21. Verfroren

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"Fin, darf ich dich was fragen?"
"Ja, was immer du willst."
Wir gingen noch immer an Bäumen vorbei und hatten, seitdem wir die Grotte hinter uns gelassen hatten, kaum ein Wort miteinander gesprochen, da ich zu beschäftigt damit gewesen war, über das Mädchen im Wasser und dem Traum nachzugrübeln. Ich wollte einfach mehr herausfinden. Wer war sie? Warum wollte sie mich von Finlay fern halten? Und vor allem: Warum sah nur ich sie? Ich hatte zwar ein paar Theorien im Kopf, jedoch kamen sie mir absurd vor. Dennoch musste ich es wagen, Finlay danach zu fragen.
"War deine Schwester sehr wütend auf dich, als sie davonlief?", fragte ich ihn also scheu aber wohlwissend, dass ich seine gute Laune verderben könnte. Finlay war überrascht, als ich seine Schwester erwähnte, aber er antwortete ohne zu zögern.
"Sie war wütend, aber ich glaube, dass sie es nicht nur auf mich war. Warum?"
"Ähhh, du weisst ja", zögerte ich, weil dieses Thema sehr heikel werden konnte, "ich habe doch erst kürzlich das Mädchen in meinem Spiegelbild im Wasser wiedergesehen... Was, wenn es Erylis war?"
Ich schluckte und war auf alles gefasst, jedoch bleib Fin weiterhin ruhig und zeigte keinerlei Veränderungen in seiner Laune.
"Glaubst du? Wie hat sie denn ausgesehen?" Es war klar, dass er nicht überzeugt war.
"Sie hatte blondes Haar, blaue Augen und beim zweiten Mal hatte sie ein weisses Kleid an. Sie musste um die zehn bis zwölf Jahre alt gewesen sein." Bei diesen Worten blieb Finlay aber abrupt stehen und bestätigte dabei meine Befürchtungen.
"Das ist unmöglich...", hörte ich ihn leise murmeln und sein Blick blieb an einem Punkt in weiter Ferne hängen.
"Glaubst du, dass sie ein Geist ist?", konnte ich mich nicht abhalten nachzuhaken.
"Nein, Keitha, sie kann das unmöglich sein..." Er sah mich mit entsetzten Augen an und auf einmal hatte ich eine Gänsehaut am Rücken, da mir der Traum wieder in den Sinn kam.
"Geister gibt es nicht! Man kann nicht vom Tod zurückkehren", meinte er mit einer Stimme, die unheimlich tief klang. Ich weiss nicht warum, aber Finlay jagte mir in diesem Moment irgendwie Angst ein.
"Aber die Beschreibung stimmt mit Erylis überein, nicht wahr? Es könnte doch durchaus sein...", erwiderte ich.
Er nickte, wandte seinen Blick aber nicht von mir ab.
"Ich bin schon viele Male hier gewesen und eines ist mir klar geworden: Der Wald spielt mit dir, Keitha. Du siehst Visionen von Menschen, die du liebst und Angst hast, sie zu verlieren. Oder wenn du unbedingt etwas finden willst, bist du im Glauben, es  gefunden zu haben. Ich weiss, es klingt absurd, aber falls es wirklich Erylis war, dann war sie nicht real."
Das ergab keinen Sinn für mich. Ich hatte Erylis nur einmal kurz gesehen und das war vor sechs Jahren gewesen. Warum sah ich sie also trotzdem, obwohl ich sie nicht kannte?
"Ich glaube aber, dass sie sehr real war. Fin, sie konnte dich berühren und hat versucht, dich ins Wasser zu ziehen" versuchte ich erneut, ihn zu überzeugen.
"Dann war es kein Geist!" Er schüttelte heftig den Kopf. "Und vor allem würde sie mir kein Haar krümmen wollen, das passt einfach nicht zu ihr. Na klar, sie war wütend auf mich, aber dafür würde sie mich niemals umbringen wollen. "
Er setzte sich wieder in Gang, als wäre diese Angelegenheit somit geklärt.
„Aber...wie kannst du dir so sicher sein?", protestierte ich und ging ihm schnellen Schrittes nach, sodass ich ihm in die Augen schauen konnte. „Willst du mir etwa sagen, dass meine Schwester tot ist? Warst nicht du es, die die Hoffnung nicht verlieren wollte?", brummte er und Falten bildeten sich auf seiner Stirn. Ich schauderte, als mir bewusst wurde, was das wohlmöglich zu bedeuten hatte. Falls das Mädchen wirklich Erylis war und sie tatsächlich tot war, was war dann mit meinem Vater? War er ebenfalls tot?
„Es tut mir Leid...", war das Einzige, was ich mich traute zu sagen und damit war das Thema endgültig abgeschlossen. Nur zu schade, dass wir beide nicht wussten, wer das Mädchen in Wirklichkeit war. Ich konnte aber das dunmpfe Gefühl nicht loswerden, dass ich meinen Vater nie mehr sehen würde.

„Spürst du das auch?" Die Schatten der Bäume waren inzwischen grösser geworden und das schwache Licht deutete darauf hin, dass der Tag sich wieder dem Ende näherte. Die Pflanzvielfalt war atemberaubend und wieder hatte ich meine Augen nicht davon abhalten können, alles zu bewundern. Unterdessen gab der Wald ein eher düsteres Bild von sich. Die Bäume waren riesig: Ich hätte sie auf über 20 Meter Höhe geschätzt und mehrere Male hatte ich geglaubt, seltsame Kreaturen gesehen zu haben, die in den Baumkronen hausten und immer dann schnell verschwanden, wenn ich zu lange zu ihnen hinaufstarrte. Finlay hatte mich mehrere Male hinter einen Baum gezogen oder die Richtung unseres Weges geändert und ich hatte mich gefragt, ob er wohl etwas gesehen hatte. Als ich ihn dann aber gefragt hatte, was los sei, hatte ich nur ein „pschh" als Antwort gekriegt und ich konnte nicht verstehen, was uns auf den Fersen war. Trotz all diesem Verstecken, hatte ich kein bisschen Angst gehabt, was einfach überhaupt nicht zu mir passte. Irgendwie hatte ich ein unerklärlich grosses Vertrauen in Finlay, obwohl mir das Mädchen klar und deutlich das Gegenteil zu sagen versucht hatte. Er ist mein Schutzengel, hatte ich mir immer gesagt, und ausserdem ist das noch lange nicht so schlimm, wie ganz alleine zu sein...
„Was?", flüsterte er, als wir uns wieder hinter einem großen Baum versteckten, da Fin erneut etwas gesehen haben wollte. „Diese Kälte. Es ist in den letzten Minuten plötzlich so kalt geworden."
„Ja, ich spüre es auch", meinte er beunruhigt.
„Was hat das zu bedeuten?", fragte ich ihn, als wüsste er einfach alles bis ins letzte Detail über diesen Wald.
„Ich weiss es nicht", gab er zu meiner Überraschung zu. Tatsächlich war es inzwischen so kalt geworden, dass unser Atem sichtbar wurde. Ich, mit meinem dünnen, durchlöcherten Hemd und zerlumpten Hosen, sowie den alten Schuhen, konnte dieser Kälte nicht standhalten und Finlay schien auch mit seiner dunklen und gebrauchten Lederjacke kalt zu kriegen. „Ich will nur weg von hier", schlotterte ich und er widersprach mir nicht.
Wir rannten los. Aber wir konnten der Kälte nicht entweichen. Im Gegenteil, sie wurde bei jedem Schritt schlimmer. Inzwischen waren die Blätter mit einer dünnen Eisschicht bedeckt und der Waldboden war hart geworden.
Mehrere Male stolperte ich tollpatschig über eine Wurzel und Finlay musste mich aufhelfen, sonst wäre ich liegen geblieben und wahrscheinlich eingeschlafen. „Wwwwwir ddddddürfen nnnnnnicccht auffffffffhörrrren zuuuuu rennnnen", schlotterte er vor Kälte und stiess mich weiter, sodass ich gar nicht erst in Versuchung kommen konnte. Sein Gesicht war blass und auch meine Haut war von der Kälte weisslich geworden. Da ergriff mich die Panik und ich zog Finlay an mich heran und klammerte mich fest an ihn. „Ichhhhh willlll nnnnnnicht errrrrfrieeeeren!", jammerte ich und umarmte ihn schluchzend. „Scccchhhhhonn ggggggut", tröstete er mich und tätschelte meine Schulter, als könnte er mich dadurch aufwärmen. „D...dddu sschaffst dddas!" Er wollte mich weiterstossen, aber ich konnte mich nicht mehr vom Fleck rühren, sondern zitterte vor Kälte und Angst. „Kkkkkommm schhhhhhhon". forderte er mich auf, aber ich schüttelte heftig den Kopf. „Mirrrrr ist soooo kkkkalt und ich bbbbin soooo müüüüde", jammerte ich weiter. „SSSSei stark!", versuchte er es weiter und er sah nun schon fast wie ein Geist aus vor Blässe. Widerwillig schwankte ich weiter, obwohl ich keine Hoffnungen mehr hatte. „BBBald wwwwwird's bbbbesser", schlottere er weiter, um mir Mut zu machen. Ich sah ihn verzweifelt an. Seine gelben Augen waren nicht wie alles um mich herum farblos geworden, sondern waren im ganzen Weiss ein schöner Kontrast, was mir auf unerklärliche Weise tatsächlich wieder ein wenig Mut machte. Es gelang mir, mich zusammen zu reissen und weiter zu stapfen. "Ohhhh" schnaufte ich plötzlich auf. „Schhhhhau dort!", ich deutete in die Richtung, aus der ein Licht erschienen war und mir auf unerklärliche Weise ein bisschen Wärme bot. „Wwwwwir mmmmüsssen ddddort hhhhhin!" meinte ich hoffnungsvoll und huschte davon, Finlay mir dicht folgend.
