I.

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Es war nicht das schlechte Wetter, das Gabriella in mürrische Laune versetzte, sondern das seidene Material in ihrer Hand. Der Stoff sollte zu einem wunderschönen und pompösen Kleid vernäht werden. Gabriella Bennet würde viel Arbeit in das Werk stecken, dennoch war sie nicht ganz über diese Situation erfreut. Nun ja, das Kleid als ein schlechtes zu bezeichnen war nicht der Grund ihres Unmutes, sondern die Person, die den Auftrag gab, es anfertigen zulassen: Die hochangesehene Mrs Elinor Kingston.

Obwohl die Schneiderei sich in einem kleinen Dorf abseits der großen Stadt befand, waren die reichen adligen Frauen oft in dieser Boutique zu sehen. Viele bevorzugten das kleine Familienunternehmen wegen der qualitativen Arbeiten. Insbesondere die detaillierten Verzierungen der Kleider wurden von den reichen Kunden bewundert. Nur die obengenannte Dame hatte zu viele Ansprüche an die Schneiderin und kündigte dies oft mit einer schlechten Ausdrucksweise an: Sie würde damit nur dicker aussehen, oder die Farbe würde ihrer Eleganz nicht gerecht werden. Es war eine anstrengende Frau und Gabriella hatte das Gefühl, dass Mrs Kingston diese verbalen Unterstellungen äußerte um ihre Macht auszudrücken. Gabriella seufzte laut vor sich hin bevor sie das Öffnen einer Tür hinter sich hörte.

„Gabby? Warum bist du noch zur dieser Stunde wach?"

Es war ihre Tante, die sich besorgt nach ihr bekundete. Sie sah mit ihren vierzig Jahren noch sehr jung aus. Olivia Bennet hatte Gabriella aufgezogen, als deren Eltern starben. So hatte sie es ihrer Nichte erzählt.

Sie waren immer zu zweit gewesen, haben zusammen die Schneiderei zu Erfolg gebracht – obwohl sie noch viel sparen wollten um in London eine große Boutique zu eröffnen – und stützten sich gegenseitig. Jedoch bekamen beide in letzter Zeit mehrere Aufträge, die sie bis spät in der Nacht zum Arbeiten zwangen. So war es normal, dass Olivia ihre rothaarige Nichte in mitten der Nacht im Arbeitszimmer vorfand.

„Mrs Elinor Kingston", verkündigte Gabriella laut; ein sarkastischer Unterton rundete ihre expressive Erläuterung ab. „Der Saum am Brustbereich des Kleides war nicht sauber."

Olivia begutachtete das genannte Teil des Kleides und verzerrte das Gesicht in eine leicht entnervte Mimik. „Aber es ist perfekt."

Gabriella täuschte ein Lachen vor, „aber nicht für die Mrs Hochnäsig."

Der Humor, der Gabriella nutzte, hatte sie schon seit Kindesbeinen an. Es wurde ihr nicht eingeprägt, sondern vererbt. Immer wenn sie solche Aussagen tätigte, musste Olivia an ihren verstorbenen Bruder denken; der Vater ihrer Nichte. Die roten Haare, die Gabriellas Kopf schmückten, waren die gleichen wie die des Alexander Bennets.

„Psh, nicht dass sie dich noch hört", flüsterte Olivia. Sie hatte Gabriella gut erzogen, ihr die konformen Regeln der Gesellschaft gelehrt, die die junge Frau jedoch nicht ganz so beachtete wie Olivia es erhoffte. Die reiche Kundin mit ihrer Meinung zu konfrontieren, entsprach nicht dem Benehmen einer jungen Dame.

„Ich werde wohl die ganze Nacht an diesem Saum verbringen, bevor ich es ihr morgen vorbeibringen werde", erklärte Gabriella ihrer Tante, die ihr prompt die Antwort präsentierte, die die Neunzehn-jährige schon zu oft gehört hatte.

„Du kannst nicht ohne Begleitung an ihrer Tür klopfen!"

„Ich werde ihr wohl kaum meine Aufwartung machen", bekräftigte Gabriella mit tiefster Überzeugung.

„Gabr – "

„Es ist schon beleidigend genug ihr Kleid jedes Mal zu ändern, nur weil die Farbe nicht zum Himmel passt, weil dieser gerade bewölkt ist", entgegnete sie ihr, „wer ändert schon ein ganzes Kleid wegen eines Wetterumschwungs!?"

Ihre Tante rieb ihre Stirn mit geschlossenen Augen. Die Sturheit, die Gabriella besaß werde sie irgendwann einmal ins Grab bringen. „Ich werde dich trotzdem begleiten. Gott weiß was die Leute wieder sagen werden."

Gabriella schnaubte laut; es war ihr egal was die Menschen von sich gaben. „Wenigstens werde ich Allie wiedersehen."

Die Stirn ihrer Tante runzelte. „Miss Adelaide Kingston."

Es war nur ein Name, dennoch missbilligte Olivia Bennet es, wenn ihre Nichte die älteste Tochter des Kingstons Haushalts mit ihrem Spitznamen ansprach. Die Freundschaft der Beiden war ihr bis zu diesem Tage ein Rätsel. Sie musste sich auch eingestehen, dass sie die Miss nicht sehr gut kannte. Nur ihre Stiefmutter, die Gabriella mit ihren Änderungsaufträgen in den Wahnsinn trieb.

Der Regen wurde leichter als Gabriella am Kleid arbeitete. Es war schon fast Mitternacht und ihr Blick wanderte aus dem Fenster. Jedoch wurde der jungen Frau die Ansicht auf das Meer wegen der Dunkelheit verwehrt. Es war ihr liebster Ausblick, einer der sie seit Kindertagen an begleitet hat. Sie wusste, dass die See ihr ein vertrautes Gefühl gab; eines das sie mit ihren toten Eltern verband. Bis heute wusste sie jedoch nicht genau was vorgefallen war; sie traute sich auch nicht ihre Tante zu fragen. Sie sah immer traurig aus, wenn sie von ihnen berichtete. Die Rothaarige wandte ihren Blick wieder auf die Ursache ihrer langen Nacht. Sie hatte nach Stunden endlich den Saum neu vernäht. Nach einem erleichterten Seufzer verließ Gabriella ihren Arbeitsplatz und ging zu Bett. Der morgige Tag würde höchst interessant werden.


Die Perle der SeeWhere stories live. Discover now