Kapitel 4

44 5 0
                                    


„Wow, was war das denn eben?", fragte mich Cara mit einem geschockt-beeindruckten Gesichtsausdruck. Aus ihrem Gesicht konnte man wirklich wie aus einem Buch lesen, dachte ich. „War es sehr schlimm?", frage ich, inzwischen wirklich verunsichert. Cara fing an zu lachen. „Wie man's nimmt, würde ich sagen. Also ich hätte mich das nicht getraut, glaub mir.", sagte sie. Ohman, ich hatte es wohl wirklich ordentlich verkackt. „Oh scheiße, ich weiß echt nicht was da in mich gefahren ist. Normalerweise bin ich gar nicht so, ehrlich!", erwiderte ich, woraufhin sie nur noch lauter lachte und sich in der Cafeteria mir gegenüber setzte. Total verärgert über mein Verhalten stocherte ich in meinem Kartoffel-Gemüse Auflauf herum, der ganz nebenbei ziemlich widerlich schmeckte. „Heey, Kopf hoch, Haley. John wird sich schon wieder einkriegen, spätestens wenn er sich sein nächstes Opfer raussucht, das schwör ich dir!" „Ja vermutlich, allerdings wird er mich davor ziemlich sicher vor allen anderen peinigen, das schwöre ich dir!", sagte ich missmutig. Meine Laune war definitiv im Keller. Was würden wohl meine Eltern dazu sagen? Das wollte ich mir lieber gar nicht erst ausmalen. Der enttäuschte Blick meiner Mutter, der sich gerade in meinen Vorstellungen abspielte, gab mir einen ziemlich heftigen Stich in der Bauchgegend. „Ach komm schon, ändern kannst du's ja sowieso nicht mehr. Lass uns das Beste draus machen, und falls es dich aufmuntert, ich steh hinter dir.", versicherte Cara mir mit einem aufmunternden Lächeln, was mich tatsächlich dazu brachte, den Mut aufzubringen um in die Trainingshalle zu gehen. Denn wo sie Recht hatte, hatte sie eben Recht. Ändern konnte ich wirklich nichts mehr.

