Kapitel 23: 128 Jahre Wut

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Nik zerrt mich in einen leeren Nebenraum. Er hat gerade die Leiche entsorgt und ist ziemlich sauer. Sehr  sauer.

"Welches von den Worten Pass auf deinen Bruder auf  hast du nicht verstanden?"
 Ich versuche, Ruhe zu bewahren und mir die Angst vor seinem aufbrodelnden Wutausbruch nicht anmerken zu lassen. Wenn Nik wütend ist, ist er gefährlich.
 "Stefan ist ein Ripper. Es war klar, dass es früher oder später so kommen musste", erkläre ich pragmatisch. "Was erwartest du auch anderes, wenn du ihn auf einen Flughafen schleppst?"
 Die Tür geht mit einem lauten Krachen zu und ich werde rückwarts geworfen. Klaus steht über mir, seine Augen blitzen. "Wage es nie, nie wieder, so respektlos mit mir zu reden. DU bist die letzte, die sich das erlauben darf."
 Ich spanne meinen Körper an und beobachte Klaus mit Adleraugen. Beim kleinsten Zucken würde ich aufspringen und rennen müssen, schnell rennen.
 "Gerade ist Stefan manipuliert, aber wie lange kann deine Manipulation seinen Drang, die Menschen um ihn herum auszusaugen, unterdrücken?" Obwohl ich weiß, dass das Beste, was ich in dieser Situation tun kann, es ist, mucksmäuschenstill zu sein und mich nach den Wünschen von Klaus zu richten, tue ich es nicht. Die zwei Jahre, in denen ich bei ihm war, habe ich das nie getan, und lebe immer noch. Ich habe mich nie seinem Willen gebeugt, und immer das Beste in ihm zum Vorschein gebracht. Das scheint mir der sicherste Weg zu sein, in Klaus' Umfeld zu überleben.
 Zugegeben, damals hat er mich noch geliebt.
 Ein Tritt in die Seite trifft mich wie eine Welle einen Kieselstein. Der Schmerz flammt erst einen Augenschlag später auf, dafür aber so intensiv, dass ich alles, was ich habe, zusammennehmen muss, um nicht laut aufzuschreien. Ich kneife die Augen zusammen und Tränen rollen meine Schläfen herunter.
 "Ach, Liebes." Seine Stimme erinnert an ein Raubtier; süß, aber lauernd. Lockend. "Nach außen gibst du immer die Unbesiegbare, die Unnahbare ab. Aber in Wirklichkeit bist du so schwach und verletzlich wie jeder Mensch."
 "Wenigstens zeige ich Schwäche", presse ich unter zusammengebissenen Zähnen hervor. Ein Tränenschleier verdeckt meine Sicht, als ich die Augen wieder öffne. Klaus hat mir eine Hand ausgestreckt und lächelt mich an. Zögernd ergreife ich sie und lasse mich von ihm hochziehen.
 Doch ich hätte es besser wissen müssen. Kaum stehe ich wieder einigermaßen sicher auf meinen Beinen, wird mein Kopf von einem erneuten Schlag zur Seite geworfen. Ich halte mir die brennende Wange und weiche ein paar Schritte zurück, sodass ich in sicherem Abstand zu Klaus stehe.
 "Ist Schwäche wirklich so gut? Hm?" Zur Abwechslung lacht oder grinst er mal nicht und kommt nur mit einer Killermiene auf mich zu. Vielleicht will er das auch. Mich töten.
 Verübeln könnte ich es ihm nicht, ich habe damals genug angerichtet, um das zu verdienen.
 Der eiserne Geschmack von Blut steigt in meinem Mund auf, und mir wird beinahe schlecht davon.
 "Leben für Leben, das wäre das passendste", sagt er, als er vor mir stehen bleibt und mit einer Hand an meinem Kinn mein Gesicht von links nach rechts dreht, als würde er ein teures Gemälde begutachten.
 Ich stehe nur stocksteif da; so nahe bei ihm wage ich es nicht, den Mund noch einmal aufzumachen.
 "Keine Worte mehr? Hast du Angst?" Seine Augen schweben wenige Zentimeter vor meinen, aber ich sehe in ihnen nur Blau. "Du hast ein Leben genommen, dann solltest du auch dafür bezahlen."
 Das kann nicht sein Ernst sein. Noch vor wenigen Stunden war er drauf und dran gewesen, mir zu dabei zu helfen, Damon zu befreien, und jetzt will er mich töten? Für das, was ich vor 128 Jahren getan habe? Ich habe getrauert, doch ich bin darüber hinweg. Das sollte er auch sein. Für mich ist es viel schlimmer gewesen.
 Meine Augen werden zu Schlitzen, als ich im ins Gesicht werfe: "Du bist nur noch ein Schatten von dem Mann, der du vor langer Zeit warst."
 Für diese Worte bekomme ich noch eine Ohrfeige, woraufhin erneut das Eisen in meinem Mund explodiert und ich spüre, wie das Blut aus meinem Mundwinkel läuft.
 "Du riechst verlockend. Vielleicht sollte ich dich zur Mahlzeit nehmen, nachdem Stefan seine schon hatte." Sein Blick löst sich von meinen Augen und gleitet den Hals hinunter, bleibt an meiner Kehle hängen.
 "Das könntest du niemals mit deinem Gewissen ausmachen."
 Klaus lässt sich von diesem Kommentar nicht aus der Bahn werfen. "Interessant wäre es auch, wenn ich dich anschließend am Leben lasse. Du wieder ein Vampir wärst. Wie, denkst du, würden sich die Dinge entwickeln?"
 Kalte Angst kriecht meinen Rücken hinauf. Ich will kein Vampir sein, nie wieder. Ich will in mein menschliches Leben zurück.
 Er lässt mein Kinn los und automatisch weiche ich wieder zurück. Ich spüre noch den Druck seiner Finger.
 "Du bist brutaler geworden. Sprunghafter. Paranoider." Ich weiß nicht, was ich mit diesen Worten bewirken will. Ursprünglich wollte ich ihn beruhigen, aber jetzt gleicht es eher einem Ansticheln. Und es machte mir Spaß. Ich grinse, und ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie schrecklich das aussehen muss.
 Klaus rammt mich gegen die Wand, sein Körper dicht an meinem. Sein Atem geht schneller. Er ist wütend. "Das liegt daran, dass du vor 128 Jahren mein Leben zerstört hast! Du hast mir das Herz aus der Brust gerissen und zu Asche gemahlen, und es hat dir gefallen. Ich dachte damals, du wärst wie ich, dass du mich verstehen würdest, mich lieben könntest!"
 Die Ähnlichkeit seiner Worte mit meinen Gedanken damals erschreckt mich so sehr, dass ich alles um mich herum vergesse. "Dramaqueen", zische ich und bereue es im selben Moment. 
 Mein Körper fliegt durch die Luft und prallt an der gegenüberliegenden Wand ab. Mein Atem wird mir aus der Lunge gedrückt, als ich schmerzvoll auf den Boden aufkomme. Ich fühle mich wie ein Häufchen gebrochener Knochen. Schon ist Klaus bei mir und rammt seinen Schuh in meinen Magen, immer und immer wieder. Mir bleibt keine Zeit, kein Platz zu atmen. Mein Keuchen wird zu einem Japsen, mein Schreien zu einem Winseln.
 Was die Leute auf der anderen Seite der Tür wohl denken? Ob jemand hereinkommen wird?
 Aber wahrscheinlich ist der Lärm auf dem Flughafen zu laut, als dass mich irgendjemand hören könnte. Und so ist es auch besser; derjenige, der hereinkommen würde, würde Klaus' Wut ebenso ausgeliefert sein wie ich in diesem Moment.
 Als er mit mir fertig ist, pulsiert jede Stelle meiner Haut. Höchstwahrscheinlich strotzt mein Körper mit inneren Blutungen und Prellungen und was weiß ich noch alles. In meinem Kopf hat sich ein Schrei eingenistet, der auch nicht abklingt, als Klaus sich zu mir herunterbeugt und mir sein Handgelenk an den Mund presst.
 Aufmerksam sieht er mich an, als meine Zähne sich wie von selbst in die schon vorhandene Bisswunde schieben und ich sauge. Es schmeckt wie normales Blut, metallisch und einfach widerwärtig. Doch ich kann nicht aufhören. Widerwillig trinke ich, bis mein Körper heil und nur noch der Schmerz meines Geistes vorhanden ist.
 Dann gebe ich sein Handegelenk frei und warte mit geschlossenen Augen auf den Todesstoß.
 Als ich höre, wie die Tür zuschlägt, öffne ich die Augen ungläubig wieder und starre in die Leere. Klaus, nein, Nik hat sich meiner erbarmt. Er hat sich nicht gerächt.
 Erleichtert flattern meine Lider wieder zu und ich lausche dem Rauschen des Blutes in meinen Ohren.
 Einmal in hundert Jahren musste er seinen Agressionen endlich mal freien Lauf lassen, und wer bietet ein besseres Ziel als ich?
 Mein Körper ist geheilt, doch die Wunden meines Geistes bluten immer noch. Sie sind von Neuem aufgerissen. Ich erkenne, dass ich es verdient habe. Klaus ist gütig gewesen, denn meines Erachtens nach hätte ich viel schlimmeres verdient. Er hätte mich in einen Vampir verwandeln müssen. Das verdiente ich, weil ich ein schrecklicher Mensch bin.
 Während ich auf dem Boden dieses leeren Raumes liege und den gedämpften Geräuschen und dem Sirren in meinem Kopf lausche, denke ich schweren Herzens an mein Kind.

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