Epilog: Die Liebe einer Mutter

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New Orleans, 13. Dezember 1887

Es ist kalt.
 Das ist das einzige, was ich wahrnehme, als ich in unser Schlafzimmer schleiche. Ein Sprung über die dritte Stufe, sonst hätte das Knarzen vermutlich das ganze Haus geweckt.  
 Nein, ich werde es nicht zulassen. Ich muss Freya in Sicherheit bringen. Als ihre Mutter muss ich sie beschützen. Ich muss sie vor den Menschen beschützen, die sie ausnutzen wollen. Sie soll frei sein.
 Und um das zu erreichen, gibt es nur einen Weg.
 Es wird immer Menschen geben, die sich ihrer Magie bemächtigen wollen. Ich kann nicht jedem dieser Menschen entkommen. Nik. Ich liebe ihn. Ich kenne ihn. Und das ist das Schlimme daran.
 Das Metall, das ich unter dem Tuch in meinen Händen versteckt habe, ist allgegenwärtig. Ich habe das Gefühl, dass es für die Kälte in mir zuständig ist. Wie Geisterhände sickert sie durch das Tuch und greift nach meinen Gliedern. Ich beschleunige meine Schritte.
 Die Tür unseres Schlafzimmers taucht vor mir auf. Ich bleibe davor stehen, versuche, meinen Atem zu beruhigen. Lausche in die Stille. Höre zwei gleichmäßige Atemzüge. Gut.
 Sicher bin ich mir in meinem Vorhaben nicht. Ich habe schon von verzweifelten Müttern gehört, die ihre Ehemänner umgebracht haben, aus Angst um ihr Kind. Sie waren meistens psychisch krank und wurden anschließend in eine Klinik eingeliefert.
 Aber ich bin nicht psychisch krank. Ich bin kerngesund und wach. Und wütend. Verletzt. Verzweifelt.
 Genevieve glaubt, dass ich ruhiger Seele nach Hause gegangen bin, mich zu Nik gelegt habe und tausend Jahre für Freya da sein werde. Sie weiß nicht, dass ich sie durchschaut habe. Genevieve scheint manchmal die Gedanken anderer lesen zu können. Ich habe ihre Manipulation durchbrochen. Ich lasse mich nicht manipulieren. Mein Kind soll nicht so aufwachsen, als ein Wachhund.
 Sie soll glücklich sein. Eine zweite Chance haben.
 Nur ein guter Grund ist nötig gewesen, um Genevieve vor einem Genickbruch zu bewahren. Den sie leider hatte, andernfalls hätte ich ihr die Wahrheit um mein Vorhaben gesagt. Sie hätte mich nicht verraten können, denn sie wäre in diesem Augenblick schon tot.
 Ich weiß, wie sehr sich Nik damit abmüht, seine Stadt wieder zu vereinen, und Genevieve will einen Friedensvertrag sowohl mit ihm, als auch mit den Vampiren aushandeln. Das ist ihr Gutschein für das Überleben.
 Ich komme nicht drumherum. Ich muss etwas tun. Einen Schritt. Ja, das wäre wohl das Beste. Klein anzufangen.
 Also tue ich einen Schritt ins Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Nik liegt auf seiner Seite des Bettes, einen Arm auf seinem Bauch, den anderen über die Matraze gestreckt. Ich weiß nicht, was in wenigen Minuten sein wird. Mein Herz zerreißt sich danach, ihn zu küssen, aber ich verbiete es mir. Ich darf kein Risiko eingehen.
 Kaum merke ich, wie ich die Tür gegenüber des Bettes passiere und den angrenzenden Raum betrete. Ich komme mir vor wie in einem Traum. Meine Gedanken sind unwirklich. Die ganze Situation ist unwirklich. Das Mobile schwingt leicht, als hätte es jemand angestoßen. Aus dem Kinderbett kommt ein Geräusch. Freya ist wach.
 Ich stelle mich über sie. Sie hat die Augen geöffnet - noch sind sie babyblau. Ich hoffe, sie bekommt Niks Augenfarbe. Er hat so schöne Augen. Ein Glucksen entweicht ihr und sie streckt die Arme nach mir aus.
 Ich kann ein Lächeln nicht verhindern und lasse ihre winzigen Hände meinen Zeigefinger umgreifen. Im Gegensatz zu mir sind sie warm.
 Ich liebe dich, hätte ich am liebsten gesagt, doch die Worte verlassen nie meine Lippen. Meine Sonne.
 Sie führt meinen Finger zu ihrem Mund und beißt leicht hinein. Dann lacht sie. Leise flüstere ich in ihr Ohr: "Pst." Nik darf nicht aufwachen. Kurz lausche ich auf seinen Atem. Er ist nach wie vor gleichmäßig.
 Freya. Ich liebe dich.
 Plötzlich schluchze ich auf. Erschrocken presse ich mir die Hand auf den Mund und entreiße sie somit Freya. Meine Augen brennen, mein Herz schmerzt. Ich würde so gerne weinen - aber ich kann nicht. Es ist mir nicht möglich, den Schmerz hinausfließen zu lassen.
 Liebevoll nehme ich sie aus dem Bett und wiege sie in meinen Armen. Sie schließt die Augen. Ich bilde mir ein, ein Lächeln auf ihren Lippen zu sehen, aber das ist unwahrscheinlich. Neugeborene lächeln nicht. Gewöhnliche Neugeborene.
 Das Tuch fällt zu Boden, sodass ich den Stahl an meiner Haut spüre. Die Kälte brennt.
 "Ich will, dass du glücklich bist", wispere ich so leise, wie ich es wage. "Hier kannst du nicht glücklich sein. Du wirst ein Engel, Freya. In deinem nächsten Leben wirst du ein Engel." Ich presse meine Lippen an ihre Schläfe. Sie ist eingeschlummert. Vielleicht ist das auch besser so. "Bitte vergib mir, meine Sonne."
Das Messer versinkt in ihrer Haut. Freya reißt die Augen auf. Ihr Blick versetzt meinem Herzen Risse. Es liegt grausamer Schmerz darin, Schmerz, den ich eigentlich lindern sollte. Ist es nicht die Aufgabe jeder Mutter, die Schmerzen seines Kindes zu lindern?
 Aber wenn sie älter wäre, würde sie noch viel größere Schmerzen erfahren. So ist es besser. So ist es besser. So ist es besser.
 Ein undefinierbarer Laut entweicht meiner Kehle und ich sinke zu Boden, den warmen Körper an mich gepresst. Das Messer fällt mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Ich ziehe den Kopf ein, kneife meine Augen zusammen und stelle mir vor, wie es ist, zu weinen.
 Vergib mir Freya. Vergib mir, meine Sonne. Ich werde nie erfahren, welche Farbe deine Augen haben werden. Ich werde nie erfahren, was deine ersten Worte sein werden. Wann du deine ersten Schritte machst. Wann du das Lachen und Blödsinn machen lernst, ich werde dir nie zusehen können, wie du mit Zoey über die Wiese tollst, mit deinem Onkel Kol Streiche ausheckst, mit Nik an der Leinwand stehst. Ich werde nie den Tag erleben, an dem Elijah auf dich aufpasst, dir Geschenke kauft und mit dir in die Stadt geht. Rebekah wird nie mit dir Kleider kaufen können, selbst Finn wird niemals seine Nichte erblicken. Genauso wenig wie Damon und Stefan.
 Und ich. Ich werde dich niemals das erste Mal in die Schule bringen können, dich zu deinen Freuden fahren, deine Mutter sein. All die Dinge, die ich mir während der Schwangerschaft ausgemalt haben, werden nie in Erfüllung gehen. Ein Traum, der irgendwann in Vergessenheit gerät. Nicht mehr als ein verfluchter Traum.
 "Was machst du da?"
 Ich spanne mich an. Nik.
 Ich höre seine Schritte, dann verstummen sie. Er zieht scharf die Luft ein. Sieht meine blutgetränkten Röcke. Das Messer am Boden.
 Und schon dann bricht der Sturm los, von dem Genevieve gesprochen hat.

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