Selbst die Trainingshalle war riesig! Zig Stände mit verschiedenen Waffen und anderen Gegenständen. Als erstes fielen mir die vielen Zielscheiben auf, dann die riesigen Matratzen. „Wie ihr hier seht, gibt es einiges zu erlernen, euch wird also wohl kaum langweilig werden. Heute beginnen wir allerdings erst einmal mit den Grundlagen. Das heißt Nahkampf Techniken. Ich zeige euch erst einmal einige Übungen, die ihr später dann in zweier Paaren selbstständig unter meiner Beobachtung übt, verstanden?", fragte John in die Runde. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Wozu mussten wir all das erlernen? Schließlich lebten wir im Jahr 2068, in dem allgegenwärtiger Frieden herrschte. Es war schließlich schon seit Jahren nicht mehr zu gefährlichen Einsätzen der Beschützer gekommen, oder etwa doch? Auf diesen Gedanken bekam ich direkt eine Gänsehaut. „An dieser Stelle würde ich jetzt eigentlich nach einem Freiwilligen fragen, aber das kann ich mir heute sparen, denke ich. Haley, würdest du bitte vortreten?" Johns eiskalter Blick traf meinen, zugegeben, vermutlich ängstlichen. Scheiße, scheiße, scheiße. Am liebsten würde ich jetzt ‚Ich habs doch gewusst!' zu Cara sagen, aber das wagte ich lieber nicht. Zögerlich trat ich Schritt für Schritt auf die Matte zu John, als mein gegenüber. Ich zwang mich ruhig ein und auszuatmen und bereitete mich auf das allerschlimmste vor - irgendwelche Verletzungen, die seine Rache an mir geltend machen sollten. Ein schalkhaftes Lächeln umspielte seine Lippen. Naja, wenigstens hat er nicht wieder diesen Mörder Blick drauf!, versuchte ich mich selbst aufzubauen. „Seht alle genau hin, wir werden das hier später genau analysieren. Also Haley, greif mich an.", forderte er mich auf. Okay, wenigstens machte ich den ersten Schritt, vielleicht passierte ja auch ein Wunder und ich war ein echtes Naturtalent, sprach ich mir gut zu. Ich trat schnell einen Schritt näher und setzte zu einem Schlag in Johns Magengrube an, der meinen Arm jedoch bereits fest gepackt und mich dermaßen schnell bäuchlings auf den Boden schmiss, dass ich dies erst Sekunden später begriff. Immer noch meinen Arm festhaltend, drehte er ihn unsanft auf meinen Rücken, bis zu dem Punkt, an dem es sehr schmerzvoll zu werden schien. Ich war ein absolut hilfloses Häufchen Elend, welches absolut keine Chance hatte sich irgendwie zu wehren. Seine Knie auf meinen Füßen ließen mir keinerlei Bewegungsfreiheit. Doch wundersamer Weise tat mir nichts weh, was sich aber sicher noch ändern konnte. Er hatte sich so weit zu mir heruntergebeugt, dass seine Lippen mein Ohr striffen, was mich auf keine angenehme Art und Weise erschaudern ließ. „Wähl' deine Worte mit Bedacht, Haley.", hauchte er mir so leise ins Ohr, dass das unmöglich jemand anders hören konnte. Plötzlich lockerte sich der Griff um meinen Arm und auch meinen Füßen wurde wieder Freiheit gewährt. Schnell stand ich auf, sichtlich verwirrt. John hatte mir nicht weh getan, obwohl er die Möglichkeit, das Recht und absolut jeden Grund dazu hatte. Seine Worte eben hallten in mir nach. Dass das, was kurze Zeit früher im Unterricht passiert war, unklug von mir gewesen war, war mir sehr wohl bewusst. Doch war seine Warnung wirklich nur auf meine Aktion vorher bezogen gewesen? Er hatte eben keineswegs mehr wütend gewirkt, merkwürdig. Ich ging zurück zu der Gruppe, die sich inzwischen in zweier Pärchen aufgeteilt hatte. „Okay, also was habt ihr gesehen? Wie bin ich auf Haleys Angriff, wenn man das so nennen kann, eingegangen?", fragte John in die Runde, wieder völlig der alte. Ein Junge namens George meldete sich zu Wort. Ich bekam nur am Rande mit, dass die anderen sich intensiv damit beschäftigten, Johns Gegenwehr zu analysieren und und und. Ich war einfach total verwirrt. Über mich selbst, über John, über meine Ausbildung und das Verhalten meines Vaters. „Erde an Haley? Wir machen jetzt mit den Übungen in zweier Pärchen weiter.", holte mich Cara aus meinen Gedanken. Ich blinzelte einige Male, bevor ich alles vor mir wieder scharf sah. „Willst du's mal mit dem Abwehren versuchen?", fragte sie mich. Ich nickte und wartete auf ihren Angriff, der schneller kam als erwartet. Gerade rechtzeitig wich ich ihr mit einem Hechtsprung zur Seite aus. Dafür rang ich mir ein Lächeln ab. „Freu dich nicht zu früh, Hale.", neckte sie mich spielerisch und sprang sogleich auf mich zu, oder eher auf mich drauf. Zugegeben, das war wirklich zu schnell für mich gewesen. Mit einem Plumpsen fielen wir beide auf die Matte. Doch das hatte anscheinend auch sie überrascht, denn schnell drehte ich mich zur Seite. Gerade als sie sich erneut auf mich stürzen wollte, durchbrach ein schmerzhafter Schrei unsere Konzentration. Reflexartig richtete ich meinen Blick in die Richtung, aus der die Geräuschquelle kam und sah Blondie mit einem schmerzverzerrten Gesicht auf dem Boden liegen. Ich schien nicht die Einzige zu sein, die das Spektakel, welches sich jetzt abspielte, gebannt mitverfolgte. John kam aus der entgegengesetzten Richtung angestürmt und kniete sich neben Blondie. Inzwischen hatten wir wieder einen Halbkreis um die Szene vor uns gebildet. Der Junge namens George, (der mal so am Rande extrem muskulös, groß und auch dementsprechend stark war) stand gegenüber der wirklich schlecht aussehenden (in wie weit das eben bei ihr möglich war) Blondine, dessen Name ich immer noch nicht wusste. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, schien er ziemlich geschockt von sich zu sein. Wie konnte man denn bitte diese beiden zusammen trainieren lassen? Das war doch von Anfang an ein ungleiches Kräftemessen! „Wo tut's dir weh, Catrina?", hörte ich John Blondie fragen, sehr sanft, wohlgemerkt. Sie deutete auf ihr rechtes Bein, mehr brachte sie unter den Schluchzern nicht zu Stande, verständlicherweise. Ich kann dich zwar nicht ausstehen, aber du tust mir wirklich leid., dachte ich und schüttelte schockiert den Kopf. „I-i-ich w-wollte das nicht! Oh Gott, dass tut mir so leid! Ich trag sie zum Krankenflügel!", meldete sich George zu Wort, der immer noch total von der Rolle zu sein schien. Er wollte sich eben bücken, um Catrina (Blondie) wohl hochzuheben, doch Johns wutentbrannter Blick, der eben noch mitfühlend war (das schwöre ich!) hielt ihn davon ab. „Du lässt die Finger von ihr! Sowas kommt nicht wieder hier vor, hast du mich verstanden?! Das hier ist ein TRAINING, keine Ernst Situation, und Catrina ist nicht deine FEINDIN sondern PARTNERIN. HAST DU MICH VERSTANDEN?!" In diesem Moment sogen wir alle die Luft scharf ein, denn das hatte wirklich niemand kommen sehen. John, der sich für Blondie einsetzte (die wohlgemerkt eine Genactive war, die John doch anscheinend nicht ausstehen konnte), schien absolut jeden dazu zu bringen die Luft anzuhalten. George vergrub verzweifelt das Gesicht in seinen Händen, während John Catrina vorsichtig hochhob und sich in Richtung Ausgang aufmachte. „Das Training ist für heute beendet.", rief er uns zu, bevor er durch die Tür trat.

Niemand hatte mehr viel gesagt, bevor wir uns alle auf dem Heimweg gemacht hatten. Wir waren wohl alle ziemlich verstört, vermutlich aus vielen Gründen. Ich beispielsweise, zerbrach mir den Kopf über so ziemlich alles Mögliche, als ich mich gedankenversunken auf mein Bett setzte. Ich rieb mir die Schläfen, mein Denken verursachte mir Kopfschmerzen. So weit war es also schon, und das in meiner ersten Ausbildungswoche. Bisher war ich mir absolut sicher gewesen, dass ich jeden Menschen auf den ersten Blick gut einschätzen konnte. Ich wusste bereits nach den ersten Worten eines Jeden, wie er tickte. Doch jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Wer war John wirklich? War sein kaltes, strenges Verhalten wirklich er? Und wenn ja, wer war dann der John, der plötzlich ehrlich besorgt war, als Catrina heute Nachmittag auf dem Boden gelegen hatte? Der George so dermaßen verurteilt hatte, um sich für ein Mädchen einzusetzen, welches er am ersten Tag bereits als „hübsche dumme Ganactive" abgestempelt hatte? Ich wusste es nicht, und mir das ein zu gestehen, war härter als ich gedacht hatte. John war ein Rätsel für mich geworden, dem ich unbedingt auf den Grund gehen wollte.




Die EntscheidungWhere stories live. Discover now