Kapitel 3

14.8K 1K 136
                                    

Für einen Moment war ich wie erstarrt. Harry. Mein eigentlicher Mitbewohner. Und er kannte mich noch nicht.

Na komm. Sei ganz du selbst, und versau es.

Ich nahm seine Hand und schüttelte sie. „Louis“, lächelte ich.
Harrys Lächeln wirkte auf einmal gequält, bevor es komplett fiel.
„Wir sind uns schon begegnet, nicht wahr?“ Ich schluckte schwer und nickte.
Er seufzte. „Es tut mir leid, Louis-“ Wow. Mein Name aus seinem Mund klang… unglaublich.

War ja klar, Schw-

„es ist nur so, dass… Weißt du, ich-“ Ich hob meine Hand, um ihn zu unterbrechen.
„Schon ok, ich weiß. Also, wie gesagt, ich bin Louis und… Ich bin dein neuer Mitbewohner.“
Ich erwartete eine schlechte Reaktion wie bei H, oder eine gleichgültige wie bei Haz, aber was ich bekam war völlig anders.
Kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, da leuchtete Harrys gesamtes Gesicht auf und er fiel mir tatsächlich um den Hals. Er vergrub sein Gesicht in meinem Nacken und murmelte einige undeutliche Worte und- wow. Harry riecht gut. Und damit meine ich verdammt gut. Wow.
Er löste sich von mir, griff jedoch nach meinem Handgelenk und rannte mit mir wieder zurück zu unserem Zimmer.
Dort angekommen zog er mich zu meinem Bett und warf sich selbst darauf. Er saß nun im Schneidersitz und mit großen, leuchtenden Augen am Fußende, während ich mich auf der Kante nieder ließ.
Er holte tief Luft. „Entschuldige, wenn ich dich grade überfallen hab. Ich… ich bin nur so aufgeregt. Meinen letzten Mitbewohner hatte ich vor zwei Jahren“, seufzte er.
Ich nickte. Bevor ich etwas fragen konnte, sah er mich nervös an.
„Wen… wen hast du schon getroffen? Von mir?“
„Haz und… H.“
Beim zweiten Namen zuckte er sichtlich zusammen. „Hat er… dir-“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, keine Sorge. Er hat mir nicht weh getan. Er hatte mich nur ziemlich überrumpelt, als er plötzlich hinter mir stand und mich gegen die Wand gepresst hatte“, lachte ich.
Harry biss sich auf die Unterlippe. Oh wow. Wie konnte er so unschuldig und heiß zugleich aussehen?

Denk gar nicht erst dran. Der will eh nichts von dir.

Ich schüttelte meinen Kopf, um die Gedanken zu verdrängen.
„Mit Haz war alles gut. Der ist echt cool drauf“, lächelte ich. Harry war sofort sichtlich besser gelaunt.
„Na ich hoffe mal, wir verstehen uns auch so gut.“ Er wackelte mit seinen Augenbrauen. Versucht er grade mit mir zu flirten?

ALSO BITTE, JA?!

Ich lächelte.
„Aber hat dich Haz nicht eingeschüchtert? Er ist ziemlich direkt und kann einen ganz schön einengen…“
Ich lachte. „Naja, es fing eigentlich ganz normal an, wir haben so ein kleines Fragen-Antworten-‘Spiel‘ gespielt. Irgendwann fing er dann aber mit… Fragen über… über Sex an… Es war etwas seltsam, aber ok. Und er hat mir ein bisschen erklärt, wie das bei dir, bzw. euch, so ist“, lächelte ich. Harry nickte konzentriert. „Und wir waren grade dabei, uns das Gebäude anzuschauen, ich kenn mich hier ja noch nicht so aus..“
Schon fing Harry wieder an zu strahlen. „Das kann ich auch machen! Komm mit!“ Und schon waren wir wieder aus dem Raum, als er mich an meinem Handgelenk hinter sich her zog. Wir liefen kurz durch einen benachbarten Flur, bevor wir an einer großen Glastür ankamen.
„Das hier ist die Cafeteria. Hier bekommen wir unser Frühstück, Mittag- und Abendessen.“ Er öffnete die Tür und wir traten ein. Der gesamte Saal war komplett menschenleer.
Überall standen farbige Tische, von denen immer zwei ein Ying&Yang-Zeichen bilden könnten.
„Die Struktur ist etwas verwirrend, aber da gewöhnt man sich dran. Also“, er deutete auf einen benachbarten Saal, „da drüben sind noch zwei weitere Säle. In jedem Saal gibt es unterschiedliche Menüs, die auf die jeweiligen Patienten abgestimmt sind. In Saal 3, also der hinter dem Saal da drüben, werden bestimmte Medikamente mit unter das Essen gemischt, weil die Patienten dort sehr schwierige Fälle sind. Manche sind nur schwer unter Kontrolle zu bekommen, und verweigern jegliche Medikation, deswegen muss es ihnen heimlich unter’s Essen gemischt werden.
Dann in Saal 2, also der hier direkt nebenan, sind die Gerichte komplett auf jeden Einzelnen abgestimmt. Da sind nämlich Patienten mit Essstörungen und all sowas.
Und hier in Saal 1 sind alle anderen Patienten. Deswegen ist der Saal hier auch am größten.“
Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich schluckte schwer. „Aber… wenn… wenn die Säle so mit einander verbunden und nur durch einzelne Glastüren getrennt sind… Können dann nicht diese ‘schwierigen Fälle‘ auch zu uns gelangen?“
Harry schüttelte den Kopf. „Das würden die Wachen nicht zulassen. Außerdem sind diese schwierigen Fälle nicht so schlimm, wie es klingt. Soweit ich weiß, sind das nur die etwas unstabilen Fälle und die, die sich gegen Pfleger, Ärzte, Therapeuten und Wächter wehren, aber nicht gegen andere Patienten. Die Gefährlichen sind in einem anderen Block. Da können wir aber auch noch hin.“ Harrys Augen glitzerten herausfordernd.
Ich schluckte und schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich verzichte. Haben die Farben der Tische eine Bedeutung?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
„Ursprünglich ja, ich glaube, dass sollte der Orientierung der einzelnen Zimmer helfen oder irgendwas in der Art. Das hat ein paar Wochen geklappt, aber mittlerweile setzten sich alle einfach immer irgendwo hin. Eigentlich müssen auch Patienten und Pfleger voneinander getrennt sitzen – da hinten, an den weißen Tischen sollen eigentlich die Pfleger sitzen – aber da achtet mittlerweile auch schon niemand mehr drauf“, lachte er.
„Und mit wem sitzt du immer zusammen?“
„Mit Niall und Zayn und ein paar anderen. Niall ist einer der Pfleger und Zayn ist auch Patient. Und ab jetzt hoffentlich auch mit dir?“ Er lächelte hoffnungsvoll und ich nickte.
„Niall hab ich schon kennengelernt. Wofür ist denn Zayn hier?“
„Aggressionsbewältigung. Aber er ist schon echt weit, also keine Sorge, er wird dir nicht weh tun. Komm, ich zeig dir die anderen Räume“, er zog mich wieder aus der Cafeteria zurück in den Gang. Von da aus liefen wir einen relativ schmalen Gang entlang. Am Ende schloss sich ein etwas größerer Raum an, an dessen Wänden zehn Türen zu sehen waren. Jede davon war nummeriert.
„Das hier sind die Therapieräume. In welcher Gruppe bist du?“
„Sieben“, antwortete ich.
„Schade. Aber dann ist dein Raum der hier, Nummer 7. Wann du da hin musst, steht ja auf deinem Therapieplan“, lächelte er.
Ich zögerte. „Wieso schade?“
Er schob die Unterlippe vor. „Weil wir dann nicht in der gleichen Gruppe sind und nicht zusammen Therapie haben.“ Er sah zu Boden und spielte an seinen Fingern, bevor er wieder mein Handgelenk schnappte und losrannte. „Los, komm, ich zeig dir den Garten!“

Auf unserem Weg begegneten wir noch einigen anderen Patienten, und manche davon sahen so… normal aus. Als würden sie hier gar nicht hingehören. Je mehr wir sahen, desto mehr achtete ich auf die kleinen Plastikbändchen. Glücklicherweise war ich nicht der Einzige mit rotem Bändchen. Tatsächlich gab es sogar hauptsächlich rote Bändchen hier. Ich sah alle möglichen Farben. Gelb, Lila, Blau, Grau, Weiß, Orange, Pink. Ich sah hinab zu der Hand, die noch immer mein Handgelenk beim Rennen hielt. Daran hing ein schwarzes Bändchen. Schwarz hatte ich hier noch nicht gesehen...
Ich konzentrierte mich wieder auf den Weg.
Schließlich kamen wir in einen Flur, dessen linke Seite komplett verglast war. Draußen konnte man einen kleinen Innenhof mit Grünflächen und Bänken erkennen, und auf unserer gegenüberliegenden Seite führte ein kleines Tor in einen scheinbar noch größeren Garten.
„Kommst du?“ Ich hatte gar nicht bemerkt, wie Harry schon zur Tür hinaus war – und wie er mein Handgelenk losgelassen hatte. Ich nickte ihm nur zu und trat nach draußen. Die Sonne strahlte und es war deutlich wärmer als ich es erwartet hatte.
Wir standen auf einer kleinen Steinstufe. „Zieh deine Socken aus“, meinte Harry jetzt, während er seine Füße von seinen eigenen Socken befreite. Ich tat es ihm gleich.
Er stieg von der Treppe und sah mich an. „Wann bist du das letzte Mal barfuß durch Gras gelaufen?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, als Kind?“
Harrys Augen weiteten sich und er reichte mir eine Hand. Zögernd nahm ich sie entgegen. Sie war riesig und… warm und… schön.
Er zog sanft an meiner Hand und ich stieg von der Stufe. Meine Augen weiteten sich und ein Strahlen breitete sich auf Harrys Gesicht aus. „Das fühlt sich wahnsinnig an, oder?!“
Ich brachte nur ein schwaches Nicken zustande. Ich weiß nicht, was sich am besten anfühlte – das sanfte, weiche Gras unter meinen Füßen, das meine Zehen wie federige Wolken kitzelte; oder das zarte Prickeln, das sich in meiner ganzen Hand warm ausbreitete.
Ich hatte kaum Zeit darüber nachzudenken, denn schon rannte Harry los. Und er hielt noch immer meine Hand.
Es war, als würde alles um mich verschwimmen. Das Einzige, was ich wahrnahm, war meine Hand in Harrys. Wir rannten und rannten und rannten und er hätte mich entführen können, ohne dass ich es merke. All meine Gedanken rotierten um den gelockten Jungen vor mir und seine Hand um meine.
…Jedenfalls, bis ich mit voller Wucht in seinen Rücken knallte und wir zu Boden fielen.
Ich war geschockt und rollte sofort von ihm runter, um zu sehen, ob ich ihn verletzt hatte – doch statt eines Stöhnens oder eines Schreies hörte ich… Gelächter? Harry lachte. Laut und schallend. Und es war das Schönste, was ich je gehört hatte.

Mir wird gleich übel.

„Wieso lachst du?“
Er schüttelte den Kopf, noch immer lachend, und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht“, lachte er wieder los.
Ich zog eine Augenbraue hoch. „…Bist du high?“
Scheinbar war das der beste Scherz, den er je gehört hat, denn er kugelte sich wieder auf dem Boden rum.

Der ist ja noch verrückter als du.

Harry setzte sich auf und atmete einige Male tief durch. Ich nutze die Zeit und sah mich in der Umgebung um. Wir waren etwas weiter von den Gebäuden entfernt. Das ganze hier sah aus wie ein kleiner Park, sogar mit einem kleinen Bach. Natürlich war er nicht echt, sondern nur künstlich angelegt; aber immerhin etwas. Dieser ‘Park‘ war umrandet von den Gebäuden der Klinik, aber sie waren weit genug entfernt, um sie für einen Augenblick vergessen zu können und einfach die frische Luft zu genießen.

Wir saßen neben einem großen Weidenbaum, der langsam im sanften Wind hin und her schwang. Das Rascheln der Blätter war eines der schönsten Geräusche, die ich seit langem gehört hatte. Aber an Harrys Lachen kam es nicht ran.
Ich saß jetzt gegenüber von Harry im Gras und betrachtete, wie das Sonnenlicht in seinen grünen Augen glitzerte. Sein Lächeln wurde weiter und schließlich machten sich auch seine Grübchen bemerkbar.

Ich hätte für immer hier so sitzen können.

__________________________________________________

Hiiiiiiiii :)
Das Kapitel ist @holla_atyou gewidmet, weil die Süße mir heute als allererste gratuliert hat, Liam für mich gespammt hat und sogar vom Saarland bis hier oben hin kommt, nur um mit mir meinen Geburtstag zu feiern. Du bist der Waaaahnsinn ♥

Auch wenn es kurz war, ich hoffe es hat euch gefallen.

MentalWhere stories live. Discover now