der Schattenpianist 2, Part 2

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Am nächsten Tag stand ich trotz enormer Müdigkeit gegen halb neun auf. Brian wollte mittags vorbei kommen und ich hatte mir vorgenommen noch ein wenig aufzuräumen, bevor er da war. Außerdem war gestern der erste Tag gewesen an dem ich, wegen der Strafarbeit, nicht mit dem blauhaarigen Mädchen telefoniert hatte, deshalb wollte ich sie heute früher anrufen. Je mehr ich an sie dachte, desto mehr freute ich mich auf die Gruselnacht. Ich musste nur schauen, dass sie von Jenny fern blieb, sonst könnte es Komplikationen geben. Ohne abzuwarten, ob ich sie in ihrem Zimmer entdeckte rief ich an. Ich ließ das Telefon eine ganze Weile klingeln und erwartete schon, dass sie nicht zu Hause war, als sie auf einmal am Fenster auftauchte und den Hörer abnahm. Sie hatte sich verändert. Ihr langes dunkles Haar hing ihr nun kaum noch auf die Schultern und wirkte nun nicht mehr so ordentlich. Außerdem sah sie blasser aus als sonst und schaute nicht sehr fröhlich. Hatte ich sie geweckt? Angezogen war sie aber bereits. Doch auch ihre Klamotten waren ganz anders. Nicht, dass sie nie ihre Kleider wechselte, doch das was sie jetzt anhatte, war ein vollkommen anderer Stil. Sie trug helle Latzshorts und darunter ein langärmliges braunes Shirt. Normalerweise war sie in ihren Kleidern eher eingehüllt, jetzt trug sie ziemlich figurbetonende Sachen.
„Ach du bist es", begrüßte sie mich in einem neutralen Tonfall. Das irritierte mich.
„Ja hi. Ich wollte nur mal hallo sagen, weil wir doch gestern nicht geredet haben."
„Aha, das trifft sich nur leider gerade ziemlich schlecht, ich hab noch was dringendes zu tun."
„Äh okay... Gehts dir gut?", fragte ich zögerlich. Sie nickte.
„Ich meld mich später bei dir, okay?"
„Okay..." Kaum hatte ich das letzte Wort ausgesprochen, hatte sie schon aufgelegt.

Kurz vor halb drei war Brian da.
„Aha, das nennt sich also gegen Mittag", lachte ich, während ich die Tür öffnete.
„Äh ja, das ist doch Mittag, wann isst du denn?" Ich machte eine abwinkende Handbewegung. Brian hatte seine Spielkonsole mitgebracht. Den ganzen Nachmittag verbrachten wir damit Zombies zu killen und wie bereits erwartet, sprach Brian immer wieder das Thema „was ist gestern vorgefallen" an. Ich persönlich hatte recht wenig Lust darüber zu reden, da ich es mir selbst nicht erklären konnte. Ich beharrte also einfach darauf, dass uns jemand einen miesen Streich gespielt hatte und spekulierte schon, wann das Video online war. Doch Brians Standpunkt war klar. Er war sowieso schon davon überzeugt gewesen, dass der Schattenpianist in der Stadt war. Irgendwann klingelte Brians Telefon. Ich stellte das Spiel auf Pause und wartete ab.
„Oh hi Jenny, was gibt's? Aha, ja ich denke schon." Er sah mich an und reichte mir das Handy.
„Für dich. Sie will wissen, ob du zur Gruselnacht kommst." Ich nahm es entgegen, obwohl es mir mehr als unangenehm war, mit dieser Person zu reden.
„Ja hallo Jennifer."
„Hi", hauchte sie. Brian bediente sich derzeit an meinem Kühlschrank.
„Also, kommst du, oder kommst du nicht?"
„Ähm... Ich denke schon, dass ich komme und ich bring wahrscheinlich ne Freundin mit." Ich wollte sie lieber schon mal vorwarnen, damit sie nicht davon ausging, ich wollte die Zeit mit ihr verbringen.
„Eine Freundin?" Ich hörte ihr an, dass sie beleidigt war.
„Hör mal, wegen Nicholas hab ich mal mit Brian gesprochen. Er wird aufpassen, dass sowas nicht nochmal vorkommt. Aber er hat auch gesagt, dass Nicholas Montag bei ihm war. Bist du sicher, dass er in deiner Wohnung war?"
„Achso, du meinst wegen der Stalkergeschichte. Das war eh nur erfunden."
„Was?! Warum erzählst du mir dann sowas?" Brian drehte sich neugierig zu mir um.
„Mir war langweilig. Und ich wollte, dich testen. Na ja, enttäuschendes Ergebnis. Aber gut, für das in der Bibliothek hat es sich gelohnt. Na dann sehen wir uns später Schatzi, bin gespannt auf deine Freundin." Ihr hönischer Tonfall machte mich fassungslos. Sie legte auf und ich gab Brian sein Handy wieder. Dann widmeten wir uns beide wieder dem Spiel.
Es war fünf Uhr als Brian schließlich meinte, er müsse noch einiges für die Gruselnacht vorbereiten und ging. Ich begleitete ihn zur Tür und hörte in meinem Schlafzimmer das Telefon klingeln. Schnell lief ich hin, blickte aus dem Fenster, um mich zu vergewissern, dass es meine Nachbarin war und nahm ab. Sie lächelte.
„Entschuldige, dass ich dich vorhin so abgewimmelt habe, aber ich hatte noch dringendes zu tun. Ich hatte auch nicht die beste Laune, weil ich gestern noch sehr lange auf war." Sie sah immernoch sehr blass aus. Ich nickte verständnisvoll.
„Ja ich auch", antwortete ich. „Dank Brian durfte ich die Nacht gestern mit ihm in der Uni verbringen. Das war mega gruselig, ich muss dir noch erzählen was da passiert ist!" Plötzlich sah sie sehr überrascht aus.
„Ach du warst das...", murmelte sie. Ich stockte.
„Wie meinst du das?"
„Ich hatte dich nicht erkannt", sagte sie langsam. Mir blieb fast das Herz stehen. Zwar redete sie noch ganz normal, doch das Mädchen, dass ich durch die Scheiben beobachtete, bewegte ihren Mund kein Stück.
„Das der andere Kerl Brian gewesen ist, wusste ich. Ich wollte nicht, dass er noch mehr Lügen über mich verbreitet. Dann warst du mir im Weg." Unentwegt starrte ich bloß das Mädchen an. Ich sah, wie sie aufstand und sich auf den Schreibtisch, direkt an die Scheibe setzte. Da bemerkte ich, wie sie das lose Telefonkabel um ihre Finger wickelte. Das Ende der geringelten Schnur hing einfach in der Luft. Mit offenem Mund starrte ich meinen eigenen Hörer an. Wie war das alles möglich? Spielte auch sie mir einen Streich und ich telefonierte eigentlich mit jemand anderem? Das Mädchen drückte ihren Oberkörper und ihre Hände an die Scheibe.
„Punkt eins: Ich nehme nicht jedes meiner Opfer in meine Familie auf. Punkt zwei: Ich kämpfe nicht nur mit Werkzeugen, aber vorzugsweise." Da erkannte ich große rote Flecken an ihrer Wange und ihrem Hals. Blut?
„Punkt drei: Meine Schattenpuppen können mich nicht in alle möglichen Gestalten verwandeln, sie decken lediglich meine... Schönheitsmarkel." Ich sah ihre Schultern, oder besser gesagt, ein paar hölzerne Gelenke, die sich an Stelle der Schultern befanden. Sie legte den Kopf schief und bewegte ihren Mund noch immer nicht, während sie sagte: „Was ist denn mein Darling? Deinem entsetzten Blick nach zu urteilen würde ich sagen, dass du nun endlich anfängst die Dinge so zu sehen, wie sie tatsächlich sind." Ich zitterte.
„Du bist, du bist...", setzte ich an. Sie nickte.
„Luce Nightingale, alias der Schattenpianist. Punkt vier: Meine Vergangenheit geht niemanden etwas an!!!" Die letzten Worte schrie sie so laut, dass ich zusammenzuckte und den Hörer fallen ließ. Erschrocken versuchte ich aufzulegen, doch egal wie oft ich den Hörer auf das kastenförmige Gerät haute, dieses Mädchen, oder diese Kreatur redete immer weiter.
„Na was soll denn das, Darling? Ist das eine Art mit Mädchen umzugehen? Na ja, was soll,'s, wir haben heute Abend ja noch ein Date. Ich würde sagen, wir treffen uns dort, okay?" Mit aufgerissenen Augen lächelte sie mich an.
„Was ist denn? Hat es dir die Sprache verschlagen? Ach ich rede wieder so viel. Wir sehen uns bei der Gruselnacht." Der allerletzte Satz klang anders als die anderen. Es klang, als würde Luce direkt neben mir stehen, bevor das Piepen der unterbrochenen Leitung ertönte. Ich sprang auf und rannte zur Wohnungstür. Schnell schnappte ich mir alle schweren Möbelstücke, die ich finden konnte und verbarrikadierte mich in der Wohnung. Meine Hände zitterten mindestens so stark, wie letzte Nacht in der Uni. Brian hatte Recht gehabt. Ich zog die Jalusien herunter und schaltete stattdessen das Licht an. Mein Blick fiel auf das ganze herumliegende Werkzeug. Brians Worte hallten in meinem Kopf: „Dadurch, dass sie so viel handwerklich gearbeitet hat, hat sie sich angewöhnt, immer nur mit Werkzeugen zu kämpfen, und wir haben hier doch so viel davon herumliegen, da hätte sie eine große Palette an Möglichkeiten, wie sie uns umbringt." Danach konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das einzige was mein Hirn mir immer und immer wieder sagte war: Werkzeug weg, will nicht sterben, Werkzeug weg! Ich räumte alles ein, verstaute es zusammen mit Messern und Scheren und sonstigen Gegenständen die mir gefährlich vorkamen in einem Karton und umwickelte ihn von allen Seiten mit dickem Klebeband. Dann versteckte ich es in einem Schrank. Das einzige, was ich draußen ließ, war ein großes Küchenmesser, dass ich fest umklammerte, während ich mich in einer Ecke zusammenkauerte und abwartete. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war, möglicherweise schon ein zwei Stunden, vielleicht nur fünfzehn Minuten, als auf einmal das Telefon klingelte. Verängstigt kniff ich die Augen zusammen und presste mir die Hände auf die Ohren. Es sollte endlich aufhören! Doch es klingelte immer weiter. Unter keinen Umständen durfte ich drangehen. Dann würde Luce wissen, dass ich noch zu Hause war. Dann war es wieder still. Ich wurde ein wenig entspannter, bis mir auffiel, wie viele Schatten es in der Wohnung gab. Jeder Karton und jedes Möbelstück warf Schatten. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind, dass in jeder Ecke Monster sah, doch ich wusste, das hier war die Realität und für die Schattenpuppen war es eine Kleinigkeit mit natürlichen Schatten zu verschmelzen und sich somit aus dem Hinterhalt anzuschleichen. Nötig hatten sie es wahrscheinlich nicht, aber der Gedanke, dass hier bereits Puppen lauern könnten brachte mich noch mehr aus der Fassung. Dann klingelte das Telefon schon wieder. Ich zuckte zusammen bei dem schrillen Geräusch. Sollte ich vielleicht doch rangehen? Vielleicht würde ich es bereuen, wenn ich es nicht tat. Womöglich wusste der Schattenpianist sowieso, dass ich noch im Haus war. Schließlich stand ich auf wackeligen Beinen auf und legte den Hörer langsam an mein Ohr. Von der anderen Seite der Leitung war ein keuchender Atem zu hören. Dann nur ein Wort.
„Hilfe!" Ich spürte, wie sich meine Haare streubten.
„Wer ist da?", fragte ich mit bebender Stimme.
„Ich bin's, Nicholas. Du musst uns helfen, wir sind hier..." Ein Knirschen ertönte. Dann eine andere gehetzte Stimme.
„Hallo? Bitte hilf uns, wir werden verfolgt." Es war Marc.
„Die Schatten sind überall! Brian ist..." Er wurde von einem schrillen Schrei im Hintergrund unterbrochen.
„Oh nein, Jenny! Tu doch was!" Danach war die Leitung unterbrochen und ich starrte ein paar Sekunden ins nichts, während das gleichmäßige Piepen in meine Ohren drang. Sie war bei ihnen. Und ich war Schuld, denn ohne mich hätte sie gar nicht von der Gruselnacht erfahren. Ich musste etwas unternehmen. So schnell ich konnte räumte ich meine Tür wieder frei und stürmte los. Alles was ich mitnahm war das Küchenmesser, dass ich noch immer nicht aus der Hand gelegt hatte. Ich wusste zum Glück genau, wo die Jugendlichen waren. Brian hatte in den letzten Tagen von nichts anderem geredet. Es handelte sich um eine verlassene Lagerhalle am Rande der Stadt, sie war der ausgekorene Gruselort. Als ich sie endlich erreichte, blieb ich einen Moment lang, auf das Schlimmste vorbereitet, vor dem Eingang stehen und lauschte. Alles was ich hörte war eine leise Stimme, die ich nicht ganz zuordnen konnte. War ich zu spät? Ganz vorsichtig und mit dem eigenen Herzschlag in den Ohren öffnete ich die Tür einen Spalt weit und spähte hindurch. Doch was ich sah, verwirrte mich schließlich endgültig. Da saßen sie. Anna, Jenny, Dustin und Marc. Vor ihnen stand Nicholas und schien irgendwas zu erzählen. Vor Überraschung hatte ich nicht bemerkt, dass ich die Tür inzwischen ganz geöffnet hatte. Nicholas hielt im Satz inne und sah mich an, die anderen folgten seinem Blick. Dann begann er laut zu lachen.
„Alter, Leute, er hat es uns echt abgekauft!" Die Anderen fielen in sein Lachen ein und ich stand nur wie ein Dummkopf da und verzog nicht einmal den Mund zu einem Lächeln. Die Situation war aus meiner Sicht ganz und gar nicht komisch.
„Ich glaub's nicht!", hörte ich Marc lachen. Nur Dustin lachte nicht und blickte wie immer sehr neutral drein. Ich bemerkte, dass sein Blick auf mein Messer fiel. Als sie sich wieder beruhigt hatten ertönte eine weitere Stimme über mir.
„Wie schön, dass wir nun endlich komplett sind!" Ich sah mich um. Auf einem erhobenen Geländer stand Brian und lächelte vergnügt auf uns herab. Er hielt sich eine Taschenlampe von unten ans Gesicht und trug einen dunklen Hoodi mit einem neongelben Totenkopf darauf.
„Damit erkläre ich die Gruselnacht entgültig für eröffnet!" Er hatte offenbar einen Hang zur Dramatik, denn er öffnete dabei feierlich die Arme.
„Ich erzähle euch nun die Geschichte dieses Lagerhauses, damit ihr wisst, warum ich gerade dieses Ort hier auswählte. Vor etwa zehn Jahren kam ein Mädchen in dieser Halle ums Leben. Sie stürzte von dem Geländer und wurde von Holzsplittern aufgespiest. Die Leiche des Mädchens verschwand noch ehe die Polizei hier eintraf. Aber Zeichen deuten darauf hin, dass es sich nicht bloß um einen Unfall handelte. Es war Mord, denn wer hätte sonst ihre Leiche mitgenommen?" Ich spürte, wie alle die Luft anhielten, während sie Brians Worten lauschten.
„Es heißt, dass der Geist des Mädchens noch immer in diesem Gebäude herumspukt und auf den Tag wartet, an dem ihr Mörder zurückkehrt, damit sie Rache an ihm nehmen kann und ihre Seele endlich frei ist. Weil kein Mädchen als vermisst gemeldet war, beschäftigte die Polizei sich nicht weiter mit dem Fall. Stattdessen tun wir das heute." Die Anderen begannen zu flüstern. Ich hielt mich schweigend im Hintergrund. Die ganze Sache mit Luce kam mir auf einmal so surreal vor, als hätte ich mir alles nur eingebildet. Doch so war es nicht, ich musste die anderen warnen, doch ich wusste nicht wie. Wenn ich ihnen erzählen würde, was passiert war, würden sie es bloß als eine Art Rachezug für ihren Telefonstreich sehen. Würde Brian mir glauben? Ich blickte zu ihm hoch. Er hielt mit beiden Händen die Reling fest, während er weitersprach: „Wir werden heute versuchen, den Fall zu lösen, und da weitermachen, wo die Polizei aufhörte. Und dann, werden wir gemeinsam Kontakt zu ihr aufnehmen." Eine Geisterbeschwörung? Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich überlegte, ob ich wohl nach Hause gehen sollte, doch bei dem Gedanken noch einmal allein durch die riesigen Straßen dieser nachttoten Stadt zu gehen lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
„Okay, Ziel Nummer eins, finden wir die Absturzstelle!" Brian bewegte sich zur Seite weg und nun setzte sich auch der Rest der Gruppe in Bewegung Richtung Treppe. Zuerst stürmte Nicholas hoch, Anna, die jetzt schon total verängstigt schien, blieb ihm dicht auf den Fersen. Nach ihr kam Marc und Jennifer stapfte mit etwas Abstand zu ihm ebenfalls hoch. Dustin wollte ihr gerade folgen, als er sich noch einmal zu mir umdrehte.
„Kommst du?", fragte er. Ich zuckte zusammen, nickte dann aber und ging ebenfalls hoch. Ich war viel zu verwirrt, um klar zu denken, doch eines wusste ich. Ich musste Brian warnen, und zwar möglichst ohne, dass die anderen etwas mitbekamen. Doch er stand genau auf der anderen Seite der Halle. Wie ich sehen konnte waren auch die anderen ziemlich gleichmäßig auf der Erhöhung verteilt und suchten das Geländer gründlich nach Hinweisen ab. Mich wunderte es, dass sie überhaupt alle mitmachten.
„Leute, hier ist es!" Brian hatte die Absturzstelle offenbar gefunden. Er streckte die Hand nach der verbogenen Stange im Geländer aus, als auf einmal laute stampfende Schritte neben mir ertönten, die die ganze Konstruktion erbeben ließen. Niemand von uns rührte sich. Es fühlte sich an, als rannte irgendjemand von mir weg und zu Brian hinüber. Dieser drückte sich gegen die Wand. Direkt vor ihm erstummten die Schritte, ein Knall ertönte und die verbogene Stange fiel aus den Angeln. Daraufhin hörte man einen schrillen Schrei, eine unter dem Geländer stehende Kiste brach mit einem lauten Krachen zusammen und die Eisenstange fiel lärmend zu Boden. Danach war es still. Ein schockiertes Schweigen lag in der Luft. Marc begann unsicher zu kichern.
„Alter, wie hast du das gemacht?" In seiner Stimme klang die Hoffnung mit, dass er ihm tatsächlich eine plausible Erklärung für all das geben würde. Stattdessen starrte Brian seine eigenen Handflächen an.
„Ich hab sie nicht mal berührt..." Er zitterte.
„Okay, das reicht, ich gehe", rief Anna. Sie kam in meine Richtung, doch plötzlich war noch ein weiteres Geräusch zu hören. Es war die Melodie einer Spieluhr, die nun sanft die Stille durchdrang.
„Ist das...", hörte ich Brian flüstern. Er ahnte es, doch ich wusste es. Ich vernahm eine Bewegung aus dem unteren Teil der Halle. Etwas kleines, schwarzes ging dort entlang. Es war eine Schattenpuppe. Die Anderen hatten sie auch gesehen. Sie hopste wie ein fröhliches Kind zu einem Gegenstand hin. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es die Spieluhr war. Hinter einer Kiste kamen noch zwei weitere Puppen hervor, hinter einer anderen noch drei. Sie kamen von überall und bewegten sich langsam und lautlos. Ich machte einen Schritt nach hinten. Es war zu spät...
„Sie ist hier", flüsterte ich leise.
Da ertönte eine Stimme neben meinem Ohr.
„Ich hab dir doch gesagt, ich komme nur, wenn du kommst. Und ich stehe zu meinem Wort." Ich wagte es nicht mich umzudrehen, doch ich konnte an den geschockten Gesichtern der Anderen ablesen, dass sie genau hinter mir stand. Anna begann zu schreien. Wie bei einem Startsignal wandten alle Puppen gleichzeitig den Kopf in ihre Richtung. Erschrocken drehte ich mich um, doch der Schattenpianist war weg. Da schossen die Schatten urplötzlich wie Pfeile auf Anna zu. Sie stand bloß wie angewurzelt da. Im letzten Moment warf Nicholas sich zwischen sie und die Puppen. Es ging so schnell, dass ich kaum erkannte, was da vor sich ging. Einige Blutspritzer landeten auf Annas Gesicht und Bluse und im nächsten Moment rutschte Nicholas' halber Kopf weg und fiel zu Boden. Dann kippte auch sein restlicher Körper leblos um. Ich war froh, dass ich keine Details erkennen konnte. Anna krisch wie am Spieß und alle anderen Anwesenden hatten sich nun aus ihrer Starre gelöst und stürmten nach unten. Ich wollte ihnen folgen, doch irgendetwas hielt mich am Arm fest. Es war eine Schattenpuppe. Ich versuchte mich von ihr zu befreien und schlug nach ihr, doch meine Hand fuhr einfach durch sie hindurch, als wäre sie gar nicht da. Dann packte eine weitere Puppe meinen anderen Arm und noch welche meine Beine. Ich zappelte und wandt mich wie ein wildes Tier in alle Richtungen, doch es hatte keinen Zweck. Diese kleinen Biester waren um einiges stärker, als man ihnen ansah. Da bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie die Schattenpianistin auf mich zu kam. Sie stellte sich direkt vor mich und grinste breit.
„Ich will, dass du zusiehst!" Zum ersten Mal sah ich dieses Mädchen oder dieses Ding nun aus der Nähe. Ich hatte mich in unserer Telefonphase nun schon öfter gefragt, welche Augenfarbe sie wohl hatte. Waren ihre Augen blau, grün oder braun? Jetzt sah ich es. Ihre Augen waren vollkommen schwarz. Die Puppen hielten meinen Kopf fest auf das Schlachtfeld gerichtet und die Schattenpianistin verschwand wieder aus meinem Blickfeld. Mir fiel auf, dass nicht alle meine Freunde nach unten gerannt waren. Marc stand noch immer oben und beobachtete ebenso wie ich das Spektakel. Doch bei ihm schien es sich auf freiwilliger Basis zu ergeben. Was tat er denn da? Vielleicht fiel er den Schattenpuppen so weniger auf, denn sie ließen ihn in Ruhe. Ziemlich in der Mitte der Halle entdeckte ich Brian und Anna, die inzwischen umzingelt waren.
„Schnapp dir irgendeinen Gegenstand", rief Brian Anna zu. „Mit bloßen Händen kannst du ihnen nichts anhaben." Brian schnappte sich eine Metallstange und Anna fand das große Küchenmesser, dass ich mitgebracht hatte. Gemeinsam kämpften die beiden sich durch die Armee und machten einen nach den anderen platt. Immer wenn sie eine Schattenpuppe erwischten, löste sie sich auf und schien besiegt zu sein.
„Es werden weniger", rief Anna überrascht. Brian schüttelte den Kopf.
„Nein, es sind Schatten, sie kommen wieder." Dennoch schienen sie sich einen Moment lang zurückzuziehen. Ich entdeckte Jenny, die auf Brian und Anna zu kam.
„Leute, wir müssen hier raus", schrie sie.
„Wo sind die anderen?", fragte Anna mit zitternder Stimme.
Jenny warf ihr einen giftigen Blick zu.
„Ist doch egal, wir müssen verschwinden, sonst sterben wir alle!" Brian nickte und die drei rannten Richtung Ausgang. Ich bekam Panik und wollte nach ihnen rufen, damit sie sahen, dass ich auch noch da war, doch eine Hand presste sich auf meinen Mund. Luce hatte offenbar noch immer hinter mir gestanden.
„Nicht doch, lenk sie lieber nicht ab. Jetzt wird das ganze erst richtig interessant." Auch wenn ich es kaum noch für möglich hielt, mein Herz begann noch schneller zu klopfen, als es sowieso schon tat. Das war eine eindeutige Anspielung auf Runde zwei. Brian zerrte an der Tür herum, doch sie ließ sich unmöglich öffnen.
„Oh mein Gott, wir sitzen hier fest." Anna wurde hysterisch. Dann passierte etwas seltsames.
„Brian ich liebe dich!" Es war Jenny. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, wie sie ihn küsste. Luce hinter mir, lachte amüsiert.
„Diese kleine Bitch..." Da stimmte ich der Mörderin voll und ganz zu. Ich sah, dass Marc es auch bemerkt hatte. Dann hörte ich wieder Jennys Stimme.
„Du musst uns hier rausholen. Beschütz mich, dann können wir beide zusammen sein. Tu es für uns!" Brian nickte irritiert. Das Gefühl kannte ich...
„Zeit für Runde zwei, meine Freunde!" Plötzlich schossen von allen Seiten der Halle Schattenpuppen auf die Jugendlichen zu. Diesmal ließen sie auch Marc nicht in Ruhe. Er kämpfte sich mit einer schweren Kette durch, die er von der Decke riss. Unten kämpften sich Brian, Jenny und Anna durch die Puppenarmee. Der stärkste Kämpfer war natürlich Brian, das sah man sofort. Anna und Jenny hingegen kamen nicht so gut gegen die Puppen an. Brian rettete beiden mehrmals das Leben, doch lange würde er so nicht durch halten, wenn er immerfort die Mädchen beschützten musste. Offenbar dachte Jennifer genauso darüber, denn während sie sich gegen eine der Schattenpuppen verteidigte, schnappte sie sich auf einmal Anna und hielt sie wie ein Schutzschild vor sich. Ich konnte nicht genau erkennen, was die Puppe tat, doch plötzlich schrie Anna schmerzerfüllt auf.
„Aaaah, mein Auge!" Sie presste ihre Hand auf das Auge, während sie erst ein paar Schritte taumelte und kurz darauf umkippte.
„Nein, Anna!", schrie Brian, während er einige Puppen daran hinderte, über das Mädchen herzufallen.
„Lass sie, die ist so gut wie tot, beschütz mich lieber!" Als ich diese Worte hörte, spürte ich so einen Hass auf Jenny, wie ich noch nie vorher jemanden gehasst habe. Brian schien es ähnlich zu gehen.
„Verzieh dich, scheiß Schlampe!", schrie er. Auf einmal wandten einige der Puppen Jennifer den Kopf zu und fixierten das Ziel. Sie schrie und rannte davon. Die Puppen jagten sie quer durch die Halle. Sie lief zwischen den Kisten panisch, wie in einem Labyrinth umher. Die Schatten blieben diesmal dicht am Boden und wirkten tatsächlich wie eine Horde wilder Raubtiere auf der Jagt. Jenny kletterte auf eine der großen Kisten und auf eine weitere, die auf der ersten stand. Dann sprang sie und hängte sich mit den Händen an die unterste Eisenstange des Geländers.
„Nicht schlecht", murmelte Luce. „Ich frage mich, ob ich dabei genauso ausgesehen habe. Der Stunt geht mir bis heute nach, schließlich bin ich dabei gestorben." Ich starrte sie an.
„Du bist das Mädchen, das hier gestorben ist?"
„Oh ja, aber keine Sorge, sowas passiert öfter. Der eine Splitter hat sich in meinen Hals gebohrt, aber meine Kleinen haben das ganz gut wieder hinbekommen." Sie zeigte mir ihren narbenfreien Hals. „Ich war nicht alleine hier. Ein Junge war bei mir. Ihr beide seid euch irgendwie ähnlich. Auch er hätte alles darum gegeben, mich beschützen zu können, genau wie du es getan hättest, wenn ich meine Maske nicht gleich fallen gelassen hätte. Mit dem Unterschied, dass auch er ein Mörder war."
Ich hatte keine Ahnung wovon sie sprach. Doch ehe ich darüber nachdenken konnte, hob Luce auf einmal interessiert die Augenbrauen.
„Na sieh mal einer an..." Ich folgte ihrem Blick. Es war Dustin, der nun ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte. Sein Kampfstil wirkte professionell, was man ihm anhand seiner Figur gar nicht ansah. Ihre Mundwinkel zogen sich langsam nach oben, dann beobachtete sie wieder das noch immer am Geländer hängende Mädchen.
„Hilfe!" Ich sah zurück zu Jenny. Sie war eindeutig nicht durchtrainiert genug, um sich selbst hochzuziehen. Unter ihr hatte sich bereits eine Menge an Schattenpuppen gesammelt und wartete nur darauf, dass sie fiel. Doch inzwischen hatte Marc das hilflose Mädchen bemerkt und kam auf sie zu. Sie sah ihn verzweifelt an.
„Marc, Schatz, hilf mir! Du weißt, ich habe immer nur dich geliebt. Verzeih mir!" Schweigend nahm Marc ihre Hände und zog sie hoch.
„Ich wusste auf dich kann ich mich immer verlassen." Da bemerkte sie seinen finsteren Blick.
„Stirb!" Er ließ sie los.
„Nein", schrie ich. Auch Luce war überrascht, allerdings sehr freudig.
„Oh, das ist ja fantastisch!", rief sie erregt. Jenny fiel und kam mit einem lauten ekligen Knochenknacken auf. Sie schrie ohrenbetäubend laut aus Schmerz und Angst. Überall um sie herum waren Schattenpuppen. Sie packten sie an allen Enden ihres Körpers und zogen und zerrten übermäßig an ihr. Sie schrie ununterbrochen, doch Marc starrte sie nur kalt an. Was war denn los mit ihm? Da riss Jennys Körper plötzlich explosionsartig auseinander und alles war voll von Blut, Organen, Knochen und Körperteilen. Vorher hätte ich mir selbst in meinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können, dass der Schattenpianist so grausam war. Ihre einzige Reaktion war ein amüsiertes Lachen. Dustin, Brian und Anna hatten es auch gesehen und starrten nur entsetzt hinüber. Anna übergab sich. Immerhin war sie wieder auf den Beinen. Ich hielt diesen Wahnsinn langsam nicht mehr aus. Wieder versuchte ich mich loszureißen. Es war furchtbar so machtlos zu sein. Da hörte ich ein glucksendes Geräusch von der anderen Seite des Geländers. Ich blickte auf und sah, dass Marc lachte. Er stand nur da und lachte, und sein Lachen begann immer lauter, immer wahnsinniger zu werden. Die Schattenpuppen bewegten sich langsam auf ihn zu. Ich hörte ein rasselndes Geräusch und blickte zur Decke. Die Puppen griffen nach einer Kette, deren eines Ende an der Decke hing. Das andere Ende formten sie zu einer Schlaufe und legten sie dem noch immer lachenden Marc sanft um den Hals. Er bemerkte es nicht, sondern starrte nur weiterhin auf die Überreste seiner Ex. Das konnte doch nicht wahr sein.
„Pass auf!", schrie ich. Marc hielt inne und sah mich irritiert an. Da zogen die Puppen wie auf Kommando am anderen Ende der Kette und Marc wurde ruckartig in die Luft gezogen. Ich konnte das Knacken seines Genicks hören. Ich kniff die Augen zusammen. Er war tot. Seine Leiche hing mitten im Raum und drehte sich in der Luft hin und her. Seine Augen starrten ins Leere. Luce legte ihren Kopf an meine Schulter.
„Was für ein Anblick", seuftzte sie. „Damit beginnt Runde drei." Ich war kurz vorm hyperventilieren.
„Luce, bitte hör auf damit. Das ist doch Wahnsinn!"
„Wahnsinn? Aber nein, ganz und gar nicht. Das alles hat seinen Sinn und Zweck."
„Ach und welcher wäre das?"
„Weißt du, in Notsituationen erweist sich erst der wahre Wert eines Menschen. Von unserer lieben Jenny zum Beispiel wissen wir jetzt, dass sie absolut gar nichts Wert ist. Tja, manchmal trügt der Schein eben nicht."
„Was bringt es dir, unseren wahren Wert zu kennen, wenn du uns alle tötest?"
„Oh, mach dir da mal keine Sorgen. Diejenigen von denen ich etwas halte, werde ich nicht einfach nur töten." In diesem Moment wurde es mir klar. Sie suchte neue würdige Mitglieder ihrer Schattenarmee. Doch ich wollte eher sterben, als eines dieser Biester zu werden und andere Leute auf brutalste Weise zu töten. Die Schattenpianistin schnipste mit den Fingern und die Schatten gingen erneut auf Brian und Anna los. Diesmal waren sie noch agressiver als zuvor. Vor allem Brian erwischte es übel. Die Puppen zerschnitten ihm die Arme und den Oberkörper und hauten auf ihn ein. Doch er schlug sich tapfer und vernichtete einen Großteil. Auch Anna schien besser zu werden und besiegte haufenweise Schatten. Ihre Haare hingen ihr auf einer Seite so ins Gesicht, dass ich das kaputte Auge nicht sehen konnte. Dann waren auf einmal alle Puppen weg. Offenbar hatten die beiden alle besiegt und ich wusste, dass sie sich erst nach ein paar Minuten regenerieren konnten. Doch es war zu spät. Brian brach zusammen. Er hatte offenbar zu viel abgekriegt.
„Brian!" Anna lief auf ihn zu und nahm seinen Kopf auf ihren Schoß.
„Du musst durchhalten. Es ist vorbei!" Er schüttelte schwach den Kopf. Ich hörte, dass sie weinte.
„Es wird alles wieder gut. Zusammen kommen wir hier raus, okay?" Er lächelte schwach.
„Brian, ich liebe dich!" Sie sprach zwar leise, aber es war nicht zu überhören. Es zerriss mir fast das Herz, dass ich ihr nicht helfen konnte.
