Kapitel 16: Eine weitere Stunde

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Noch sechs Tage.
Dann stirbt dein Bruder.

Dieser Gedanke kommt mir während des Aufwachens. Ich schlage die Augen auf, starre an die Decke, drehe mich um und vergrabe meinen Kopf in den Kissen - und plötzlich ist er da, in dicken, leuchtend roten Buchstaben. 
Ohne Zweifel ist es eine Warnung der Hexen, die sich vergewissern wollen, dass ich es nicht vergessen habe. Als ob ich es vergessen würde, ich würde niemals meinen Bruder im Stich lassen. Leider zeigt Nik nicht die geringsten Anzeichen, dass er in kürze aufbrechen will. Am Tag nach dem Club war er wieder zum Unterricht erschienen, normal wie eh und je, aber er hat mir nicht die Möglichkeit gelassen, mit ihm in Ruhe zu reden. Am Freitag war es genauso. Vielleicht hat er Angst, dass ich ihn wegen Riley Sanders zur Rede stelle ... doch warum sollte er, ausgerechnet Niklaus Mikaelson, Angst vor mir haben? Ich bin nur ein Mensch, den er genauso schnell umbringen könnte wie jeden anderen auch. Die Bitten der Klasse, doch eine Schweigeminute oder etwas in der Art für den Verstorbenen zu halten, hat er mit einem Wink der Hand abgetan und die nachfolgenden Bitten einfach ignoriert. Er findet die Idee dämlich. Ich auch, aber aus einem anderen Grund wie er.
 Heute ist Samstag, aber der Malkurs findet trotzdem statt, das hat Nik extra nochmal betont, bevor alle den Raum verlassen konnten.
 Kurz vor den Treppen der Universität hält Livia inne, und ich tue es ihr wohl oder übel gleich. Ich habe die kleine Ansammlung von Kerzen, die die Schüler entzündet haben, schon vorher gesehen, und wollte daran vorbeigehen in der Hoffnung, dass Livia sie nicht sehen würde. Falsch gehofft.
 Sie steht einfach nur vor der Kulisse, ihr Blick scheint von einer der Flammen gefangen worden zu sein. Sie hatte noch nicht viele Begegnungen mit dem Tod, die einzig andere ist ein Vogel, der gegen ihre Fensterscheibe geflogen ist und den Aufprall nicht überlebt hat. Damals waren wir schon Mitbewohnerinnen, und ich musste ihr helfen ein Grab im Garten auszuheben. Die Deko habe ich ihr überlassen, und das Weinen ebenfalls. Ernsthaft, wie kann man wegen eines Vogels weinen? Es ist ein Vogel. Kein Wunder, dass sie also bei Riley Sanders so melancholisch ist, auch wenn sie ihn überhaupt nicht gekannt, geschweige denn gemocht hat. Meine Freundin hat einfach ein viel zu großes und weiches Herz. Ihr würde das Vampirsein nicht gut bekommen.
 Ich seufze leise, als Livia immer noch keine Anstalten macht, sich wieder in Bewegung zu setzen. Ich beschließe, einen Hauch von Mitgefühl zu zeigen: Ich nehme eine der unbenutzten Kerzen und drücke sie ihr zusammen mit dem danebenliegenden Feuerzeug in die Hand. Dabei bemerke ich, dass ihr eine glitzernde Flüssigkeit die Wangen runterläuft. 
 Sie schaut mich kurz an, wischt sich dann mit dem Ärmel über das Gesicht, und entzündet die Kerze. Einen Moment sehen wir beide auf das Bild von Riley, ein Junge von gerade mal 21 Jahren, mitten in einem Malkurs, mitten im Leben, und in seinem Hotelzimmer brutal ermordet. Livia stellt die Kerze schluchzend ab und ich lege einen Arm um sie. Alleine dafür, dass sie Kummer hat, würde ich Nik wirklich gerne erwürgen, aber dann hilft er mir vermutlich nicht mehr, Damon zu befreien. Wobei ich seine Hilfe genau genommen nur noch so weit brauche, dass er mir die Kette gibt. Dennoch will er unbedingt mitkommen.
 Als Livia fertig geweint hat, machen wir uns wieder auf den Weg. Ich betrete das Klassenzimmer als Erste, Livia kommt nach mir rein. Ich spüre Klaus' stechenden Blick auf mir, auf uns beide, doch ich schaue ihn nicht einmal eine Sekunde lang an, greife nur nach Livias Hand, um den Vorgang etwas zu beschleunigen, und marschiere zu unseren Staffeleien. Hinter uns ertönt Gekicher, und als ich aufblicke, sehe ich auch den Grund dafür: Klaus steht an der Tafel, mit der Kreide in der Hand, und zeichnet etwas. Ich muss einen Moment länger hinschauen, um zu begreifen, was es darstellt, und als ich es erkenne, senke ich schnell wieder den Blick und konzentriere mich auf den Pinsel in meiner Hand. Welche Farbe wollte ich gerade nochmal nehmen?
 "Chloey", flüstert Livia neben mir, und ich schüttle nur den Kopf. "Ignorier ihn", sage ich. "So eine blöde Zeichnung kann er sich sparen."
 Aus dem Augenwinkel schaut sie mich mit großen Augen an, malt dann aber weiter an ihrem Bild, neben sich eines der Magazine als Vorlage.

Am Ende der Stunde lasse ich Klaus nicht mehr so schnell entkommen wie die letzten beiden. Kurz vor dem Gong husche ich zu seinem Pult vorne im Raum und räuspere mich, denn er tut so, als würde er mich nicht bemerken.
 Er schaut von seinen Unterlagen auf und sieht mich mit dem altbekannten Grinsen an. "Chloe. Wie kann ich dir helfen?"
 Ich werfe einen kurzen Blick hinter mich und bemerke, dass uns Maggie und ihre Clique anstarren, als würden wir verbotene Sachen machen. Schnell überlege ich, was eine Schülerin dem Dozenten wohl sagen könnte, um dabei extra an sein Pult zu gehen. "Ich habe eine wichtige Frage", ist das erste, was mir einfällt.
 Klaus zieht nur eine Augenbraue hoch.
 "...zum Thema Porträtanalyse."
 Jetzt stiehlt sich ein amüsiertes Funkeln in seine Augen, und das erste Mal seit Tagen sehe ich das Grün in ihnen wieder. "Keine falschen Scheu."
 Ich hole Luft und fange an, aus dem Stegreif Sätze zu erfinden: "In vielen Schule, oder auch an Universitäten und Colleges, bekommt man die Aufgabe, ein Gemälde eines Künsterls zu analysieren und anschließend zu interpretieren. Dabei kommen oft ganz verschiedene Sachen raus, zum Beispiel dass der Hase in Wirklichkeit einen einsamen Menschen darstellen soll oder das willkürliche Farbgemisch den Charakter der geliebten Frau beschreibt." Ich spüre, wie die Studenten hinter mir langsam das Interesse verlieren und sich lieber wieder ihrem Bild zuwenden. "Und dabei glaube ich, dass die Künstler sich so gut wie nie Gedanken über ihr Kunstwerk machen, sie malen es einfach und freuen sich, wenn hinterher etwas schönes rauskommt. Können wir am Ende des Seminars eine Stunde abhalten, in der wir nacheinander die Gemälde der anderen analysieren und interpretieren und danach diejenige Person fragen, ob ihr beim Malen diese Gedanken in den Sinn gekommen sind?"
 Klaus faltete die Hände und grinst nur noch breiter. Unser, zugegeben sehr einseitiges Gespräch scheint ihm zu gefallen. "Leider bin ich am Ende dieses Seminars vermutlich nicht mehr da, aber ich werde diese großartige Idee eurem Dozenten, den ihr dann haben werdet, mitteilen." 
 "Wo sind Sie denn da?", ertönt eine enttäuscht klingende Stimme aus der mittleren Reihe.
 Klaus Blick wandert kurz zu Maggie, der die Stimme gehört, sieht aber, während er antwortet, nur mich an. "Ich mache einen kleinen Abstecher nach Europa."
 Ich muss sein Lächeln erwidern, und einen Moment lang ist zwischen uns alles wieder so, wie es davor, vor meinem ... Aufbruch aus New Orleans vor 128 Jahren war.
 Dann hört man Maggie, die sagt "Das ist wirklich sehr schade, Klaus", und der Moment ist vorbei.

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