Das Licht wurde mit jedem Schritt grösser und greller und mir wurde auch immer wärmer. Nur zu gerne wollte ich herausfinden, was es mit diesem Licht auf sich hatte. Konnte es uns aus unserer misslichen Lage retten? Als das Licht so grell geworden war, dass ich mit meiner Hand meine Augen verdecken musste, wurde mir klar, dass es vielleicht doch nicht unbedingt nur Gutes bedeuten konnte. Immer mehr wurde die Welt um uns herum weiss wie Schnee und dadurch sah ich immer weniger. Ich blinzelte, als könnte dies meine Sicht bessern, dann stolperte ich wieder über eine Wurzel und fiel schmerzhaft zu Boden. Der Schmerz in meiner Schulter war zurückgekehrt. Mit zusammengebissenen Lippen und geschlossenen Augen, verharrte ich so für eine Weile, bis der Schmerz verschwunden war und rappelte mich danach langsam wieder auf. Ich stutzte. Das grelle Licht, Finlay wie auch die Kälte waren wie vom Erdboden verschluckt.
Wo waren sie geblieben? War das Licht nur eine Einbildung gewesen? Ich konnte es mir einfach nicht erklären. Die Bäume um mich herum raschelten im sanften, aber heftiger werdenden Wind, und gaben nicht Anschein von sich, noch vor ein paar Sekunden in Eis verfroren gewesen zu sein. Da stimmte eindeutig was nicht. Oder war ich verrückt geworden? Komplett verloren sah ich mich um. Der heftige, heulende Wind und die einbrechende Abenddämmerung verschlimmerten die schon vorhandene düstere Stimmung, was mich sehr nervös machte. ‚Ich muss sofort wieder Finlay finden', dachte verzweifelt und drehte mich mehrmals um mich selbst, in der Hoffnung, Finlay hinter einem der Bäume zu erhaschen.
Tick, Tick, Tick...
Ein leises Ticken lenkte meine ganze Aufmerksamkeit auf sich.
Tick, Tick, Tick...
Was war das nur? Es huschte mir kalt den Rücken runter.
Tick, Tick, Tick
Ich konnte danach Ausschau halten, aber ich konnte nicht rausfinden, von wo dieses Ticken kam.
Tick, Tick, Tick....
Es hörte sich wie Wassertropfen an...
Tick, Tick, Tick..
Nach dem Ticken richtend, schlich ich auf einen der Bäume zu.
Tropf, Tropf, Tropf...
‚Klar und deutlich Wassertropfen und es wird lauter', dachte ich und näherte mich weiterhin nervös dem Geräusch. An einem Baum lehnend lag undeutlich eine Gestalt, sie rührte sich nicht und bei jedem Schritt, den ich tat, schlug mein Herz schneller.
Tropf, Tropf, Tropf...
Das Tropfen kam eindeutig von dieser Gestalt. Nein, es konnte unmöglich lebendig sein, sonst hätte sie sich gerührt.
Tropf, Tropf, Tropf....
Ich schrie. Das schrecklichste Bild präsentierte sich meinen Augen: Am Baum lag niemand anders als Konnor, tot und mit offenen Wunden, seine Augen vor Schreck weit aufgerissen. Ein Arm war abgerissen und das Tropfen war das Blut, das am Armstumpf herausfloss und sich in einer inzwischen grossen Blutlache sammelte.
„Konnor, Nein!", kreischte ich und Tränen flossen meine Wangen hinunter. Mir wurde bei diesem Anblick übel. Ich sah weg. Jedoch lag genau in dieser Richtung Cronan, der in einem ähnlichen Zustand den Tod gefunden hatte. Ich schrie nur noch gellender und fiel qualvoll auf die Knie. Wer hatte das nur getan? Oder bessergesagt: Was. Schlotternd umklammerte ich meine Knie und wippte verstört hin und her, das Schreckensbild brannte sich tief in meine Seele rein und versicherte mir dabei unwiderruflich, dass ich es nie vergessen würde.

KeithaWhere stories live. Discover now