15.

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Margaret

Es war unwirklich. Henry war anders. Liebevoll und zärtlich, vielleicht etwas unbeholfen, aber er war nicht der Henry, den er sonst immer vorgab zu sein. Nein das war er ganz und gar nicht. Vielleicht ließ ich es deshalb geschehen. Ich ließ geschehen, dass ich mich in seine Küsse fallen lassen musste. So oft hatte ich mir die schreckliche Situation eines Kusses mit ihm vorgestellt und jetzt?
Es war schon fast subtil. Ich spürte seine Hände an meinem Körper, aber sie waren nicht fordernd, nein im Gegenteil sie gaben mir etwas, im emotionalen Sinne, sie gaben Halt.
So dachte ich auch keinen Moment an Raphael. Keinen Augenblick, in dem ich an das unsagbar unbeschreiblich schöne Gefühl, dass ich mit ihm in Verbindung bringen konnte, dachte. Hätte ich mal lieber, denn in dem denkbar unpassendsten Moment öffnete sich die Tür und ebendieser stand völlig sprachlos im Raum.
Es war wie ein böser Traum. Henry ließ von mir ab und mir schlug das Herz in den Hals.
Nun standen also drei völlig geschockte und sprachlose Personen in einem Raum und wussten nicht, wo sie hinsehen sollten.
Henry war der Erste, der die Worte wiederfand.
"Nun ich schätze ich werde mich nach unten begeben und berichten, dass Margaret genesen ist."
Er drückte meine Hand und warf Raphael einen teuflischen Blick zu. Da war es wieder, das Gehässige, was ich an Henry so verabscheute.
Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss und signalisierte Raphael und mir, dass wir nun allein waren. Innerlich verfluchte ich Henry dafür. Doch nun war Raphael wichtiger, ihm stand der Schock ins Gesicht geschrieben und seine Mimik war wie versteinert.
Wie gerne hätte ich ihm jetzt eine Erklärung gegeben oder ihn beruhigt oder aber ihn angeschrien, was er sich einbilden würde einfach so herein zu platzen und dann so zu tun als wäre er verletzt, obwohl er derjenige war der verheiratet war. Aber das konnte ich nicht, ich konnte nichts von all dem.
"Raphael, ich...", weiter kam ich nicht er unterbrach mich.
"Shht. Sag nix, dich trifft keine Schuld. Er ist dein Verlobter. Ich meine es hätte mir klar sein müssen...", er hielt inne, schluckte und fing sich dann wieder,"ich meine ich bin auch nicht wirklich besser."
Er lachte. Wohl um den Schmerz zu überspielen.
Fast musste ich auch lachen, ironisch, aber ich hielt es für unangebracht.
Mich erschütterte, dass er so bewegt war, aber es gab mir auch in gewisser Weise Genugtuung. Er machte sich etwas aus mir. Es war nicht bloß ein harmloser Tag am See, er schien davon genauso bewegt wie ich. Doch es ging gerade alles so schnell. Eins passierte nach dem anderen und ich hatte kaum Zeit den Atem anzuhalten.

Ich weiß nicht, was geschehen war, als ich 'geschlafen' hatte, geschweige denn, warum es mir schlagartig so schlecht ging.

Raphaels Augen ruhten auf mir. Ich trat einen Schritt auf ihn zu, wollte ihn in den Arm nehmen, seinen Schmerz auf mich nehmen. Ich konnte ihn einfach nicht so sehen. Es war als zerspränge mir das Herz in der Brust und die Splitter verteilten sich im Körper und bohrten sich in mich. Doch anstatt irgendetwas weiteres zu tun, biss ich mir auf die Lippe und sah schuldbewusst aus dem Fenster.

Ich war einfach so schlecht darin mit Gefühlen anderer Menschen umzugehen. Abgesehen davon, dass mir fast immer die Worte fehlten, fühlte ich mich unwohl dabei. Raphael schien es zu spüren. Er nahm meine Hand und ich schaffte es endlich seinen Blicken standzuhalten.
Wir sagten nichts und doch war es wie ein Wunderbalsam. Augenblicklich ging es mir besser. Ich lächelte ihn zaghaft an und er drückte meine Hand ein bisschen fester.
Wir hätten ewig so stehen bleiben können.
Wären da nicht seine treuen, traurigen Augen die sich in mein Schuldbewusstsein bohrten.
Ich wusste nicht was in mir vorging als ich ihn wegstieß und anschrie er solle mich in Ruhe lassen und augenblicklich verschwinden.
Das war nicht ich. Das war auch keine dunkle Seite in mir.
Es war purer Egoismus.
Egoismus der versuchte sich zu rechtfertigen und meine eigene Schuld auf andere zu schieben.
Und im Moment der Erkenntnis liefen mir Tränen übers Gesicht und ich wollte weg. Ich wollte nicht mehr hier sein und mich rumkommandieren lassen. Als schwache Frau, bald als Weib. Ich wollte leben.
Doch wie. Es ging nicht.
Als wäre alles ein böser Traum aus, dem ich nie erwachen könnte.

GreensleevesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt