48 - Alter Onkel

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„Hey, wie geht's dir?", fragte ich Jim, als ich am nächsten Tag in die Bar ging, um endlich meinen Kopf frei zu bekommen. Ich wollte nicht mehr an Harrys Verhalten denken, wollte nicht mehr an unsere stumme Verbindung sprechen, die sich so bedeutend abgefühlt hatte, als könne sie eine ganze Welt bewegen. Ich wollte einfach nur Ablenkung erfahren und wo sollte das besser funktionieren, als zwischen einer Herde betrunkener Idioten, die ich bedienen konnte?

„Besser", war sein einziger Kommentar, doch ich war mir nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach. Vor ein paar Tagen hatte er schließlich auch behauptet, dass es ihm bestens ging, obwohl er an diesem Abend keine klaren Gedanken fassen konnte, also war es durchaus legitim, dass ich ihm die Lüge nicht sofort abnahm.

„Wirklich!", beteuerte Jim erneut und warf mir einen Lappen entgegen, damit ich endlich mit meiner Arbeit anfing und die Tische bereit machte. Er war halt trotz allem mein Chef und mir lag etwas an meinem Job, daher ignorierte ich mein Misstrauen und ging auf die Tische zu. Ich würde ihm nicht helfen können, wenn er nicht mit mir sprach.

Ich war gerade dabei den letzten Tisch von den Überresten des letzten Abends zu befreien, als sich die Tür öffnete und ein rundlicher Mann den Laden betrat. „Wir haben noch geschlossen.", rief ich, doch das schien den Mann nicht zu interessieren. Seine grauen Haare hatte er mit Gel nach hinten gekämmt und sein Hemd war ordentlich geknöpft – ich hatte ihn hier noch nicht gesehen. Normalerweise wurde die Bar nur von Studenten besucht, doch ich bezweifelte, dass der Typ, der sicherlich schon über fünfzig war, seinen Abschluss an der Uni machen würde. Es gab zwar immer mal wieder Leute, die erst im Alter die Zeit fanden, sich weiter zu bilden, doch normalerweise wirkten sie anders. Ich war mir also ziemlich sicher, dass er hier nicht her passte.

„Entschuldigen Sie!", rief ich ihm empört hinterher, als er sich einfach hinter die Bar begab und in den Nebenraum spazierte, als würde der Schuppen ihm persönlich gehören.

„Was machst du hier?", fragte die Stimme meines Bosses, noch ehe ich das Zimmer mit den beiden Männern betreten konnte. Offenbar kannte Jim den unbekannten Eindringling, der mich eiskalt ignoriert hatte.

„Meinen Neffen besuchen und schauen, ob er die Bar schon in den Abgrund getrieben hat." Der Mann war also Jims Onkel – eigentlich sollte mich nichts mehr überraschen, schließlich hatte der junge Barkeeper auch eine Tochter, doch trotzdem umgab Jim das Phänomen, mit dem auch Lehrer sich abfinden mussten: Man konnte sie einfach nicht mit einem regulären Privatleben in Verbindung bringen, das war eine absurde Vorstellung.

„Wie du siehst steht alles noch." Jim war offensichtlich nicht erfreut über das Auftauchen seines Familienmitglieds und mich wunderte das keineswegs. Der alte Mann hatte eindeutig etwas an sich, dass ihn sofort unsympathisch wirken ließ.

„Und wer ist die Neugierige hier?", fragte der Alte und deutete dabei auf mich. Woher wusste er, dass ich mich hinter ihn in den Türrahmen gestellt hatte? Ich war doch nicht laut gewesen.

„Ich bin Lia und arbeite hier.", stellte ich mich mutig vor und sorgte schnell dafür, dass meine Körperhaltung wieder gerade wurde. Ich wollte vor diesem Mann keine Schwäche zeigen. „Wer sind Sie?" Ich war unhöflich, doch Jim nahm seinen Onkel nicht in Schutz, daher nahm ich an, dass alle damit einverstanden waren.

Der ekelhafte Idiot ging jedoch gar nicht auf meine Frage ein, sondern wandte sich wieder an seinen Neffen: „Wie alt ist sie?! Weißt du eigentlich, wie viel Probleme du bekommen kannst, wenn du Minderjährige hier arbeiten lässt?" Sah ich wirklich so jung aus?!

„Sei nicht albern, Paolo.", meinte Jim lachend und ging wieder in den Hauptraum. „Sie ist neunzehn." Er rief mein Alter über seine Schulter und sein Onkel – Paolo – hob überrascht eine Augenbraue.

„Sind Sie vom Ordnungsamt und wollen meinen Ausweis sehen?!", fragte ich ihn sarkastisch und verdrehte dabei genervt meine Augen – noch eine Angewohnheit, die ich in meinem alten Leben perfektioniert hatte.

Paolo – der mir verriet, dass Jim von Italienern abstammen musste – verbrachte den ganzen Abend in der Bar und beobachtete jeden Angestellten, sowie seinen Neffen, prüfend, als würde er der Boss des ganzen sein. Vielleicht war dem ja auch so und Jim leitete nur das Geschäft, doch trotzdem machte es mich verrückt, wie sehr er sich aufspielte. Er dachte, ihm würde die Welt zu Füßen liegen und jedes Mal, wenn ich ihm ein neues Getränk brachte, war ich in Versuchung einmal kurz in sein Glas zu spucken.

Die einzige Ablenkung wurde mir später am Abend geboten, als ein paar bekannte Gesichter die Bar betraten und einige von ihnen mir freundlich zuwinkten. Harry zeigte mir wie immer seine Grübchen, ehe er sich gemeinsam mit Toni, der Ökotusse und einem Mädchen, dessen Namen ich noch immer nicht kannte, an den letzten freien Tisch setzte. Nur Will kam extra zu mir und zog mich in eine warmherzige Umarmung. „Ich hätte dir niemals so eine Arbeit zugetraut.", meinte er aufrichtig, als er sich wieder von mir löste. Er wirkte völlig fehl am Platz, schließlich war die Bar nicht gerade für ihren Stil oder eine gehobene Klasse bekannt – hier kamen die Leute her, um sich schnell und einfach zu betrinken, nicht mehr und nicht weniger.

„Was macht ihr hier?", fragte ich trotz des Seitenblicks meines neuen Stalkers, der mich durch seine dunklen Augen missbilligend anschaute. Er schien es nicht zu mögen, dass ich mich von der Arbeit ablenkte, doch das war mir egal. Ich war nun schon seit Stunden dabei die Getränke zu verteilen, da Anna noch immer nicht zurück gekommen war, und hatte mir eine kurze Pause verdient.

„Ich wollte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass das Mädchen, das sich damals sogar geweigert hatte, den Tisch zu decken, auf einmal in so einer Umgebung jobbt." Er lachte und deutete um sich. Ich war damals wirklich eine verwöhnte Prinzessin, die andere für sich arbeiten ließ, doch diese Zeiten gehörten der Vergangenheit an. Inzwischen musste ich selber für mein Geld arbeiten, trug fast jeden Tag dieselbe Kleidung und sorgte für mein eigenes Leben.

„Damals waren die Umstände anders.", gestand ich und gab still zu, dass ich mein altes Leben auf eine gewisse Weise vermisste. Dabei war ich froh und erleichtert meine Eltern verlassen zu haben, doch es war so einfach gewesen, wie eine Prinzessin leben zu können. Ich hatte mein Königreich schon immer geliebt und wurde nur dank einzelner Beziehungen daraus vertrieben – zwar würde mich nichts in der Welt zurück treiben können, doch trotzdem vermisste ich diesen kleinen Teil. 

Fading Princess || H.S.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt