Konzert.

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Ich hatte diese Nacht nicht genug Schlaf abbekommen. Als ich am Morgen den Wecker ausschaltete, fühlten sich meine Augen zugeschwollen und meine Glieder bleischwer an. Die Gewissheit lastete auf mir, dass heute nichts scheitern durfte. Schnell packte ich meine Dinge zusammen, ein paar Kleidungsstücke und ein wenig Schminke, dazu die Songtexte, auch wenn ich das Gefühl hatte, die Hälfte vergessen zu haben und holte mein Fahrrad. Der Gig begann erst um vierzehn Uhr, aber Nyx hatte angeboten, dass ich zu ihr könne und sie mich hübsch machte. Ein wenig Ablenkung, statt zu Hause alleine herum zu sitzen und nervös meine Nägel mit meinen Zähnen zu malträtieren schien mir eine gute Idee. Sie hatte mir die Adresse gegeben und da ich sowieso zu früh dran war, verzichtete ich auf das GPS-System meines Handys, sondern fragte mich durch, wenn ich gar nicht weiter wusste. In einer dunklen Ecke in meinem Magen lauerte die flatternde Aufregung und ich zwang mich dazu, nicht zu viele Gedanken an sie zu verschwenden. Als ich in eine Gegend fuhr in denen die Gärten wie Parks wirkten und alle Häuser wie Villen aus alten Zeiten, mit grazilen Säulen und schönen Balkonen, dachte ich, die letzte ältere Frau mit der Katze auf dem Arm, habe mich fehl geleitet, aber da las ich die weißen, erhabenen Buchstaben auf dem Straßenschild. Queen Victoria Street. Und tatsächlich erinnerten die aneinander gereihten Häuser, die für so viel Wohlstand und strenger Verspieltheit sprachen an die viktorianische Zeit. Staunend hielt ich vor der Villa neben deren kirschroter Türe, die Nummer 16 in messingfarbenen Lettern angebracht worden war. Ein penibel gepflegter Rasen, säumte den Weg, der zu der Treppe führte, auf deren Stufen sich Blumentöpfe aneinanderreihte und deren Geländer aus schwarzen, schmiedeeisernen Ranken bestand, die vor der Haustüre endete. Die Wände der Villa waren in einem Lichtblau gestrichen, das im Gegensatz zum knalligen Farbton der Türe wie verblasst wirkte. Bleiverglasungen, Erker und bauchige Geländer, die sich um Balkone mit mehr Blumentöpfen und kleinen Tischen mit Sitzgelegenheiten wanden, verstärkten den Eindruck der verspielten, strengen Schönheit des Hauses. Ehrfurchtsvoll schob ich mein Fahrrad darauf zu. Noch bevor ich die erste Stufe zur Treppe hochgehen konnte, wurde schon die Türe geöffnet. Im Inneren klingelte ein helles Glöckchen, gegen das der obere Rand der Türe gestoßen war. Nyx strahlte mich an. Sie sah noch schöner aus als sonst. Ein marine blaues Kleid umschmeichelte ihre Figur, wobei der Rock auffallend voluminös war und ihre Haare waren aufwendig hochgesteckt, wobei es aussah, als hätten sich die Strähnen durch langes Tragen gelöst. Ihre Augen schienen von der Schminke dezent betont, mit ihren weißen Zähnen um die Wette zu funkeln. „Stell dein Fahrrad einfach fort ab." Ich bemerkte die verwegenen knöchelhohen Stiefel an ihren Füßen, die das ganze abrundeten und sie gleichzeitig wie eine märchenhafte Gestalt verwandelten. Als könnte sie gleich in ein Duell verwickelt oder von einem schönen Prinzen entführt werden. Schnell trat ich den Ständer des Fahrrads aus und stellte es an die Stelle, an die ihr Finger gezeigt hatte ab. „Komm rein." Sie trat zur Seite und hielt mir die Türe auf. Aber bis auf die Haustüre schien es keine weiteren Türen im Erdgeschoss zu geben. Bloß durch ein paar zerbrechlich aussehende, weiße Säulen getrennt begann sofort ein weitläufiges Wohnzimmer, das mit hellem Parkett ausgelegt und mit Regalen und mit schönen Stoffen bezogenen Sesseln und Sofas eingerichtet war. Mit einer abfallenden Stufe führte es zu einem massiv, hölzernen Esstisch auf dem eine ausladende Obstschale mit Granatäpfeln und Orangen stand, an das eine große Küche anschloss, deren Herd sich genau in der Mitte befand. Die drei Räume waren in einem Viereck angeordnet, sodass man vom Eingang aus in jeden gelangte. In einer Ecke schwang sich eine Wendeltreppe hoch in das nächste Stockwerk. Genau auf diese Treppe führte Nyx mich zu. Zum einen fühlte ich mich in der teuer aussehenden Umgebung fehl am Platz und zum anderen vollkommen wohl. „Oben ist ein Bad, das Schlafzimmer unserer Eltern und die Bibliothek, darüber noch ein Bad Herakles' und Eros' ehemaliges Zimmer und unterm Dach befindet sich meins." Sie lächelte und begann den Aufstieg. Überall waren die Fußblöden mit dem Parkett ausgelegt und am liebsten hätte ich jede Türe aufgerissen und jede Ecke und jeden Winkel des Hauses erforscht. Die Stimmung von alt und neu, die sich durch alle Stockwerke zu ziehen schien, war wie eine Welle, die einen ergriff und mit sich riss. Mit sich in eine vollkommen neue Welt. Doch zwei der Stockwerke dieser Welt streifte ich bloß, bis ich mich in einem sonnendurchfluteten hellen Raum befand. Es war eine andere Art von großen Fenster und viel Himmel als bei Mr. Gages Klassenzimmer und dem Proberaum. Kein stahlgrauer, unendlicher Himmel, kein raschelndes, flüsterndes Blätterdach. Bloß ein paar helle Holzstreben, die alles zusammenhielten und in acht symmetrische Teile teilten. An einer Wand stand ein Himmelbett. Alles war weiß und dunkelrot und kraftvoll und pulsierend und wild und schön und gemütlich. Bücher, Schreibtisch, Fotos, eine Couch mit golddurchwirktem purpur Stoff, Kleiderkiste, statt Kleiderschrank. Alles in die schräge Enge unter dem Dach gequetscht und doch vollkommen losgelöst und frei und locker. Es erinnerte mich an das Baumhaus, das ich mit Kyle gebaut hatte, als wir Kinder gewesen waren. Alles war beengt gewesen, vielleicht auch ein wenig zu klein, aber es hatte uns gehört und wir hatten daraus unser Paradies gemacht. „Also dann beginnen wir mal. Was hast du mitgebracht?" Sie sah neugierig zu meiner Tasche. Ich zuckte bloß mit den Schultern. „Nicht viel." „Breite es einfach aus!" Sie deutet auf die Teppichfläche vor ihrem Bett. Ich setzte mich im Schneidersitz hin und zog ein Kleidungsstück nach dem anderen hervor und darauf folgte die Schminke. Sie setzte sich zu mir. Als alles auf dem Boden lag, zwei Hosen, ein Rock, ein Kleid und viel zu viele Oberteile, aber ich konnte mir nicht vorstellen mich auch nur in einem von ihnen gewappnet genug für so viele Menschen zu fühlen. Langsam spürte ich wieder die Aufregung, die sich durch meine Eingeweide fraß, die ich für einen Augenblick, während des Eintauchens in die neue Welt, beinahe vergessen hätte. Nyx junge Stirn lag in Falten. „Also..." Sie nahm eine Hose. Dunkelblauer Jeansstoff und Boyfriendschnitt. „Nicht passend." Sie griff nach einem Oberteil mit Pailletten. „Zu glitzrig." Sie legte die aussortierten Kleidungsstücke neben sich. „Du brauchst etwas, das zu der Stimmung der Lieder passt. Da kannst du nicht mit orangenen..." Sie legte ein knalliges Tank Top zur Seite. „...und gelben..." Der Pullover vom ersten Schultag folgte den restlichen Kleidern. „...Klamotten auftauchen. Sie sortierte alles heraus, das ihr nicht passend erschien, manche Dinge betrachtete sie zuerst eingehend, bevor sie auf den wachsenden Berg landeten. Schlussendlich lagen noch das Kleid da, es war das anliegende, gerippte, graue, das ich schon einmal zur Probe getragen hatte und ein schwarzer Faltenrock. „Ich glaube du müsstest auch in Klamotten von mir reinpassen.", sagte sie und stand auf. „Welche Schuhgröße hast du?" Ihre Stimme drang nur gedämpft durch die schön geschnitzten Wände der Kleidertruhe zu mir. „Fünf bis sechs.", sagte ich kritisch und beobachtete sie. „Perfekt." Sie kam mit einem Arm voll mit schwarzen, grauen und blauen Klamotten und einem Paar graziler Lederstiefelchen auf mich zu. „So. Aufstehen." Sie lächelte zu mir herunter und schien vollkommen in ihrer Rolle als Modeberaterin aufzugehen. Ich kam ihrer Aufforderung nach. „Und jetzt ziehst du das hier an." Sie drückte mir eine schwarze Strumpfhose in die Hand, die ein schönes Lochmuster aufwies. „Aber..." „Hopp, hopp, hopp!", unterbrach sie mich. Skeptisch zog ich mein T-Shirt und die Jeans aus und schlüpfte in die Strumpfhose. Zum Glück passte sie. „Und jetzt das." Sie warf mir das Kleid in die Arme, während sie den Haufen ihrer Kleider auf dem Bett auseinanderzupfte und das passende suchte. Ich zog es mir über den Kopf und sie musterte mich zufrieden. „Das ist ein guter Anfang. Zieh die an." Sie reichte mir die Schuhe. Das Leder schmiegte sich weich und kühl an meine Füße. „Und jetzt..." Ihre Augen huschten über die Kleider auf ihrem Bett, als suche sie etwas. Das tatsächliche Ausmaß meiner Nervosität wurde mir bewusst, als unter uns jemand gegen eine Türe haute und ich zusammenzuckte, als sei es eine einschlagende Bombe. „Ich muss ins Bad!" Das war Eros' Stimme. Es überraschte mich ihn hier zu hören. „Ich bin in zwanzig Minuten fertig.", erwiderte Herakles ungerührt. Es klang gedämpfter. „Und ich muss in fünfzehn los!" Auch Nyx hatte inne gehalten und lauschte. „Wieso duschst du nicht in deiner Villa?", fragte Herakles verächtlich. „Weil das Wasser nicht funktioniert!" Eros klang bissig und genervt. Ich musste an den Spruch an seiner Pinnwand denken. „Das ist aber schade." Man hörte das gespielte Bedauern in Herakles Stimme und dann das Rauschen von Wasser. Ein dumpfes Geräusch, das wie ein Tritt gegen die Türe klang. „Du könntest wenigstens mal so tun, als würdest du nicht davon ausgehen, dass sich alles um dich dreht!" Stapfende Schritte auf der Treppe. Nyx seufzte und sah aufmerksam zur Türe in meinem Rücken, noch bevor die Türklinke herunter gedrückt wurde und sie mit zu viel Schwung gegen die Wand hinter ihr schlug. Eros' Augen blitzten wütend. „Kann ich dein Bad benutzen?" Seine Stimme zitterte empört. Seine Finger bohrten sich in den Stoff der Kleider in seinen Armen. Ich fragte mich, ob sie nach dem Gespräch von gestern schon Sätze miteinander gewechselt hatten. „Aber zerbreche nichts." Die Türe schlug hinter ihm wieder zu. „Er wohnt auch hier?", fragte ich überrascht. Nyx nickte mit einem zu schmalen Lächeln. „Ja. Unseren Eltern ist es egal, wo er ist." Das klang härter und herzloser, als sie es vermutlich gemeint hatte. „Habt ihr euch noch ausgesprochen?" Sie beugte sich über die Kleider auf ihrem Bett. „Ja." Meine Stimme klang zögerlich: „Und hast du dich entschuldigt?" Sie seufzte. „Ich weiß, dass ich überreagiert habe und unfair ihm gegenüber war, Lilia." Es schien sie wirklich getroffen zu haben, dass ihr das alles herausgerutscht war. „Aber ich kann Kain nicht ausstehen. Er ist vorlaut und ermutigt Eros zu Schwachsinn." Irgendwie hatte ich das Bedürfnis Eros und seine Freunde in Schutz nehmen zu müssen. „Aber vielleicht hat er ja Recht und Kain macht einfach bloß..." „Lilia." Ihr Blick ruhte ruhig und fest auf mir. „Ich will nicht auch noch mit dir darüber diskutieren. Tee und ich konnten uns noch nie bei unseren Freunden einig sein. Er konnte auch Jordan nie ausstehen." Ich nickte und schwieg. Das war vermutlich tatsächlich etwas, zwischen ihrem Bruder und ihr. „Probiere mal das hier." Sie hielt mir etwas hin, das mattschwarz schimmerte. Als ich es entgegen nahm, erkannte ich die Struktur von Leder. Zögernd zog ich sie über. Sie betrachtete mich eingehend und schüttelte den Kopf. „Dann das." Etwas anderes, ebenfalls Schwarzes hing vor mir in der Luft. Eine bis zur Taille reichende Strickjacke, die wie eine Bikerjacke geschnitten war. Ich zog sie mir über und sie lächelte verzückt. „Das sieht süß und verwegen zugleich aus. Perfekt." Ich wollte in den mannshohen Spiegel sehen, aber sie schob mich in eine andere Richtung und drückte mich auf einen Hocker mit buntem Kissen. „Jetzt wirst du erst gestylt und geschminkt."

Wege der Liebe. ~oder wie man eine Horde geisteskranker Jungs überlebt.~Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt