6. Die Suche geht weiter

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Unterdessen waren wir beim Osttor von Behrdorf angelangt und Cronan hörte mit seinem Geplapper auf. "Wo gehts nun hin, Kleine?", fragte er mit fester Stimme. Da ich immer noch keine Entscheidung über meine nächste Tat getroffen hatte, blieb ich stumm und ging einfach weiter. Ich musste improvisieren. Und das einzige, was mir einfiel, war, die beiden Brüder zur Hütte der Diebesbande zu bringen. Wenn ich sie dorthin bringe und wir herausfinden, dass die Gilde während meiner Abwesenheit den Diamanten tatsächlich verkauft hat, sind wir allesamt in selben Schlamassel, überlegte ich und hoffte dabei, dass ich die nächsten Stunden überleben würde. Aber vielleicht hatte ich ja Glück, vielleicht war der Stein immer noch am selben Platz... oder vielleicht hatte Konnor den Diamanten tatsächlich geklaut. Ich durfte die Hoffnung nicht aufgeben.
Als wir bei der Hütte angelangt waren, wollte Cronan mich nicht alleine reingehen lassen. "Nichts gegen dich, Kleine, aber ich vertraue dir nicht und es könnte entweder eine Falle oder einen Fluchtversuch sein", meinte er etwas zynisch. Also traten wir ohne weitere Diskussion zu dritt in das kleine Haus ein, wo uns nur Dunkelheit empfing.
"Hallo, ist da jemand?", rief ich ins Dunkle hinein. Ein Hüsteln, ein Geräusch und dann ging plötzlich im Kamin ein Feuer an. Vor den noch kleinen Flammen standen Richard und Jefferson, die mich überrascht musterten. "Bist du das, Keitha?", fragte Jefferson verwundert. Sie schienen mich überhaupt nicht erwartet zu haben. "W...was tun denn die hier?", stotterte Richard fast panisch beim Anblick meiner beiden Begleiter.
"Das könnte ich genauso gut euch fragen", gab ich zur Antwort. "Warum ist es so dunkel hier drin?"
"Wir haben die ganze Nacht kein Auge zugetan, Keitha... Wir haben nach dir gesucht" erklärte Jefferson. "Wir dachten, du würdest nie zurück kommen! "
"Was! Warum denn nicht?"
Ich verstand nicht, was vor sich ging.
"Konnor ist verschwunden...", setzte Jefferson seine Erklärung fort.
"Ach, was du nicht sagst, du bist aber schnell!", lachte ich auf.
"Ja, aber er.. er..." Hastig schaute er zu Richard, dann zu uns herüber, als traue er sich nicht, den Satz fertig zu sprechen. "Ja? Was hat er getan?", half ihm Cronan mit seiner angsteinflössenden Miene auf die Sprünge.
"...er hat den Diamanten...", beendete Jefferson schlussendlich doch den Satz.
Ich wusste es! Wie gut ich doch Konnor kannte. Aber zum ersten Mal seit langem war ich über Konnors Dummheit erleichtert, ich war sogar fast schon erfreut. Cronan und Finlay waren jetzt verpflichtet, zuerst meinen Bruder zu finden. Damit hatte ich die Garantie ihres Teils der Abmachung.
Das schien Cronan auch bemerkt zu haben, denn er sah überhaupt nicht erfreut aus. Er griff mich am Arm und drückte mich an die Wand, sein Gesicht war meinem so nahe, dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren konnte. "Pass auf Kleine, mit mir erlaubt man sich keine Spässe! Du wusstest von Anfang an, dass der Stein bei deinem Bruder ist", zischte er bedrohlich. Der Druck an meinem Kinn verstärkte sich und ich wimmerte schmerzlich auf.
"Hey, geh weg von ihr!", bellte Jefferson und gemeinsam mit Richard stürmte er auf uns zu.
Alles ging sehr schnell: Jefferson hatte seine Faust beinahe in Cronans Gesicht geschlagen, als ihn Finlay plötzlich am Arm packte, diesen auf seinen Rücken stemmte und Jefferson mit einem kräftigen Hieb zurückwarf. Ein Schrei ertönte. Richard, der etwa doppelt so gross und muskulös war wie sein Gegner, griff Finlay mit einem von Konnor kopierten Kriegsschrei von hinten an. Dieser wich ihm im letzten Moment aus. Nochmal daneben. Die darauffolgenden, verzweifelten Hiebe von Richard konnten Finlay nicht im Geringsten etwas anhaben. Auf einmal wurde mir mit einem Schaudern bewusst, warum ich eigentlich eine solche Angst vor diesem Mann hatte. Dann fielen mir auch wieder die Geschichten, die Cronan mir vor kurzem erzählt hatte, ein. Vielleicht hatte er mir doch die Wahrheit erzählt und wahrscheinlich hatte er mir damit Angst einflössen wollen. Ich sah wieder zu Cronan hinüber.
Er selber schaute dem Geschehen mit einem amüsierten Gesichtsausdruck zu.
"So, streng dich mal ein bisschen an, Junge", feuerte er Richard bei einem wirklich schlechten Versuch, Finlay in der Bauchgegend zu treffen, an. Okay, zugegeben sah die Prügelei jetzt lächerlich aus und ich wünschte mir nur, dass sie bald vorbei sein würde. Zu Richards Glück war der Rest der Bande abwesend, oder sie hätten sich zu Tode gelacht und daraufhin einen anderen Anführer gewählt. Auf eine Weise tat er mir auch leid, da er eigentlich für mich am Kämpfen war.
Schlussendlich wurde der Kampf nicht viel mehr in die Länge gezogen, sondern war nach ein paar Minuten beendet, als Richard vor Erschöpfung auf die Knie sank.
"Ach nein, was für eine Enttäuschung", murmelte Cronan, lächelte mich an und liess mich endlich los. Finlay sah wie zuvor munter aus und half Jefferson wieder auf die Beine. "Ich hoffe, ihr hattet trotzdem euren Spass", sagte Cronan als würde er kleine Kinder über ein verlorenes Spiel hinwegtrösten wollen und trat auf den immer noch knienden Richard zu. "Du bist der Anführer, oder?"
Richard öffnete seinen Mund, brachte jedoch nichts hervor und schloss ihn dann wieder. "Wer seid ihr? Und was wollt ihr?", fragte Jefferson an seiner Stelle. "Wir sind die Besitzer des Diamanten, welchen die Kleine hier und ihr Bruder uns geklaut haben. Und wir wollen ihn zurück haben", antwortete Cronan scharf. "Aber anscheinend bestehlt ihr euch hier untereinander!" Er wandte sich wieder an mich. "Also Kleine, anscheinend müssen wir zuerst unseren Teil der Abmachung einhalten. Wo hast du ihn zuletzt gesehen? Hat dein Bruder erwähnt, wo er mit dem Stein hingehen würde?"
Ich schüttelte verlegen den Kopf.
"Seit wann ist er verschwunden?", hakte er nach.
"Keine Ahnung, etwa seit zwei Tagen", erwiderte ich.
"Er ist auf jeden Fall nicht mehr in Behrdorf. Wir haben nämlich die letzten zwei Tage nach ihm gesucht", entgegnete Jefferson bitter.
Plötzlich erinnerte ich mich an das, was Konnor, als er das letzte Mal mit mir gesprochen hatte, gesagt hatte. Es hatte sich um Vaters Verschwinden gehandelt. "Ich weiss wo er ist!", jubelte ich auf einmal. "Was? Wo denn?", sagten Jefferson und Cronan im Chor. "Bei meinem alten Haus. Er ist zu unserem Bauernhaus zurückgekehrt!", rief ich euphorisch. "Wir müssen aufbrechen, Kommt!"
"Warte, Keitha", hielt Jefferson mich zurück und schaute mich entschuldigend an. "Wir können nicht mitkommen - nicht, dass wir nicht mitkommen wollen, aber wir müssen auf die anderen aufpassen." Ich verstand.
Die Diebesbande konnte nicht noch mehr Verluste erleiden. "Gut, ich gehe dann alleine mit den beiden", erwiderte ich und zeigte auf Cronan und Finlay, die sich schon längst wieder draussen befanden. "Du bist ja auf einmal ganz mutig geworden, so kenn ich dich ja gar nicht!", lachte Jefferson und eine kurze Pause folgte. Mein Gesicht war wieder einmal rot angelaufen. "Komm zurück, Keitha. Mit oder ohne Konnor, aber komm zurück!", verabschiedete sich Jefferson schlussendlich von mir und für einen Augenblick hatte sein Gesichtsausdruck einen liebevollen Zug angenommen. Ich umarmte ihn und Trauer kam in mir hoch, auf eine unerklärliche Weise. "Ich werde es versuchen", flüsterte ich, löste mich von ihm und lächelte ihm zu. Dann trat ich aus dem Haus, den anderen folgend.

Diesmal war ich diejenige, die voraus ging und den anderen den Weg wies. Trotz des schummrigen Lichtes der Abenddämmerung fand ich den Weg mit links. Unser alter Hof lag südlich und etwa eine Stunde entfernt von Behrdorf, nahe am Wald. Während des gesamten Weges verlor niemand ein Wort. Ich wollte nach diesem Vorfall nicht mehr mit Cronan sprechen, ich verachtete ihn für das, was er getan hatte. Und Finlay, eher Cronans Diener als Bruder, wollte sowieso nicht mit mir sprechen. Und doch: Je mehr Zeit ich mit den beiden verbrachte, umso mehr wunderte ich mich, wer sie waren, woher sie kamen und warum sie so arrogant waren. Adelige sind wohl alle so, schoss es mir durch den Kopf. Hochnäsige Kotzbrocken, die Spass daran haben, andere zu verletzten. Es ist wohl besser, wenn ich Konnor so schnell wie möglich finde und sie damit auf nimmer wiedersehen loswerde.
Nach einer Stunde waren wir endlich angekommen und die Sonne war inzwischen schon untergegangen.
In der Dunkelheit waren die Umrisse meines alten Zuhauses schlecht zu sehen, es kam nämlich von nirgends Licht, nicht mal von den Fenstern. Ich war entsetzt, denn als ich näher trat, konnte ich in der Dunkelheit erkennen, dass mein Zuhause am zerfallen war: Holzbalken lagen am Boden verstreut und eine Seite des Daches war in sich eingesackt.
"Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?", hörte ich Cronans Stimme aus der Dunkelheit zu mir dringen. "Ja!", lautete meine Antwort. "Konnor muss hier irgendwo sein."
Vorsichtig machten wir uns auf die Suche nach meinem Zwillingsbruder, was ohne Licht eine echte Herausforderung war. Cronan fluchte, als er über eine Mauerruine stolperte und schimpfte daraufhin mit Finlay, er hätte doch Fackeln mitnehmen sollen.
"Pssscht", zischte ich. Genau in diesem Moment hatte ich etwas gehört. "Konnor?", flüsterte ich in die Nacht hinein. Eine kurze Pause, dann hörte ich es wieder: Es hörte sich so an, als würde jemand über nasses Gras gehen.
"Kommt, da lang!", konnte ich den anderen nur zurufen, bevor ich mich davonmachte. Ich rannte auf die Stelle zu, aus der das Geräusch zu kommen schien und rutschte dabei fast dreimal auf dem nassen Gras aus. "Konnor!", schrie ich und dieses Mal bekam ich eine Antwort. "Keitha?"
In der Dunkelheit erschien ein Umriss, den ich voller Freude umarmte, als sich dieser als mein Bruder herausstellte.

KeithaWhere stories live. Discover now