Zettel.

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Am nächsten Tag war Dylan immer noch nicht da. Vermutlich war er bei Eros geblieben, sogar nachdem er aus der Bibliothek gegangen war und so erbost über ihn gewirkt hat. Aber ich war beruhigt, dass ich jetzt wusste wo er war und dass es ihm gut ging oder er zumindest noch lebte. Nyx fragte mich aus, ob ich ihn gefunden hatte. Aber ich antwortete nur knapp, da ich Angst hatte etwas über sein Geständnis würde mir vielleicht rausrutschen und meine Gedanken darüber fühlten sich noch viel zu ungeordnet an, als dass ich schon mit ihr darüber reden wollen würde. Aus diesen egoistischen Gründen war ich auch etwas erleichtert darüber, dass er heute gar nicht in der Schule war und ich ihm nicht gegenüber treten musste. Ich kam mir nicht ansatzweise dafür gewappnet vor. Alles purzelte in meinem Inneren durcheinander und ich wusste weder, was ich darüber denken noch fühlen sollte.

Aber ich wusste, dass ich mich bei Eros noch bedanken musste. Er hatte einen Streit mit Dylan auf sich genommen, um mich zu ihm zu bringen. Ich schätzte weder ihn noch Dylan als nachtragende Menschen ein, aber es gebot der Anstand. Weswegen ich ganz froh darüber war, als Nyx mir verkündete sie müsse noch etwas im Sekretariat fragen, da sie schließlich auch die Klassensprecherin war.

Es war nicht oft, dass ich alleine durch die Flure lief, die mir mittlerweile vertraut vorkamen, in denen ich mich aber immer noch hin und wieder verlief, und es war noch nie vorgekommen, dass ich durch sie gelaufen und nach Eros Ausschau gehalten hatte. Der kalte Blick, den er mir an dem Tag zugeworfen hatte, an dem er den dunkelblauen Rabenpullover getragen hatte, war genug für mich gewesen, um ihm in Zukunft aus dem Weg zu gehen oder zu ignorieren, sobald ich ihn sah.

Aber ich stellte fest, dass wenn man ihn suchte, es simpler war ihn zu finden, als ich für möglich gehalten hatte. Er stand mit verschränkten Armen und genervtem Blick an eine Heizung gelehnt - ich erkannte sogar noch aus drei Meter Entfernung die grauen Schatten unter seinen Augen und ich fragte mich, was er nachts alles trieb - während Kain neben ihm stand und auf ihn einredete, heute mit einer zur Mitte seiner Schienbeine hochgekrempelten dunkelblauen Jeans und einem grünen Sweatshirt mit einer kuschelig aussehenden, großen Kapuze. Er verstummte und zwinkerte mir freundlich zu, als er mich bemerkte. Eros sah auf, aber die Müdigkeit hatte sogar in seinem Blick die sonstige Distanz und Verachtung gezähmt. Vielleicht hatte er, weil ich ihn am Nachmittag davon abgehalten hatte, seinen Schulkram nachts erledigen müssen, wobei er mir nicht sehr damit beschäftigt vorgekommen war, als ich in den Proberaum gestürmt war und ich fragte mich immer noch, von dem das Lied gewesen war, das er gesungen hatte. Es war nirgends auf YouTube zu finden gewesen und auch sonst nirgendwo.

„Kann ich unter vier Augen mit ihm reden?", fragte ich Kain. Er sah sich auf dem vollen Gang um, grinste dann aber und huschte weg. Neugierde hatte sich mittlerweile mit in die Müdigkeit geschlichen. „Ich wollte mich bedanken, weil du mich zu Dylan gebracht hast." Ich wünschte, er würde seine Arme aus der Verschränkung lösen. Es wirkte wie ein Schutzschild und ich merkte nicht mehr von der Nähe zu ihm, die ich gespürt hatte, während ich gestern schweigend Tanz mit einem ungebetenen Gast und er einen Gedichtband von Christina Rossetti gelesen hatten. „Ich hoffe ihr habt euch nicht noch zu sehr deshalb gestritten." „Er war nicht sauer.", sagte er langsam. Auch wenn es bloß an der Müdigkeit liegen konnte, klang es wie beabsichtigt. „Er war enttäuscht." Nichts konnte vor Erschöpfung in seiner Stimme mehr die Bitterkeit überschatten und sie zeichnete sich auch auf seinem Gesicht ab. Er sah mir nicht einmal direkt in die Augen und irgendwie schmerzte es ihn so zu erleben. Auch wenn wir mehr als ein Thema hatte bei dem wir aneckten und ich ihm schon so oft, so gerne einfach die Meinung gesagt oder ihm in irgendeiner Weise wehgetan hätte, sah ich ihn als Freund an. Bevor ich wusste, wann mein Kopf den Entschluss dafür gefasst oder wann mein Körper sich in Bewegung gesetzt hatte, lagen meine Arme schon um ihn. Ich sah die Überraschung auf seinem Gesicht, ich sah die fadenbreite Narbe, die sich über seinen rechten Wangenknochen zog und ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber ich war überrascht, als ich durch unsere Kleider hindurch spürte, wie viel Körperwärme er abstrahlte. Vielleicht hatte ich wegen seines Verhaltens und seiner Blicke einen Eiszapfen erwartet. Sogar seine Arme lösten sich aus der Verschränkung und ich spürte seine Hände hauchzart, unsicher unterhalb meiner Schulterblätter liegen, als wisse er nicht, was genau mit ihnen zu machen war. Ich fragte mich, wie lange er nicht mehr umarmt worden war. Sein Atem streifte mein Ohr und die Haare, die er in Bewegung setzte kitzelten mich dahinter. Am liebsten hätte ich ihn noch enger an mich gezogen, meine Augen geschlossen und ihn nicht mehr losgelassen. Trotz seiner schmalen Kantigkeit war er angenehm ihn zu umarmen. Er roch auch so anders als Nyx, wobei eine Note von ihrem Duft dabei war. Viel herber.

Wege der Liebe. ~oder wie man eine Horde geisteskranker Jungs überlebt.~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt