35 - Das Verhör

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Am nächsten Morgen verschlief ich natürlich sämtliche Vorlesungen und konnte trotzdem an nichts anderes denken, als an den gestrigen Tag. Ob ich meinem Vater tatsächlich so egal war? Wie dachte Harry wohl nun über mich? Mein kleiner Ausbruch wurde mir scheinbar von Minute zu Minute peinlicher, doch damit musste ich wohl jetzt leben – außerdem schien Harry nicht so, als würde er es sofort den anderen erzählen.

Trotz allem zwang ich mich dazu aufzustehen, schließlich erlaubte ich meiner schlechten Laune nicht die Überhand zu nehmen. Ein Blick auf das Bett auf der anderen Seite des Zimmers zeigte mir, dass Toni nicht hier war. Ihr Bett war, wie immer, ordentlich gemacht und ihr Buch lag auf dem kleinen Tisch neben ihr.

Am liebsten hätte ich mit ihr über alles geredet, hätte jemand anderen als Harry eingeweiht, jemanden der mich nicht ständig an meine schöne Kindheit erinnerte, doch das konnte ich mir nicht erlauben. Vor allem nicht, nachdem ich wusste, wie viel ihr die Uni bedeutete.

Ich ließ meine Haare offen von meinem Kopf fallen, um bei jedem Blick im Spiegel möglichst wenig Ähnlichkeit mit der Person zu haben, die ich gestern sein musste. Deswegen schminkte ich mich auch zur Abwechslung stark und umrandete meine Augen mit einem dicken schwarzen Eyeliner – nun sah ich zum Glück nicht mehr wie die Prinzessin aus, die ich gestern versucht hatte darzustellen.

Ich machte mich auf den Weg in die Bibliothek, schließlich hing ich schon ohne meine ganzen geschwänzten Stunden zurück und musste endlich mal diszipliniert lernen, um nichts schon meine ersten Prüfungen zu vermasseln.

„Hey, du bist du mit Toni befreundet, oder?", fragte mich ein braunhaariges Mädchen kurz bevor ich die Stufen zur Bibliothek empor steigen wollte. Sie kam mir bekannt vor, jedoch konnte ich sie nicht direkt zuordnen – vermutlich gehörte sie auch zu Maras Ökotussen, da sie ein Klemmbrett auf dem Arm hielt und mir verdächtiger Weise einen Stift in die Hand drückte.

„Würde es dir etwas ausmachen hier zu unterschreiben? Es geht um die Rettung der Uni." Ich überlegte gerade welch neue lustige Ausrede ich mir einfallen lassen konnte, doch da ich Toni ebenfalls mit einem Klemmbrett auf dem Arm, wurden meine Gedanken abgelenkt.

„Sorry, ich muss jetzt los.", entschuldigte ich mich kurz und machte mich auf den Weg zu meiner Freundin.

„Dann halt später.", rief mir das Mädchen gutgläubig hinterher und nun entdeckte mich auch meine Mitbewohnerin.

„Hey, ist das hier nicht cool?", fragte sie sofort enthusiastisch und deutete auf die vielen Leute mit Petitionen, die auf dem Platz herum liefen. Ich entdeckte auch die Ökotusse und Mason, die sich gerade angeregt unterhielten – ging denn hier niemand zu den Vorlesungen?! Nur Harry fehlte, vermutlich war er der einzige, dem es mal ganz gut tun würde, ein bisschen zu schwänzen, da er sowieso dauernd lernte.

„Naja...", gab ich zu und versuchte die richtigen Worte zu finden, ohne direkt beleidigend zu werden. Doch Toni lächelte mich einfach weiter an und wechselte schnell das Thema.

„Wie war deine Nacht mit Harry?", fragte sie anzüglich und setzte sich auf eine der vielen Stufen – ich nahm neben ihr Platz.

„Es war definitiv nicht so wie du gerade denkst!", stellte ich schnell fest, da ich nicht wie ein Abklatsch der Ökotusse rüberkommen wollte. „Es lief nichts zwischen uns." Und das würde es auch nicht – erst recht nicht nach der Art, mit der ich vor ihm zusammen gebrochen war. Es würde mich stark wundern, wenn er mich jemals wieder ernst nehmen konnte.

„Echt nicht? Was habt ihr denn dann die ganze Nacht gemacht? Du kamst erst heute früh wieder." Sie beäugte mich neugierig, doch ich konnte ihr schlecht erklären, dass ich eigentlich mitten in der Nacht wiedergekommen war und dann nur bis zum Morgengrauen an dem Fluss stand und mein Handy beim sinken zugesehen hatte. Dank meines Vaters besaß ich lieber kein Telefon, als eines das er ohne Probleme orten konnte, selbst wenn ich ihm nicht genug bedeutete, um tatsächlich mit einer solchen Überwachung leben zu müssen.

„Wir haben einfach den ganzen Tag einen Ausflug gemacht.", antwortete ich wage – doch Toni schien mir nicht zu glauben.

„Du kannst mir ruhig sagen, wenn du und Harry eine Nacht zusammen verbracht habt. Da ist doch nichts Schlimmes bei."

„Wir haben gemeinsam seine Familie besucht." Ich war in Panik geraten, denn ich wollte ganz bestimmt nicht, dass mich meine einzige Freundin für eine Schlampe hielt, die mit dem gleichen Typen schlief, wie Mara es scheinbar oft tat. Das durfte sie nicht von mir halten, aber gleichzeitig brachte ich es auch nicht fertig, ihr die Wahrheit unseres Ausfluges zu erzählen.

„Na Lia, wie war deine Nacht mit Harry?", fragte Mason, der sich so leise angeschlichen hatte, dass ich ein wenig zusammen zuckte. Er setzte sich auf meine freie Seite und musterte mich neugierig. Das hatte man davon, wenn man mal lernen wollte! Ich geriet natürlich sofort in eine Befragung.

„Die beiden haben Harrys Familie besucht.", antwortete Toni für mich und ich musste am eigenen Leib feststellen, wie schlecht es sich anfühlte, wenn ein Gerücht seinen Lauf nahm.

„Wirklich?", fragte er ungläubig und starrte meine einzige Freundin mit großen Augen an.

„Ich sein bester Freund, doch noch immer weiß ich nicht mal, ob er Geschwister hat. Dieser Junge ist verschwiegener als das FBI!" Mist, ich hatte gehofft, dass Harry seine Herkunft nicht so sehr verstecken würde, wie ich es mit meiner tat, doch da lag ich wohl falsch.

„Das macht Lia genauso – immer wenn ich sie nach ihrer Familie frage, blockt sie ab."

„Ihr wisst schon, dass ich genau zwischen euch sitze?", fragte ich überflüssig in die kleine Runde und stellte fest, dass nun auch die Ökotusse auf uns zuging.

„Mason, Antonia, kommt ihr?", fragte sie und beachtete mich nicht einmal. „Wir wollten doch was essen gehen." Ich freute mich schon, endlich in die rettende Bibliothek gehen zu können, doch stattdessen hakte sich Mason bei mir unter und zog mich gegen meinen Willen auf die Beine.

„Lia geht mit.", stellte er fest. „Sie muss uns noch ein paar sehr interessante Fragen zu beantworten." Nein, das muss sie nicht. Dachte ich resigniert, doch ich brachte es nicht übers Herz mich mit Gewalt von seinem Arm zu lösen. Ich konnte doch nicht jedes Mal so unnahbar sein, sonst würden er und Toni irgendwann tatsächlich genug von mir haben.

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt