Angriff

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Die Nacht ist kühl und ein leichter Wind frischt auf. Er weht in unsere Richtung und trägt die letzten Geräusche der noch nicht schlafenden Telmarer zu uns an den Waldrand. Hinter mir befindet sich ein großes Heer, das jederzeit bereit ist, das Schloss zu stürmen. Doch es ist nicht Zeit dafür, es wir noch eine Weile dauern. König Peter, Königin Susan, König Edmund und Kaspian stehen neben mir aufgereiht. Gleich ist es soweit und die Greife werden uns im Schutz der Dunkelheit unbemerkt auf die Zinnen der Burg tragen, von wo aus wir das Tor öffnen und die anderen hereinlassen. König Peter fragt

« Sind alle bereit? ». Wir nicken und er stößt einen leisen Pfiff aus. Wenige Augenblicke später gleiten die Greife herbei. Lautlos schlagen sie mit ihren Schwingen, um sich in der Luft zu halten. Jeder von ihnen packt einen von uns an den Armen und trägt uns in die Höhe. Bereits nach wenigen Augenblicken befinden wir uns nicht mehr weit von den Wolken entfernt. Kurz denke ich an Königin Lucy, Dr. Cornelius und die anderen, die im Hügel zurückgeblieben sind. Ich hoffe wirklich, dass König Peters Entscheidung richtig war und wir nicht in eine Falle geraten oder die anderen derweil angegriffen werden. Je näher wir dem Schloss kommen, desto unruhiger werde ich. Ich sehe zu den anderen hinüber. Königin Susan erwidert meinen besorgten Blick mit einem aufmunternden Lächeln. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass heute Nacht irgendetwas schieflaufen wird.

Bald darauf erreichen wir die Burg. Die Greife setzen uns ab. König Edmund auf dem höchsten Turm, Königin Susan, König Peter, Kaspian und mich auf den Zinnen, wo die Wachen patrouillieren. Die drei Wächter sind schnell niedergestreckt. Jeder kennt seine Aufgabe, wir müssen zunächst die Wachposten unschädlich machen und sie ablenken. Währenddessen werden Reepicheep, seine Mäuse und die Zwerge die Zugbrücke dann herunterlassen. König Edmund gibt den anderen am Waldrand das Zeichen zum Angriff. Mithilfe dieses leuchtenden Geräts, das er aus der Welt der vier Könige und Königinnen mitgebracht hat. Geduckt laufen wir die Treppe zum Burghof hinunter. König Peter und Königin Susan marschieren vorne weg, Kaspian und ich bleiben hinter ihnen. Immer wieder begegnen wir Wachen, die sofort ausgeschaltet werden. Bei jedem erstickten Laut, den die Sterbenden ausstoßen, verkrampfe ich mich noch mehr. So viele Menschenleben für nichts. Was bringt es uns, wenn wir das Schloss angreifen? Doch ich habe die Befehle nicht in Frage zu stellen, so einfach ist das. Ein Scheppern reißt mich aus meinen Gedanken. König Peter ist an eine alte Rüstung gestoßen. Königin Susan legt den Finger auf die Lippen, was ich in dem düsteren Halbdunkel gerade noch erkennen kann. Bald kommen wir zu einer Gabelung des Ganges. König Peter hält sich zielstrebig nach rechts. Seine Schwester folgt ihm, aber Kaspian bleibt unschlüssig stehen. Er starrt in die entgegengesetzte Richtung und huscht in den anderen Gang. Mich scheint er völlig vergessen zu haben. Also folge ich ihm leise. Es dauert nicht lange und wir kommen zu einer hohen Flügeltür. Kaspian öffnet sie, es knarrt ein wenig und ein großer Raum erstreckt sich vor uns. Ein langer, gläserner Tisch wurde in der Mitte des Raumes platziert. Darauf türmen sich Landkarten, Bücher, alte Pergamente, Schreibfedern und einige Kerzen. Auch die Wand ist mit riesigen Karten und Wandteppichen behängt. Rechts neben der Tür befindet sich ein Kamin, dessen Feuer erloschen ist. Die graue Asche glimmt nur noch ein wenig.

Als ich diesen Eindruck verdaut habe, sehe ich mich nach Kaspian um. Er ist nirgends zu sehen. Ich schleiche um den Tisch herum zu der gegenüberliegenden Tür. Sie ist nur angelehnt. Im Raum dahinter befindet sich ein Himmelbett. Zwei Personen schlafen darin. Kaspian hat das Schwert gezogen und hält es der einen Person an den Hals. Mit angehaltenem Atem verfolge ich das Geschehen. Die Person erhebt sich aus dem Bett. Es ist Miraz! Bevor er aufsteht, stupst er die andere Person kurz an. Ich nehme an, es ist Lady Prunaprismia.

« Ach, du bist also doch nicht verschollen, Kaspian », Miraz spuckt den Namen seines Neffen förmlich aus. Er grinst höhnisch und schielt auf das Schwert an seinem Hals. Einige Blutstropfen quellen aus der Wunde. Lady Prunaprismia richtet sich auf.

« Kaspian? Was machst du da? Hör sofort auf damit! », sagt sie. Sie klingt nicht sehr überzeugend. Kaspian sieht seine Tante nicht an als er sagt

« Bleib, wo du bist », an Miraz gewandt, fährt er fort,

« Und du, was ist wirklich mit meinem Vater geschehen? ». Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber ich höre, dass er wütend ist.

« Na, endlich kommen wir zur Sache », lacht Miraz. Seine Frau kneift die Augen zusammen

« Du hast gesagt, er ist einen natürlichen Todes gestorben ». Miraz verdreht die Augen

« Mehr oder weniger stimmt das auch. Also sei still! ». Kaspian drückt die Klinge seines Schwerts noch etwas fester an Miraz' Hals

« Sag es! Sag, dass du ihn getötet hast! ».

« Du kannst es jetzt sowieso nicht mehr ändern, Kaspian! », sagt Miraz. Währenddessen nimmt Prunaprismia ganz langsam eine Armbrust aus dem Schrank über dem Bett und richtet sie auf ihren Neffen. Mit ängstlicher Stimme befiehlt sie

« Nimm das Schwert runter, Kaspian! ». Der Angesprochene dreht sich nicht zu ihr.

« Sag es! Gib es zu! », widerholt er stattdessen.

« Du bist ein Narr. Denkst du, wir wissen nicht, dass deine Narnianen-Freunde alle hier im Schloss sind? Warum denkst du, hattet ihr so leichtes Spiel? », fragt Miraz bedrohlich leise. Kaspians Schultern verkrampfen sich und mir gefriert das Blut in den Adern. Schnell sehe ich mich nach allen Seiten um. Lady Prunaprismia hält noch immer die Armbrust schussbereit auf ihren Neffen gerichtet.

« Beende es endlich oder willst du, dass unser Sohn vaterlos aufwächst? », ruft Miraz und ich meine, einen Hauch von Angst in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Das bringt das Fass wohl zum Überlaufen. Ich sehe wie sich ihr Finger dem Abzug nähert, doch ich bin schneller. Ich stoße die Tür auf. Mit zwei langen Schritten bin ich bei Kaspian und reiße ihn mit mir zu Boden. Keine Sekunde zu früh, denn genau in diesem Moment bohrt sich ein Pfeil über uns in die Wand. Miraz rennt aus dem Zimmer und seine Frau wirft sich schreiend auf das Bett. Kaspian und ich sehen uns an. Flink rapple ich mich auf und reiche ihm die Hand.

Der Ruf des Löwen | Eine narnianische GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt