5. Freund oder Feind

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Sofort nahm ich die Verfolgung auf, soweit es eben ging. Es war eigentlich unmöglich, einen immer kleiner werdenden Punkt am Himmel nicht aus den Augen zu verlieren. Und wirklich folgen konnte ich ihm logischerweise auch nicht. Dafür hätte ich noch ein paar Flügel und sicher drei Fluglektionen gebraucht. Trotzdem wandte ich mich in Richtung Berg, in jene, in welche der Vogel verschwunden war, und marschierte verärgert los. Etwas anderes konnte ich ja nicht tun, nichts hätte meine Lage wirklich verbessert, ich war ja schliesslich mitten im Nirgendwo gelandet und musste nun zusehen, wie ich wieder von hier wegkam. Während ich schnaufend zum Berggipfel hinaufkletterte, huschten unbeantwortete Fragen durch meinem Kopf: Was hatte das alles bloß zu bedeuten? Warum stahl ein Adler mein ganzes Hab und Gut? Wo war Konnor? War er in all das involviert? Aber ich konnte keine Antworten finden. Nichts schien überhaupt einen Sinn zu ergeben. Noch nicht. Also denk an etwas anderes, befahl ich mir selbst und sofort dachte ich an den liebevollen Blick, den der Adler mir zugeworfen hatte. Dieser Blick! Niemand hatte mich je so angesehen. Mein Herz fing an, schneller zu pochen und ich verjagte diese Erinnerung wieder aus meinem Gedächtnis. Ausgerechnet ein Adler sollte Liebe für mich empfinden. Na danke aber auch! Als wären die Menschen allesamt unfähig dazu... Der Pfad war inzwischen steiniger und rauer geworden, was mich nur noch mehr verärgerte, da meine schon löchrigen Schuhe sich mit Sand und kleinen Steine füllten und meine Füsse wund rieben. Ich blieb stehen und blickte nach vorne. Es wurde nur noch steiler. Wollte ich mir das wirklich antun? Eine andere Möglichkeit hatte ich ja: In die gegengesetzte Richtung gehen. Ich schüttelte nur den Kopf. Ich wollte noch nicht aufgeben. Also setzte ich mich wieder in Bewegung und hoffte, dass der Berg mich aus meiner miserablen Lage rausbringen würde.

Die ersten Sterne funkelten schon am Himmelsrand, der blutrot von der Sonne gefärbt langsam die Nacht empfing, als ich endlich bei der Bergspitze ankam. Meine Beine und vor allem meine Füsse protestierten schmerzlich und konnten mich kaum mehr tragen. Ich liess mich müde auf den Boden sinken. Den ganzen Tag über hatte ich ohne zu essen oder zu trinken überstanden, jedoch glaubte ich kaum, dass mein Körper das noch weitere Tage aushalten würde. Ein tiefer Seufzer entwich mir und ich dachte an Konnor. Wo er wohl war? Und die anderen hatten wahrscheinlich den Diamanten verkaufen können. Oder auch nicht, denn plötzlich wurde mir klar, warum Konnor verschwunden war. Er hatte den Diamanten von Jefferson geklaut und war ohne mich abgehauen. Nein, rief ich mich verzweifelt zur Vernunft, denn er würde mich niemals in Stich lassen. Was auch immer Konnor getan hatte, es war im Moment sowieso egal, da ich mich Kilometer weit entfernt von Behrdorf befand und mir nicht mal sicher war, ob ich in die richtige Richtung ging. Ich rappelte mich wieder auf, mein Körper von den Zehenspitzen bis zum Kopf protestierend und ging weiter. Auf einmal sah ich nicht all zu weit von mir entfernt ein schwaches Licht funkeln. Es musste ein Lagerfeuer sein. Und wo Lagerfeuer waren, waren auch Essen und Wasser. Ich beschleunigte meine Schritte und stolperte dabei einmal fast über die Wurzel eines alleinstehenden Baumes. Der Weg war eindeutig angenehmer, da es nun endlich wieder bergab ging und nach einigen Minuten hatte ich schon fast die Stelle erreicht. Leise drangen zwei zueinander sprechende Stimmen durch die Nacht. Ich konnte nichts verstehen, aber mir kam es vor, als ob ich die eine Stimme schon einmal irgendwo gehört hätte. Sei Vorsichtig!, dachte ich und schlich auf Zehenspitzen weiter zu einem Baum in der Nähe der Feuerstelle. Ich spähte über eine Astgabel auf die Feuerstelle und die zwei danebenstehenden Männer hinüber und als ich erkannte, wer sie waren, sank mein Herz zu Boden. Es waren die zwei Ritter, die ich mit Konnor am letzten Markttag bestohlen hatte. Wie zur Hölle kamen sie bloß hierher? Die beiden schienen mich noch nicht bemerkt zu haben, denn sie waren damit beschäftigt, die Hand des Blonden zu betrachten. Oder vielmehr was diese hielt. In ihr war anscheinend etwas und sie diskutierten in einer merkwürdigen Sprache miteinander. Sofort ergriff mich die Neugierde. Ich wollte sehen, was der Blonde in der Hand hielt.
Doch dazu kam es nicht, denn der Dunkelhaarige hatte mich entweder gehört oder besass die unerklärliche Fähigkeit, mich zu erspüren. Zum zweiten Mal in dieser Woche drehte er sich nun zu mir um, ein breites Lächeln auf seinem Gesicht. "Da haben wir doch die Lösung zu unserem Problem", sagte er zum Blonden in für mich wieder verstehbarer Sprache, "Die Diebin ist hier!" Ich erstarrte vor Schreck. Das konnte doch nicht wahr sein! Warum passierte mir das immer? "Komm doch raus, Kleine, wir tun dir nichts", meinte der Dunkelhaarige seltsam freundlich und trat langsam auf mich zu. Er konnte mich unmöglich gesehen haben, dafür war ich zu gut versteckt, dachte ich und stand weiterhin wie versteinert hinter dem Baum. Bleib ruhig, Bleib ruhig! Ich sah schon meine Albträume wahr werden, so verängstig war ich. Beim Baum angekommen, griff mich der Dunkelhaarige beim Arm und zog mich mit einem Ruck aus meinem Versteck in das Lichte der Feuerstelle. "Hey, nur nicht so schüchtern", sagte er und mir gefiel sein Grinsen je länger desto weniger. "Wie heisst du?", fragte er, wohl um das Eis zu brechen. Ich antwortete nicht. "Okay, machen wir das anders", murmelte er, zog mich weiter zum Feuer, zwang mich, immer noch sein forciertes Lächeln auf dem Gesicht, mich auf einen umgestemmten Baumstamm zu setzen und brachte mir ein Stück Brot und einen Becher Wasser. "Hier, du bist sicher durstig", sagte er und fügte nach einer Weile: "Ich bin übrigens Cronan, und das ist Finlay" hinzu. Der Blonde, der Finlay hiess, schaute mich nicht an, sondern hatte seinen Blick auf seine Ledertasche gerichtet. Ich hatte den Verdacht, dass das Etwas, das kurz zuvor noch in seiner Hand gelegen hatte, vor ein paar Sekunden genau in diese Tasche verschwunden war. "Willst du wirklich nichts essen?", hakte Cronan nach. Vorsichtig schnupperte ich am Becher. Es roch nach nichts, also musste es Wasser sein. "Keine Angst, das ist schon nicht vergiftet. Willst du mir immer noch nicht deinen Namen verraten?" Langsam nahm ich einen Schluck und biss ein Stück vom Brot ab. "Keitha", antwortete ich mit vollem Mund. "Ich heisse Keitha." "Was für ein schöner Name! Sehr aussergewöhnlich... Keitha", meinte Cronan und musterte mich. "Und es freut mich doch sehr, dass du sprechen kannst. Ich dachte für eine Weile, dass du stumm bist", witzelte er. Ich fand das hingegen gar nicht lustig. Anscheinend merkte Cronan schnell, dass sein Witz bei mir schlecht angekommen war, da er kurz hüstelte und schliesslich wieder das Wort ergriff. "Dann können wir wohl wieder zu ernsteren Sachen kommen. Also, Keitha, wo ist der Diamant?" Ich verschluckte mich fast. Das hatte ich befürchtet und ich wusste nicht, ob ich ihm die Wahrheit sagen sollte "Wo ist er?", versuchte er es abermals und seine Freundlichkeit war auf einmal verschwunden. "Ich besitze den Stein nicht mehr", konnte ich nur hervorbringen. "Ich schwör's!"
Diese Worte schienen ihm nicht zu gefallen und er jagte mir mit seiner ernsten Mine grosse Angst ein. Ich war wirklich keine Heldin. Angsthase traf es wohl viel mehr. "Er ist versteckt in Behrdorf", flüsterte ich schüchtern.
Er überlegte kurz und einige Fragen schienen plötzlich förmlich auf seinen Lippen zu liegen. " Du hast meinen Stein wohl schon verkaufen können und willst dich nun mit dem Geld davon machen, oder?", fragte er schliesslich und hatte auf einmal etwas sehr bedrohliches an sich.
"Nein, das stimmt nicht!"
"Wo ist denn dein kleiner Freund? Ist der etwa auch hier?", hakte er weiter nach.
Ich schüttelte nur den Kopf.
"Was machst du denn hier so ganz alleine?"
Ich wusste, dass er mir nicht glaubte und ich zögerte daher auch, den Adler zu erwähnen.
"Ich... Ich wollte eigentlich gar nicht von Zuhause weg. Aber mein Bruder ist verschwunden und ich wollte ihn wiederfinden. Aber ich habe mich dann schnell verlaufen", log ich und schaute auf meine Füsse hinunter.
"Ahhh, wenn das so ist!", meinte Cronan nicht überzeugt. "Wir könnten dir helfen, Keitha. Wie wäre es, wenn du uns zum Diamanten bringst und wir dir dafür als Gegenleistung deinen Bruder wiederbringen würden? Es ist dieser freche Bengel namens Konnor, nicht wahr?" Er klang nun wieder etwas freundlicher und ich überlegte tatsächlich kurz, sein Angebot anzunehmen. Vielleicht könnten sie mir wirklich helfen, dachte ich. Aber der Diamant ist doch unterdessen sicher schon verkauft worden. Da war diese Dienerin, von der Jefferson gesprochen hatte. Falls sie ihr den Stein wirklich verkauft hatten, dann wusste ich nicht weiter. Ich wusste weder ihren Namen noch den Namen ihres Herrn. Und wenn ich den Stein Cronan nicht bringen konnte, würde er mir sicher schlimmes antun. Ich schauderte. Hatte ich überhaupt eine Wahl?
Langsam nickte ich und Cronan klatschte in die Hände und sein Lächeln war wieder zurück auf seinem wunderschönen Gesicht. Dann nahm er den Becher aus meiner Hand, die er daraufhin schüttelte, und sagte nur: "Deal". Er setzte sich neben mich und sprach nun wieder zu Finlay. "Hey Fin, komm doch auch rüber zu uns und sieh dir die Kleine gut an. Das letzte Mal hast du sie schnell aus den Augen verloren, nicht wahr? Dieses Mal will ich wirklich sicher gehen, dass sie dir nicht noch einmal entwischt." Finlays Blick kreuzte für eine halbe Sekunde den meinen und ich schauderte wieder. Schnell richtete ich meinen Blick wieder auf den Boden, wo er sich in den Sand bohrte, ein unbehagliches Gefühl in meinem Bauch. Finlay kam näher, setzte sich neben mich und nahm meinen Hut vom Kopf. "Was für ein Haar!", staunte Cronan, als mir rote Strähnen auf die Schultern fielen. Ich lief augenblicklich rot an. Hastig riss ich Finlay den Hut aus der Hand, setzte ihn wieder auf meinen Kopf und ging auf die andere Seite des Feuers. "Nun... Ich ... gute Nacht", stotterte ich und liess mich auf den Boden sinken. Es dauerte nicht lange, bis ich im tänzelnden Schein des Feuers und im einlullenden Gemurmel der beiden Männer eingeschlafen war.

Am nächsten Morgen brachen wir früh auf. Zu meiner Erleichterung gingen wir nicht zurück über den Berg, von wo ich gekommen war, sondern marschierten auf einem winzigen Pfad in Richtung Tal. Pferde besassen weder Cronan noch Finlay und ich wunderte mich je länger desto mehr, ob diese beiden überhaupt Ritter waren, wie ich es noch vor einer Woche geglaubt hatte. Wenn sie keine Adeligen sind, woher hatten sie dann den Diamanten? schoss es mir durch den Kopf. Während der ganzen Wanderung hielt ich mich von Finlay fern, da ich mich vor ihm auf eine unerklärliche Weise fürchtete. Ich wusste nicht warum, aber Finlay hatte etwas an sich, das mir ein Kribbeln in der Magengrube aufkommen liess und mich jedes Mal, wenn er sich neben mich stellte, nervös machte. Er hatte noch nicht zu mir gesprochen und darüber war ich natürlich froh, aber manchmal fragte ich mich, ob er meine Sprache überhaupt beherrschte.
Cronan hingegen stellte sich als netter Kerl heraus, der immer versuchte, mein Vertrauen zu gewinnen. Mit voller Begeisterung erzählte er mir von seinen letzten zwölf bereisten Ortschaften mitsamt seinen Abenteuern. Er und Finlay, der sich erstaunlicherweise als Cronans Bruder herausstellte, schienen schon die ganze Welt gesehen zu haben.
"...Und dann kamen die Bewohner Wüstenlands mit erhobenen Speeren auf uns zu und griffen uns ohne zu zögern an. Diese Dunkelhäutigen waren ausgezeichnete Kämpfer. Wir waren zu zweit, sie waren mindestens zwanzig! Aber zum Glück hatte ich Finlay auf meiner Seite. Er ist nämlich der stärkste Kämpfer, den es gibt. Niemand konnte ihm bisher auch nur einen Kratzer zufügen. Und er hätte all diese Männer alleine besiegen können! Natürlich mit meiner Unterstützung..." Ich konnte diesen Geschichten keinen Glauben schenken, denn es schien mir, als würde Cronan seinem Bruder ein besseres Bild verpassen wollen, genauso wie es Konnor mit mir immer getan hatte. Trotzdem hielt ich mein Lächeln aufrecht und sagte ab und zu "ohh" oder "wirklich? Das ist ja unglaublich!" um ihn nicht zu beleidigen. Mit dem Berg hinter uns lassend, hatten wir nach etlichen Stunden Behrdorf fast erreicht. Cronan war inzwischen bei seiner dreizehnten Geschichte angelangt und ich hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Meine Gedanken waren beim Diamanten und bei Konnor. Ich wusste einfach nicht, wo ich anfangen sollte. Oder sollte ich eher weglaufen? Ich wusste, dass der Diamant schon längst nicht mehr im Besitz der Diebesgilde war, daher konnte ich ihn unmöglich zurückbringen. Aber in den letzten Minuten hatte Finlay seine Augen nicht von mir gelassen. Er war auf meinen Ausbruch gefasst. Wie zur Hölle konnte er das nur wissen?

Hallo zusammen! Was denkt ihr, wie es weitergeht? Wer hat den Diamanten? Was ist eurer Meinung nach der Gegenstand, den Finlay in seiner Ledertasche versteckt hat?
Ab in die Kommentare damit!
Ich freue mich
Ysilra

KeithaWhere stories live. Discover now