ich sollte Schriftstellerin werden!" Ich stieg in die einfachere Unterhaltung ein und lachte mindestens genauso stark, wie der Mann, der dabei war, seine ganze Familie zu verlieren. Es war der leichte Weg und doch war mir innerlich bewusst, dass ich meine Worte ernst gemeint hatte.
„Vergiss es, ich brauche dich hier – du bist einer meiner besten Mitarbeiter!"

„Nur irgendeiner?! Ich bin die Beste.", konterte ich großkotzig und musste über meine übertriebene Selbstsicherheit lachen – dieses Gespräch gefiel mir deutlich besser.

Leider hielt die scheinbar sorglose Stimmung nicht lange an, denn schon als ich alleine in die kalte Nachtluft trat, wurde ich an den Auslöser meines tatsächlichen Zwiespalts erinnert. Ich erkannte ihn sofort – seine lockigen Harre warfen Schatten auf sein markantes Gesicht, doch die Art, wie er da stand, wie er seine Hände in den Hosentaschen vergrub und mich einfach mit seinem üblichen Blick ansah, ließen keinen Zweifel an seiner Identität. „Harry.", stellte ich lautstark fest und ging auf ihn zu. Ich bemühte mich vollkommen normal zu sein, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob mein schauspielerisches Talent für eine solche Art der Lüge ausreichte.

Auch er trat ein paar Schritte zu mir. „Ich denke wir sollten reden.", sagte er schmunzelnd, auch wenn ich mir sicher war einen Hauch der Unsicherheit in seiner Stimme zu erkennen – auch seine schauspielerischen Talente drohten zu schwinden.

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt