Kapitel 34: 12. Dezember 1887

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Nebel liegt über der Stadt. Vereinzelt bahnen Sonnenstrahlen sich ihren Weg durch die Wolkenbank, einsame goldene Fäden in einer nie ruhenden Stadt.
 Ein Schrei zerreißt den morgendlichen Dunst.
 Mein Schrei.
 Zoey kniet neben mir, hält meine Hand, wobei ich es bin, die ihre Fingerknochen zu Staub zermahlt. Oder es täte, wenn sie kein Vampir wäre.
 "Mach, dass es aufhört!" Die Worte sprudeln in erstickten Lauten aus meiner Kehle. Zoey hat einen Gesichtsausdruck aufgesetzt, als würde man sie foltern.
 "Zoey, du sagtest du wärst hilfreich!" Nik sitzt an der anderen Seite des Bettes, streichelt über meine Haut, meinen Handrücken, meinen Unterarm. Er versucht, sich selbst zu beruhigen, sich zu vergewissern, dass alles gut werden wird.
 Das ist normal. Noch immer sitzen diese Silben in mir wie ein hinterhältiger Parasit, der einfach nicht verschwinden will. Das ist normal.
 Ich reiße meine Hände aus ihren Griffen. Meine Fingernägel graben sich in das Laken. Bei der nächsten Welle bäume ich mich auf, beiße die Zähne zusammen, verschlucke den Schrei.
 "ZOEY!" Niks Stimme besteht aus Schmerz, Schmerz, den er mit mir teilt.
 Ich schüttle den Kopf. "Lass sie." Meine Lippen sind aufgesprungen und meine Kehle rau, sodass die Worte in dem entfernten Lärm, der duch das offene Fenster hineingeweht wird, untergehen.
"Ja, Klaus. Ich bin genauso besorgt wie du und kann mich. Genausowenig wie du. Nicht. Konzentrieren!", ruft Zoey.
 Ich schließe die Augen. Das Kind in meinem Unterleib bewegt sich, windet sich, will raus. Seit 21 Stunden.
 Angefangen hat es mit leichten Wehen, mit mehr Blut, das ich übergeben habe. Elijah hat mir infolgedessen mehr Blut eingeflößt, das ich wenige Minuten später wieder hochgewürgt habe. Das war der Zeitpunkt, in dem ich Nik den Ring in die Hand gedrückt und ihn angewiesen habe, ihn in unser Geheimfach zu legen. "Ich will nicht, dass er schmutzig wird." Einfache Worte, die man in jedem anderen Zusammenhang auch sagen könnte. Leg den Ring weg, wenn du in den Sandkasten gehst. Ich will nicht, dass er schmutzig wird. Leg ihn weg, wenn du dein abendliches Blutmahl zu dir nimmst. Ich will nicht, dass er schmutzig wird.
 Zoeys Stimme. Nah an meinem Ohr. Sie flößt mir Worte ein, die einen schönen Frühlingstag beschreiben, mit dem Geruch von Regen in der Luft. Niks Arme, um mich gelegt. Sein Atem in meinem Nacken, Küsse übersähen die empfindliche Haut. Rebekah und Elijah, die mal wieder um eine belanglose Sache streiten. Zoey und ich reden über eine gemeinsame Reise, die wir nächstes Jahr machen wollen. Kol kommt hinzu und nimmt Zoeys Hand.
 Da ist ihr Fehler. Ich erwache aus der Traumwelt, die sie mir beschrieben hat. Zoeys Traumwelt. Kol und sie sind nicht länger zusammen. Er hat sie betrogen.
 "Was hast du getan?", schreit Nik, sobald er bemerkt, dass ich die Augen wieder offen habe.
 "Ich ..." Zoey schließt kurz die Augen und reibt sich die Schläfen. Dann schaut sie Nik wieder an. "Ich kann mich nicht konzentrieren. Es ... es ist schwer."
 "Wäre es vielleicht einfacher für dich, wenn du gefoltert werden würdest?"
 "Nik." Ich umfasse sein Handgelenk. Gequält sieht er mich an. "Sie ist meine Freundin."
 "Ich weiß, Liebes." Er presst die Lippen zusammen. Drückt sie auf meine Hand.
 Die nächste Schmerzenswelle überrollt mich. Für einen Moment kann ich nicht mehr sehen, mein Blickfeld ist schwarz. Ich habe Angst. Bin ich blind? Ich schreie. Vermute ich. Mein Mund ist geöffnet, meine Ohren verschlossen.
 Da kommt das Licht wieder. Niks Gesicht senkt sich über meines. Eine Träne läuft seine Wange hinunter. Ich wünsche mir, dass ich sie wegküssen könnte, aber das ist unmöglich. Wenn ich meinen Bauch nur für eine Sekunde anspanne, kommt der Schmerz wie ein Elefantenhieb.
 "Du musst das nicht mitanschauen", flüstere ich, zum gefühlt trillionsten Mal.
"Doch", sagt er nur. Dieses Wort ist das einzige, was für die nächsten zehn Minuten Bedeutung für mich hat. Er liebt mich. Die Kraft dieser Liebe muss ausreichen, um diesen Tag zu überstehen. Das sage ich mir seit 21 Stunden, Stunde für Stunde, Minute für Minute, und ich lebe immer noch. Es muss also helfen.
 Plötzlich ist er weg und da ist nur noch Zoey, die meine Hand umklammert hält und leise schluchzt, jedoch ohne eine Träne zu vergießen. Manchmal gibt es Momente im Leben eines Vampirs, in denen man unglaublich gerne ein Mensch sein will, Tränen vergießen kann, um den Kummer wegzuweinen. Nik ist der einzige Vampir, der dazu in der Lage ist, allerdings dadurch, dass in seinen Genen der Werwolf schlummert.
 "Nik", murmle ich am Rande meines Bewusstseins. Der Schmerz ist schon lange ausgeblieben. Bald muss er wieder kommen.
 "Er holt eine Hexe." Zoey so elend zu hören, bricht mir das Herz. Es war nie meine Absicht, dass meine Liebsten meinetwegen leiden. "Sie wird dir helfen, hörst du Chloe? Halte durch."
 Sie, wie Nik, wie Elijah, wie Rebekah, selbst wie Kol, will mit ihren Worten in erster Linie sich selbst beruhigen. Sie haben Angst um mich, die meine bei weitem übersteigt. Es fühlt sich merkwürdig an, die Liebe von so vielen Menschen auf einmal zu spüren. Es löst in mir den Drang aus, zu lachen und ihnen um den Hals zu fallen, doch gleichzeitig auch großen Schmerz, denn ich will nicht, dass sie wegen mir an dieses Haus gebunden sind, wegen mir leiden.
 Vielleicht ist Finn deswegen gegangen. Nicht, weil er mich liebt. Das wäre zu absurd. Ich war oft genug gemein zu ihm, warum sollte er mich daduch lieb gewonnen haben. Nein, aber er liebt seine Geschwister, und wenn sie leiden, leidet er. So viel Leid.
 Eine Hand schiebt sich unter meinen Hinterkopf und will mich hochhieven. Ich wehre mich, kneife die Augen zusammen. Wenn ich mich erhebe, setzen die Schmerzen wieder ein. Im Moment ist es so schön still.
 "Du musst etwas zu dir nehmen, Chloe." Unverkennbar Elijah, der da spricht. Wenn er wieder hier ist, sind es Rebekah und Kol auch, bereit, um neue blutige Laken im Hinterhof zu verbrennen.
 Ich schüttle den Kopf, presse meine Lippen aufeinander. Kein Blut. Nichts. Ich kann nicht.
 "Bitte." Seine Stimme ist herzzereißend, doch ich bringe es nicht über mich, den Mund aufzumachen. Ich werde es sowieso nicht bei mir behalten können.
 "Sie lässt sich nicht überzeugen, Bruder. Lass sie, sie wird schon sehen, was sie davon hat."
 "Kol!", protestiert Rebekah. "Wie kannst du nur so etwas sagen!"
 "Beschwer dich nicht und fass lieber mit an."
 Vage nehme ich das Geraschel von Tüchern wahr. "Das stinkt", meint Bekah. Dann sind sie wieder weg.

Das nächste, an das ich mich erinnern kann, ist der Geschmack von verbrannten Kräutern, der meine Kehle hinunterschwappt. Ich rümpfe die Nase und huste.
 Eine kühle Hand fühlt zuerst meine Stirn, dann meinen Hals. "Sie ist ausgelaugt", gibt eine rauchige Stimme, die mich seltsamerweise an den harzigen Geruch des Waldes im Herbst erinnert, bekannt. "Wann hat sie das letzte Mal Blut zu sich genommen?"
 "Das ist schon eine Weile her", antwortet Elijah. "Sie ist -"
 Der Rest seiner Worte gehen in einem Hustenanfall unter. Die Hand drückt mir ein Tuch vor den Mund, um das Verspritzen von Blut zu vermeiden.
 "So stur und dickköpfig wie ihr Bruder."
 "Damon?", wispere ich mit rauer Stimme. Es erstaunt mich, dass die Frau - die Hexe? - meinen Bruder kennt. Ist er hier? In New Orleans? Hat er meinen Brief doch erhalten?
 "Ja, Kleines. Ich habe vor einigen Jahren seine Wunden versorgt, die nicht heilen wollten. Er hat sich geweigert, auch nur einen Tropfen meiner Medizin zu nehmen."
 Er ist also nicht hier. Nur eine Erinnerung. "Nik", presse ich stattdesssen hervor.
 "Ich habe ihn nach unten geschickt. Er bringt die Aura dieses Zimmer durcheinander."
 "Ich will ihn sehen."
 "Das wirst du auch bald."
 Plötzlich flammt ein so großer Schmerz in meinem Unterleib auf, der die vergangenen 21 Stunden in den Schatten stellt. Die Zeit verschwindet in Finsternis und Qualen. Hin und wieder eine Stimme, ein ermutigender Händedruck, Zoeys Schluchzen. Ich bilde mir ein, Rebekahs Perfum zu riechen. Kols barsche Stimme zu hören. Das Geräusch von Holz auf Holz. Niks Todesdrohungen.
 Dann lichtet sich die Finsternis und ich komme wieder zu Bewusstsein. Die Schmerzen sind verstummt. Stattdessen erfüllt ein helles Schreien die Luft, das jedoch im Gegensatz zu meinen nicht gequält klingt. Es klingt wie ... ein Kind.
 "Mein Kind", flüstere ich. Mit dem letzten Stück an Kraftreserven, die sich wohl noch irgendwo in meinem Körper verschanzt haben, strecke ich die Hände aus in die Richtung des Geräusches. Schritte. Das Knarzen der Dielen. Der Herzschlag der Hexe. Nein, zwei Herzschläge. Ein leiser, stetiges Klopfen. Es kommt näher, ganz nah, bis schließlich sein Geruch in meine Nase steigt. Der Geruch des Kindes. Meines Kindes.
 Sie wird mir in die Arme gelegt. Leicht, ganz leicht ist sie, weich. Ich bemerke, dass ich die Augen geschlossen habe, und blinzle. Da ist sie. Mit meiner Berührung ist sie verstummt. Eine winzige Nase, ein noch winzigeres Mündlein, kleine, verschrumpelte Finger, die in der Luft herumtanzen. Ich senke meinen Kopf und lasse sie meine Nase anfassen, daran ziehen. Ich muss lachen. Freya gibt einen Laut von sich. Kein Lachen, aber etwas Ähnliches.
 Ich drücke meine Lippen auf ihre samtweiche, warme Haut. Meine Augen brennen, wollen weinen. Ich kann nicht. Wieder muss ich lachen. Das Gefühl, das ich empfinde, übersteigt den Grad an Emotionen, die ich bisher kennengelernt habe. Übersteigt selbst die Liebe, die ich für Niklaus empfinde. Übersteigt alles.
 "Freya." Bei dem Wort hebt sie den Kopf. Ihre Augen sind noch geschlossen, werden bald aufgehen. Vielleicht wird sie Niks schöne Augen haben. Vielleicht meine. 

  Nik steht neben mir, einen Arm um mich gelegt. Die andere Hand streicht über Freyas Kopf, federleicht, vorsichtig, denn die Kopfhaut von Neugeborenen ist sehr empfindlich. Mein Nachthemd ist blutlos, ebenso wie mein Körper und das Bett. Freya ist vier Stunden alt und schlummert in dem Tuch, in das wir sie gewickelt haben.
 "Was ist sie?", frage ich ihn. In ihr schlägt ein Herz, stärker als Vampirherzen. Die Herzen von Vampiren werden lediglich durch das aufgenomme Blut am Schlagen gehalten. Unsere Tochter hat seit ihrer Geburt kein Blut bekommen, hat auch nicht danach verlangt. Nur Milch. Und sie ist nicht versteinert.
 "Das werden wir noch herausfinden."
 "Wie?"
 "Irgendwie."
 Ich drehe meinen Kopf und lasse mich von ihm küssen. Alles ist in dem Moment friedlich. Alle sind glücklich.
 Es ist normal. Diese drei Worte haben ihr Verprechen eingehalten. Doch eines will ich noch wissen.
 Um die Antwort auf meine Frage zu bekommen, muss ich ein zweites Mal Niks Regeln brechen. Das erste Mal ist weder gut, noch schlecht ausgegangen, wenn man es objektiv betrachtet. Ich weiß nicht, wie es dieses Mal ausgehen wird. Später, in der Nacht, wenn alle schlafen und Freya das erste Mal in ihrem Kinderbett liegt, werde ich mich aus dem Haus schleichen und Genevieve einen Besuch abstatten. Ja, das werde ich. Das muss ich. Sie ist mir eine Antwort schuldig.
 Doch jetzt noch nicht. Jetzt gerade ist es der Himmel auf Erden. Die Kriege außerhalb des Anwesens gehen mich für den Moment nichts an.
 Das einzige, was zählt, ist Freya. Mein geliebtes Kind. Unser Kind. Unsere Tochter. Nie werde ich aufhören sie zu lieben, dessen bin ich mir sicher. Meine Liebe zu ihr ist tief in mir verankert, zusammen mit dem, was ich für Nik empfinde. Meine Familie.

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