Probe.

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Noch bevor mein Wecker klingelte, saß ich kerzengerade im Bett. Gestern war es spät geworden. Nicht bloß weil wir lange im Proberaum verbracht hatten, sondern auch weil ich nicht hatte einschlafen können. Sobald ich zur Ruhe gekommen war, waren die ganzen neuen Eindrücke auf mich eingestürzt. Dylans scheues Lächeln, das Wilde, Angsteinflößende in Eros' Augen, das Lied. Die letzten Worte von Troya. Er hatte seine Jacke geschnappt und war gegangen, aber nicht ohne mich noch einmal anzusehen und zu sagen: „Wir sehen uns morgen zur Probe. Drei Uhr hier. Sei pünktlich." Damit war er aus der Türe verschwunden. Liv hatte mich siegessicher angegrinst und Nyx begeistert gelächelt. Eros war den restlichen Abend und Nachmittag nicht mehr aufgetaucht und als Nyx und ich wieder zurück gefahren waren, hatte ich sie noch einmal danach gefragt. Irgendwie hatte mich seine Abwesenheit genauso beunruhigt wie sonst seine Anwesenheit. Ein paar Sekunden hatte sie bloß auf die vorbei huschenden Grashalme am Wegesrand gesehen und geschwiegen. Als sie geantwortet hatte, sah sie ernst aus. „Ich glaube, er wollte eigentlich singen und Troya lässt ihn nicht." Noch ein paar Sekunden Schweigen. „Dabei ist Troya abhängiger von ihm, als Tee von Troya. Es gibt nicht viele Schlagzeuger hier und erst recht nicht viele, die alle Melodien von ihnen im Kopf und geschrieben haben." Weil ich gar nichts mit Tonleitern und Noten anfangen konnte, fand ich es beeindruckend, dass Eros alle Melodien zu den Songtexten schrieb. Besonders weil ich nicht von ihm erwartet hatte, dass er etwas so Berührendes zu Stande bringen konnte, aber vielleicht hatte ich auch ein falsches Bild von ihm. Ich stand auf und spürte die Aufregung wieder in meinem Bauch. Lest hatte sich bereit erklärt ein zweites Mikrophon zu besorgen. Eigentlich hätte ich auch gerne das Haus gesehen. Von innen. Aber niemand hatte mich danach gefragt und nach Troyas Reaktion auf die Frage, wem das Haus gehörte, traute ich mich nicht mehr zu fragen. Vielleicht war es auch besser so gewesen. Das Haus hatte in den Schatten, den die Bäume zur Zeit der Dämmerung geworfen hatten, bedrohlich gewirkt. Als käme man nicht mehr heraus, wenn man erst einmal hinein ging.

Gerade als ich mit noch feuchten Haaren aus dem Bad kam klingelte es an der Türe. Ich eilte herunter, meinen Schulrucksack über meiner einen Schulter. Nyx strahlte mir begeistert entgegen. Ich lächelte zurück und schloss die Türe hinter mir. „Du bist aufgeregt, oder?", fragte sie statt einer Begrüßung. Ich nickte bloß. „Ich drücke dir die Daumen." Das erste Mal für diesen Morgen sah ich sie direkt an. „Wenn du direkt im Sessel sitzt musst du das nicht." Ihr Lächeln wurde ein wenig schmaler und sie wich meinem Blick aus. Etwas in meinem Bauch zog sich zusammen. Das konnte nichts Gutes heißen. „Ich kann heute nicht mit zur Probe." Etwas in mir erstarrte zu Eis. Sie sah mich wieder an. „Aber die Jungs sind wirklich nett und du wirst bestimmt auch so mit ihnen klar kommen!" Drei von ihnen schienen wirklich in Ordnung zu sein, aber das wurde von Eros und Troyas feindseligen Blicken mehr als ausgewogen. „Und was hast du vor?", fragte ich möglichst zwanglos lächelnd. „Ich hab Training." Sie strich sich eine ihrer rabenschwarzen Strähnen aus den Augen. „Was für Training?" Am liebsten hätte ich mich an sie geklammert und mit mir zur Probe geschleift. „Ich fechte.", sagte sie entschuldigend lächelnd. Ich nickte und starrte auf den Gehweg vor mir. „Jetzt schau nicht so enttäuscht! Keiner von denen wird dich beißen." Ich sah auf. „Dein Bruder sieht aus, als würde er es ohne zu zögern tun." Nyx grinste, aber es sah nicht so spitz und gefährlich aus wie das von ihrem Bruder. „Er kann das gut, gäh?" „Das ist ja das Angsteinflößende." Sie zuckte mit den Schultern. „Du solltest dir wegen ihm keine Gedanken machen. Er ist zu jedem so." Was ihn auch zu einem viel sympathischeren Zeitgenossen machte. Ich seufzte. „Und was ist mit Troya?" „Naja. Er ist normalerweise nicht so ein Zuckerpüppchen, aber wenn es um die Band geht..." Sie suchte nach Worten. „...ist er schnell aus der Ruhe zu bringen." Ich fragte mich, wie er war, wenn er einen nicht feindselig versuchte mit Blicken zu erdolchen.

Der Vormittag ging gleichzeitig zu schnell und zu langsam um. Es kam mir vor, als würde ich jede halbe Sekunde auf die Uhr sehen und doch flog die Zeit nur dahin. Die Aufregung und Nervosität fraß Löcher in meinen Magen und meinen Verstand. Ich konnte mich nicht konzentrieren und bekam bloß die Hälfte vom Unterricht mit. Am Ende des Tages, nachdem die Schulglocke geläutet hatte, konnte ich mich nicht einmal mehr an die Namen der neuen Lehrer erinnern. Nyx merkte es mir an und versuchte mich so gut sie konnte abzulenken. Aber als sie nach der Schule nach Hause musste und nachdem ich nach Hause gekommen war und zu Mittag gegessen hatte, zogen sich die Sekunden wieder unendlich lang. Was wenn ich den Weg nicht fand? Oder zu spät kam? Wenn ich keinen Ton rausbekam? Auf dem Schulflur war mir Eros begegnet. Groß, dunkel und bedrohlich wie jedes Mal. Daran hatte auch nicht das Licht der frisch aufgegangenen Sonne irgendetwas geändert. Er hatte eine schwarze Jeans und ein dunkelblaues Sweatshirt mit dem Emblem einer anderen Schule angehabt und uns bloß verächtlich einen Blick zugeworfen, obwohl Nyx seine Schwester war. Die meisten Leute auf dem Flur waren ihm ausgewichen. Die Begegnung hatte mich nicht gerade beruhigt. Er wirkte wie ein schwarzer Schatten, der jeden Fehler, den ich bei der Probe machen würde, und das würden bestimmt viele sein, sehen und mich dafür verurteilen.

Wege der Liebe. ~oder wie man eine Horde geisteskranker Jungs überlebt.~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt