Kapitel 9

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„Ich habe dich schon länger nicht gesehen, John. Wie schön, dass du dich entschlossen hast uns mal wieder zu besuchen. Und das ist...?". Die Frau die eben gesprochen hatte, war mir auf den ersten Blick unsympathisch, doch das mag vielleicht auch daran liegen, dass ich wohl den Hang entwickelt hatte, Menschen mehr zu misstrauen. Ich schätzte sie auf Anfang 30, ihre haselnussbraunen Augen musterten mich neugierig und ihre gesamte selbstbewusste Erscheinung wirkte auf mich einschüchternd. Nein Haley, du lässt dich jetzt nicht einschüchtern. Du bist nicht umsonst hier. Bevor John für mich reden konnte, erhob ich das Wort. „Ich bin Haley, freut mich Sie kennen zu lernen Mrs...?" Sie setzte ein (für mich gespieltes) Lächeln auf. „Oh, nenn mich doch Stefany. Nun, was führt euch beiden hierher?", fragte sie, immer noch lächelnd. Irgendwie war dieses Dauer Lächeln gruselig. Was sollte ich jetzt sagen? Ich hätte mir wohl doch eher überlegen sollen, was ich sagen sollte. Jetzt musste ich mir wohl oder übel die Worte aus der Nase ziehen. „John hat mir erzählt, dass Sie mir weiter helfen könnten.", fing ich vorsichtig an. Stefany zog fragend eine Augenbraue hoch, die ganz nebenbei perfekt gezupft war. Allgemein war sie eine ziemlich schöne Frau. „Tatsächlich? Und womit glaubst du, können wir dir helfen?", fragte sie mich höflich, aber mit einem spöttischen Unterton. „Seitdem ich meine Ausbildung als Beschützerin angefangen habe, sind ein paar merkwürdige Dinge passiert, Dinge für die ich keine Erklärungen habe. Ich hatte gehofft, dass Sie mir diese Erklärungen geben können...", erklärte ich etwas nervös und hoffte inständig, dass Stefany dies nicht bemerkte. „Was weißt du denn über uns?", fragte sie und deutete auf die restlichen Menschen, die sich in diesem Raum befanden. Wie Carlsen meinem Bruder erzählt hatte, steckte hinter ‚Flying Ninjas' wirklich eine Bar. Und wie Liam und ich vermutet hatten, gelangte man ausschließlich durch den Club hierher. Als Neuzugang war es nicht allzu einfach, hier her gebeten zu werden. Der Reinfall am Samstag war also keine Seltenheit. Anscheinend überlegten sich diese Leute hier sehr gut, wen sie das hier sehen ließen. Ich war heilfroh darüber, dass wir nicht die einzigen hier waren. Im Hintergrund lief leise Musik, die Leute die an den anderen Tischen überall im Raum saßen, führten angeregte Gespräche und einige lachten laut. Eigentlich war hier eine ziemlich gute Atmosphäre, wenn ich hier nicht gegenüber dieser Frau sitzen würde um mit ihr über wichtige Dinge zu reden, würde ich vermutlich sogar auch Spaß haben. „Nicht wirklich viel. Ich weiß nur, dass sie Informationen besitzen, die nur wenige andere kennen. Ich vermute allerdings, dass sie eine ziemlich gut organisierte Gruppe sein müssen, um an solche Info's zu kommen und Orte wie diese hier so gut geheim halten zu können.", erzählte ich und zwang mich, Stefany in die Augen zu sehen, die sich gerade zurück in ihren Stuhl lehnte. „Da hast du wohl Recht. Aber dir wird doch sicher bewusst sein, dass du nicht umsonst an diese Informationen gelangen wirst, die du so dringend willst, oder Haley?" John hatte mich davor gewarnt, dass ich diesen Leuten etwas im Gegenzug geben musste, und er hatte Recht gehabt, als er sagte dass ich sowieso nichts zu geben hätte was für sie von Bedeutung wäre. Was sollte ich nur tun? „Ja, das ist mir bewusst und ich bin gewillt ihnen etwas dafür zu geben, doch ehrlich gesagt weiß ich nicht so Recht was...", antwortete ich ehrlich und biss mir unsicher auf die Lippe. Stefanys missbilligender Blick brachte mich nur noch mehr dazu, in meiner Unsicherheit zu versinken. „Du hast sie hier her gebracht in dem Wissen dass sie uns kaum von Nutzen sein wird?", fragte sie spöttisch an John gerichtet, der mal wieder seine undurchdringliche Maske aufgesetzt hatte. „Das stimmt nicht ganz. Sie hat sehr wohl etwas, dass sie euch geben kann.", begann er. Wie bitte? Was meinte John? Auch Stefany schien seine Aussage zu überraschen und forderte ihn ohne Worte auf, weiter zu sprechen. „Ihr Vater ist einer der Forscher von Projekt Urgent und sie ist eine angehende Beschützerin, die Chancen auf eine ziemlich hohe Stellung hat. Noch dazu bin ich ihr Ausbilder. Das alles ist eine ziemlich nützliche Fusion, findest du nicht?" Moment Mal, was meinte er mit der Sache mit meinem Vater? In meinem Kopf ratterte es, bis ein Zahnrad schließlich einrastete. Geschockt starrte ich John an und brachte kein Wort heraus. Ich schien nicht die einzige zu sein, die soeben verstanden hatte, was John meinte. „Das ist tatsächlich eine ziemlich gute Neuigkeit, sehr nützlich für uns...", sagte Stefany und schien für einen Moment ihren Gedanken nachzuhängen. „Moment mal, ich soll meinen Vater doch nicht etwa für euch ausspionieren um an Informationen zu gelangen, oder?!", platzte es aus mir heraus. Stefany lächelte mich kalt an. „Es ist deine Entscheidung, Haley. Aber denk doch mal nach, das würde nicht nur uns, sondern auch dir nützen! Du würdest nicht nur alles von uns erfahren, was du wissen willst, sondern auch noch eine tragende Rolle in unserer Sache spielen. Das ist die perfekte Lösung...", sagte sie. Ich schluckte schwer. Wenn ich das tue, verrate ich meinen eigenen Vater. Und für was? Für etwas das vor ein paar Monaten noch total unwichtig war? Aber jetzt war es nicht mehr unwichtig und vergessen konnte ich nicht. Ich wandte meinen Blick wütend zu John, der mich genau beobachtete. Wieso hatte er das mit meinem Vater überhaupt erwähnt? Hatte ich ihm diese Sache nicht im Vertrauen erzählt? „Bevor ich irgendetwas entscheide, will ich ein paar Grundinformationen haben. Wenn mich das davon überzeugt, dass es das Wert ist, meine eigene Familie zu hintergehen, dann tu ich es." Mein Herz schlug schnell als ich die Worte aussprach. In diesem Moment wollte ich nicht über richtig oder falsch nachdenken, wollte mich nicht meinen eigenen Gefühlen hilflos ausliefern. Jetzt musste ich alles objektiv betrachten. „Eigentlich machen wir sowas nicht. Aber wir machen wohl heute eine Ausnahme.", begann Stefany freudig erregt. „Wir sind, wie du bereits richtig vermutet hast, eine große und gut organisierte Gruppe. Wir selbst nennen uns ‚The Eagles' und sind eine Gruppe, die die Methoden der Regierung missbilligt und sich dagegen auflehnt. Gegründet haben wir uns schon viele Jahre zuvor, im Jahr 2040 um genau zu sein. Damals hatten wir noch nicht die Mittel und Wege, die uns heute zur Verfügung stehen, was auch der Grund dafür ist, weshalb wir bis jetzt noch nicht öffentlich gegen die Regierung vorgegangen sind. Damals hätten wir keine Chance gehabt. Nach dem Atomaren Anschlag im ehemaligen Europa und den damit verbundenen Hungersnöten und der Armut hier in Amerika, haben sich alle nach einem sicheren und guten Staat gesehnt, den wir zu Anfang sehr wohl bekommen haben. Doch das System der Regierung hat sich im Laufe der Jahre drastisch verändert. Die Regierung hat absolut jeden unter Kontrolle. Hast du dich nie gewundert, weshalb dir nie irgendetwas Aufsehenerregendes oder Beunruhigendes zu Ohren gekommen ist? Wir Menschen sind nicht so friedlich wie es scheint. Wir haben wilde Emotionen wie Liebe, Angst, Hass und Wut. All das sind Gefühle, die sie nicht kontrollieren können, und die den einen oder anderen dazu bringen, unkluges oder gar grausames zu tun. Es liegt nicht in unserer Natur nur friedlich zu sein, leider. Deshalb sorgt die Regierung einfach dafür, dass die Leute, die sie nicht kontrollieren können, verschwinden. Die Bürger wissen natürlich nichts davon und selbst wenn sie das Verschwinden von jemandem bemerken, wird ihnen eine plausible Erklärung eingetrichtert und sie leben einfach weiter ohne Fragen zu stellen. Selbst die Gene activations sind nur eine weitere Erfindung der Regierung, ein kläglicher Versuch, die grundlegenden Eigenschaften eines Menschen zu ihren Gunsten zu verändern.", erzählte sie. Gebannt hing ich an ihren Lippen und wagte es nicht, sie jetzt zu unterbrechen. Stefany nahm einen großen Schluck aus ihrem Wasserglas und fuhr dann fort. „Die Genactives deiner Generation sind lediglich eine Testreihe gewesen, um zu beweisen, dass es möglich ist, Menschen zu verändern, sie besser zu machen. Doch diese alleinige Testreihe war nicht ihr Ziel. Den Forschern der Regierung wurde nach Abschluss dieser Testreihe bewusst, dass es zwar möglich war intelligentere, hübschere oder allgemein gesagt ‚bessere' Menschen zu erschaffen, aber auch, dass diese selbst unter diesen Umständen nie wirklich berechenbar sein könnten. Deshalb begannen sie anders an die Sache heranzugehen. Seitdem beschäftigen sie sich damit, Menschen zu ihren Gunsten zu verändern, sie kontrollierbar zu machen, indem sie Gefühle wie Angst, Wut, Hass, Liebe, Freude und jegliche andere positive und negative Emotion soweit abzuschwächen, dass man eigentlich kein richtiger Mensch mehr ist. Und das alles nur damit sie uns kontrollieren können, unter dem Vorwand so ein friedliches Da sein zu garantieren. Das ist Projekt Urgent, von dem John eben gesprochen hat." Ich fühlte mich wie erschlagen von Stefanys Worten und deren Bedeutung. Konnte das wirklich wahr sein? Wenn ja, dann war das alles wesentlich schlimmer, als ich gedacht hatte. Ich finde keine Worte für das, was in diesem Moment in mir vorging. „Verstehst du was ich damit sagen will? Die Regierung hat seit ihrem Bestehen nichts anderes getan, als durch grausame Mittel und Wege einen Frieden zu erschaffen, den es nicht geben kann solange die Drahtzieher diese Art von Dingen tun!", sagte Stefany. „Waren dir das für's erste genug Informationen?", fragte sie mich mit einem starren Blick. Ausdruckslos starrte ich sie an, ich konnte nicht fassen, dass das was sie eben erzählt hatte wahr war, auch wenn ich ihr glaubte. Tausend neue Fragen bildeten sich in meinen Gedanken. Ich war unfähig jetzt zu sprechen, deshalb nickte ich nur. Stefany lächelte mich zögerlich an und beugte sich zu mir vor. „Und wirst du deine Aufgabe erfüllen, um alles restliche zu erfahren?" Mein Blick traf ihren und ich wusste, dass ich in diesem Augenblick meine Entscheidung getroffen hatte. „Ja, das werde ich.", sagte ich tonlos.

Die EntscheidungWhere stories live. Discover now