29 - Überwinung

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Das Klingeln meines Handys holte mich zurück in die Gegenwart – Harry und ich saßen nun schon seit einer halben Stunde vor der Kanzlei meines Vaters und warteten darauf, dass mir genug Mut zuflog, um diesen Schritt zu wagen.

„Willst du nicht rangehen?", fragte Harry und sah mein Telefon an, als wäre es ein Artefakt aus der Steinzeit.

„Nicht wirklich, das ist eh nur Toni und ich habe keine Lust auf Erklärungen.", kommentierte ich trotzdem kurz und stand auf. Es hatte keinen Sinn, hier weiter herum zu sitzen und auf ein Wunder zu warten. Ich war nun schon so weit gekommen, dass ich gar nicht mehr zurück gehen konnte – selbst wenn ich wollte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass mein Begleiter einfach auf dem Bordstein sitzen blieb, was ich leider auf meine große Klappe zurück führen konnte. Denn ich hatte ihm noch im Zug versichert, dass ich seine Hilfe nicht mehr brauchen und bestens ohne seine ‚Unterstützung' klar kommen würde. Manchmal verstand ich meine eigene Logik nicht mal ansatzweise. Ich konnte das hier nicht alleine durchstehen und ausgerechnet meinen Prinzen an meiner Seite zu wissen, war ein Glücksfall, den ich auf keinen Fall ignorieren durfte.

„Du musst schon deine Frage aussprechen.", meinte Harry siegessicher und schien mal wieder meine Gedanken erraten zu haben – warum beherrschte er das auch nach sieben Jahren noch so perfekt?

„Du weißt doch eh, was ich denke." Es war zum verrückt werden, doch trotzdem gab ich nach einem kurzen Moment des Schweigens nach. Harry saß im Moment einfach am längeren Hebel und ich brauchte ihn. „Na gut – kannst du bitte mitkommen?" Die Fragte kostete mich so viel Kraft, dass ich für einen Augenblick fast gänzlich vergaß, was mich in wenigen Minuten erwarten würde.

„Aber ich dachte, du wolltest mich nicht dabei haben."

„Übertreib es nicht!", mahnte ich und hoffte inständig, dass ich nicht auch noch um seine Unterstützung betteln musste. Harry quittierte meine Worte lediglich mit einem Lachen, doch trotzdem stand er auf und stellte sich neben mich.

„Na gut", sagte er und rieb sich dabei seine großen Hände. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie lang seine Finger geworden waren – noch ein Detail, das sich über die Jahre geändert hatte. „Wie willst du vorgehen?" Hörte ich da tatsächlich den Typischen Agenten-Ton, den er damals immer benutzt hatte, nachdem wir heimlich einen Actionfilm gesehen hatten? Verdammt er musste wirklich aufhören mir zu zeigen, wie viel von meinem Prinzen noch in ihm steckte, sonst würde ich irgendwann nicht mehr dem Drang wiederstehen können, meine Hand kraftsuchend in seine zu legen.

„Ich habe keine Ahnung.", antwortete ich wahrheitsgemäß. Wie würde ich meinem Vater nur unter die Augen treten? Was würde er zu meiner Haarfarbe sagen? Wie konnte ich ihn von dem Rückzug seines Auftrages überzeugen? Würde er mich überhaupt beachten?

Fragen über Fragen schienen meinen Kopf zum Dampfen zu bringen, während wir das große Gebäude betraten. „Thalia? Dein Vater hat gar nicht erzählt, dass du zu Besuch kommst!", riss mich eine fröhliche Stimme aus meinen Gedanken und kurz darauf wurde ich in eine innige Umarmung gerissen. Ich brauchte meine Augen nicht einmal auf die Frau zu richten, die mich beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, schließlich war sie einer der wenigen Menschen gewesen, die ich wirklich vermisst hatte – Anna.

Anna Reichert war die Sekretärin meines Vaters und hatte diese Stelle vor etwa drei Jahren angetreten. Seit dem war sie uns jedes Mal, wenn meine Eltern beschlossen hatten, die Stadt zu verlassen und zusätzlich eine neue, effektivere Kanzlei zu eröffnen, gefolgt. Irgendwann war mir klar geworden, dass sie nicht so schnell verschwinden würde und ich hatte angefangen auf wichtigen Geschäftsmeetings, bei denen ich manchmal auch anwesend sein musste, um gänzlich über den Beruf meines Vaters Bescheid zu wissen, mit ihr zu reden. Sie kam einer Freundin wohl am nächsten – jedoch hatte ich niemals meine Geheimnisse mit ihr geteilt, sie war nun mal nicht Harry.

Als sie mich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder losließ, fand sie die Zeit, mich von Kopf bis Fuß zu mustern. „Du siehst... anders aus", meinte sie. „Irgendwie reifer." Ich konnte ihre Worte nur mit einem schmunzeln erwidern, das war ein tolles Kompliment. Ich fühlte mich auch viel reifer und eigenständiger. Bis auf die finanzielle Sache hatte ich mein Leben wirklich toll im Griff.

„Hallo, ich bin Anna.", stellte sich die rothaarige Frau vor, die sich noch nie ihrem Alter entsprechend verhalten hatte, und reichte meinem Prinzen strahlend die Hand. Mir war sofort klar, was sie nun dachte.

„Das ist Harry – ein Freund." Leider bewirkte meine starke Betonung das genaue Gegenteil, denn nun zog sie auch noch vielsagend die Augenbrauen hoch.

Kaum hatte sie sich wieder an ihren Platz gesetzt und mir versichert, dass sich mein Vater sicherlich über meinen spontanen Besuch freuen würde, kam Harry auf mich zu. Er beugte sich ein Stück zu mir herüber und flüsterte leise genug, dass nur wir beide es hören konnten: „Also sind wir wieder Freunde?" Ich konnte nicht erkennen, ob er die Tatsache positiv oder negativ meinte, ob er bloß neugerig war oder sich schon sein eigenes Urteil gebildet hatte.
Wie immer, wenn ich überfordert mit der Situation war, straffte ich meine Schultern. Ich musste Selbstsicher wirken, eine Prinzessin zeigte keine Zweifel. Und dann sagte ich in bedeutungsvollem Ton, der vermutlich viel zu aufgesetzt klang: „Waren wir jemals was anderes?" Und dieses Mal log ich nicht, denn je mehr Zeit ich mit Harry verbrachte, desto sicherer wurde ich, dass unsere Freundschaft, trotz aller damaligen Vorfälle niemals komplett zerbrochen ist. Es hätte viel mehr Mühe gebraucht die Scherben wieder aufzusammeln, es hätte viel länger gedauert, sie wieder aneinander zu kleben. Unsere Beziehung ist niemals in die Brüche gegangen, auch wenn es sich eine Zeit lang so angefühlt hatte.

Dank Harry an meiner Seite wurde mein Gehirn mit so vielen verschiedenen Fragen und Erkenntnissen versorgt, dass es kaum noch Zeit hatte, sich auf das unvermeidliche Zusammentreffen zwischen mir und meinem Vater vorzubereiten.

Nachdem ich vorbildlich an der geschlossen Tür geklopft und ein aufmunterndes Nicken von meinem neuen alten Freund empfangen hatte, drückte ich die Türklinge ohne eine Bitte des Hereinkommens herunter. Ich war seine Tochter und hatte seit Wochen nicht mit ihm Gesprochen, er würde sich Zeit für mich nehmen müssen – ganz egal, welche Termine er dafür absagen musste.

Ein Schub des Selbstvertrauens berauschte mich und gab mir die nötige Kraft den ersten Schritt in das Büro meines Vaters zu machen.

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt