Leise höre ich sie in ihren Zimmer weinen und lehne mich niedergeschlagen mit meiner Stirn gegen ihre Tür.

,, Bitte, Evelyn. Lass mich rein," flehe ich sie verzweifelt an, doch die Tür öffnet sich nicht. Kein Laut erscheint auf der anderen Seite der Tür und es scheint, als hätte Evelyn aufgehört zu weinen.

,, Bitte," flehe ich erneut verzweifelt, doch wieder bleibt es still.

Niedergeschlagen setzte ich mich vor ihre Zimmertür und lehne meinen Kopf dagegen und warte. Hoffe, dass sie mit mir reden wird, doch all das Warten ist zwecklos, denn sie will mich nicht sehen.

,, Es tut mir leid," bringe ich heraus und hoffe, dass sie mich in ihren Zimmer hören kann.

Langsam erhebe ich mich und laufe in das Zimmer von Eric und mir, wo ich die Tür mit einem lauten Knall zustoße. 

Ich bin nicht sauer auf Evelyn oder auf Marcus, sondern auf mich.

Wie konnte ich nur so ausrasten? Vor allem vor Evelyn? Wie konnte mir so etwas passieren?

Ich hatte es nicht gewollt, aber die Wut auf Marcus war einfach mit mir durchgegangen. Die Wut darüber, dass er meinen Bruder und mich im Stich gelassen hatte, aber dennoch gab mir das nicht das Recht dazu, so mit ihm umzugehen.

Ich starre auf meine Fingerknöchel, die stark angeschwollen und noch mit Resten von Marcus Blut bedeckt sind.

Meine Hände beginnen zu zittern, als ich daran denke was ich getan hatte und wozu ich womöglich im Stande gewesen wäre.

Und dann trifft es mich wie ein Schlag. Ich wurde zu dem, wovor ich immer Angst hatte, es zu werden. Zu der Person, die ich am meisten hasse.

Ich wurde zu meinem Vater...

Diese Erkenntnis stürzt auf mich ein und ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.

Ich muss weg von hier. Weg von den Leuten, die mir etwas bedeuten und denen ich irgendwann weh tun könnte. Ich muss einfach weg. Ich richte nur Schaden an.

Schnell packe ich das Nötigste meiner Sachen in einen Koffer und verlasse das Haus, denn hier kann ich einfach nicht länger bleiben. Es ist einfach sicherer für alle.

Während ich in mein Auto steige und davon fahre, merke ich doch, wie sehr  es mich verletzt, Evelyn und meinen Bruder zu verlassen. Doch es ist einfach besser so...

Evelyn

Immer wieder taucht der Moment, in dem Aiden Marcus verletzt hatte, in meinen Gedanken auf und immer wieder habe ich Angst vor dem Aiden, den ich nicht kenne.

Doch mit der Zeit wird mir einiges bewusst...

Aiden hatte in den letzten Jahren so viel durchgemacht. Er hatte zuerst seine Mutter verloren, dann seinen Vater, der ihn täglich Gewalt zugefügt hatte. Im Heim war er jahrelang auf sich allein gestellt gewesen und nun hatte er wegen Marcus beinahe seinen Bruder verloren.

Aiden hat so viel durchgemacht und ist an all seinen Erfahrungen innerlich zerbrochen. Die ganze Zeit ist er stark gewesen und nur heute hat er seine Kraft verloren und seine Wut an Marcus ausgelassen, durch den er fast seinen Bruder verloren hätte.

Kann man ihm das vorwerfen?
Haben wir nicht alle einmal unsere Momente der Schwäche, in denen wir nicht mehr wir selbst sind?

Ja. Diese Momente gibt es und sie begleiten uns ein Leben lang.

Aiden hat zwar überreagiert aber er leidet auch wahnsinnig darunter. Er bereut es. Er wird es nicht nocheinmal tun. Da bin ich mir sicher.

Auch ist mir bewusst, dass ich womöglich ebenso wie er, mich nicht mehr unter Kontrolle gehabt hätte, wenn es um die Menschen geht, die ich liebe. Für diese Menschen würde ich einfach alles tun und für sie durchs Feuer gehen.

Aiden hat das für Eric getan. Weil er nicht damit leben kann, wenn er wegen Marcus gestorben wäre.

Und deswegen kann ich ihm nicht weiter böse sein.

Sofort stehe ich auf und laufe in Aidens Zimmer.

Mein Herz setzt aus, als ich ihn dort nicht finde.

Ich schaue aus dem Fenster und erkenne, dass auch sein Auto verschwunden ist.

Niedergeschlagen setze ich mich auf sein Bett und erkenne einen Zettel, der auf seinem Nachttisch liegt. 

Ich schließe meine Augen, da ich sich ein ungutes Gefühl in mir ausbreitet.
Mit zitterten Händen öffne ich den Zettel und beginne zu lesen.

Es tut mir leid, was ich heute getan habe. Ich wollte nie, dass du mich so sehen musst. Ab heute werde ich dich und deine Familie in Ruhe lassen. Es ist besser so. Ich will dich nicht verletzten. Sag meinem Bruder, dass es mir leid tut.

Schnell zerkülle ich den Zettel, werfe ihn in eine Ecke und laufe nach unten. Ich schnappe mir Erics Autoschlüssel, steige in seinen Wagen und fahre los.

Es ist riskant, dass ich fahre und doch ist es mir egal. Ich muss Aiden finden, alles andere zählt nicht.

Mit jedem HerzschlagWhere stories live. Discover now