„Anna.." Brian strich ihr sanft über die Wange. Da beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn. Plötzlich löste sich eine Puppe aus dem Schatten. In der Hand hielt sie eine Art Schattensense.
„Achtung", schrie ich. Erschrocken sah Anna auf. Da tauchte auf einmal wie aus dem Nichts Dustin auf und schlug der Puppe mit dem Küchenmesser den Kopf ab. Sie verschwand. Doch die anderen Schatten hatten inzwischen genug Zeit gehabt sich zu regenerieren und begannen wieder die drei zu umzingeln. Luce hob die Hand und alle Puppen gleichzeitig hielten inne. Dann packten sie Anna und Dustin, zerrten sie beide ein paar Meter von Brian weg und hielten sie fest, wie sie es schon die ganze Zeit mit mir taten. Langsam schritt Luce die Treppe hinunter und ging auf die drei zu.
„Ach, dich gibt es ja auch noch. Sag, wo bist du nur die ganze Zeit gewesen. Hast du dich versteckt?" Dustin schwieg.
„Kommen wir nun zu dir." Sie ging auf Brian zu. „Wie du sicher weißt, steht dein Ende kurz bevor und jetzt ist der Moment der Entscheidung. Gebührt dir die Ehre ein Teil meiner Familie zu werden? Ich muss schon sagen, du hast dich tapfer gegeben in der Schlacht." Brian lächelte schwach.
„Deine Seele ist wirklich wertvoll und ein Feigling bist du auch nicht. Ich muss sagen, du hättest es wirklich verdient Teil meiner Welt zu werden." Sie beugte sich dicht über ihn und sah ihm direkt in die Augen. Dann legte sie beide Hände um seinen Kopf.
„Nimm mich zu dir", flüsterte Brian kaum hörbar.
„Nur leider kann ich Schwachköpfe wie dich nicht ausstehen", sagte sie nun laut genug, dass es alle Anwesenden hören konnten. Dann brach sie ihm mit einer schnellen Bewegung das Genick. Anna schrie.
„Wie kannst du nur! Es war sein größter Wunsch, du Monster! Hättest du ihm nicht wenigstens das lassen können?" Luce zuckte mit den Schultern.
„Sehe ich vielleicht aus wie der Weihnachtsmann?" Sie hatte Brian umgebracht. Mit einer heftigen Bewegung schaffte ich es nun endlich mich loszureißen. Wuterfüllt hangelte ich mich am Geländer hinunter, landete auf einer stabil aussehenden Kiste und stürmte auf sie los. Mit einer schnellen Bewegung entkam sie meinem Angriff und ich stolperte ins Leere. Mein Fuß stieß gegen das Messer. Schnell hob ich es auf. Doch auch Anna hatte den Moment, in dem die Puppen abgelenkt waren, ausgenutzt und sich losgerissen und erwischte Luce mit einer Eisenstange am Kopf. Wütend drehte diese sich zu ihr um.
„Das wirst du noch sehr bereuen, du..." Da kam ich wieder von hinten und rammte ihr das Messer direkt durchs Herz. Sie erstarrte und kippte nach vorne um.
„Miststück.", beendete ich den Satz. Als ich aufsah waren alle Schattenpuppen wie vom Erdboden verschluckt und ich bemerkte wieder die Spieluhr, die ich vorhin schon gesehen hatte. Es war eine truhenförmige Kiste auf dessen Seite eine Klaviatur gezeichnet war. In der Truhe stand eine kleine Figur, eine Ballerina, mit blauem Haar. Auf dem Herz der Figur bildete sich ein kleiner Sprung. Ich sah wieder Dustin und Anna an.
„Ist es vorbei?", fragte Dustin zögerlich. Ich hob vorsichtig die Spieluhr auf, betrachtete sie kurz, nickte und lächelte.
„Ja, ich denke es ist vorbei. Lasst uns schnell gehen." Beide nickten und langsam und taumelnd bewegten wir uns zum Ausgang. Ich lief in der Mitte, Dustin zu meiner rechten und Anna links. Die Spieluhr behielt ich. Kurz vor dem Ausgang fiel mein Blick noch einmal auf die Figur. Ich blieb vor Überwältigung stehen. Der Riss in ihrer Brust war verschwunden. Plötzlich hörte ich Dustin schreien: „Kopf runter!" Ich reagierte zwar nicht schnell genug, doch Dustin hatte mich mit nach unten gedrückt. Ehe ich realisierte, was passiert war, lag plötzlich Annas Kopf vor meinen Füßen. Neben mir kippte ihr Körper um. Es war noch nicht vorbei...
Wir drehten uns um, und vor uns stand, mit einem irren Gesichtsausdruck, Luce. In den Händen hielt sie ein großes Beil. Lachend warf sie es zur Seite. Aus der Spieluhr strömten nun die ganzen Schattenpuppen. Vor Schreck ließ ich sie fallen. Luce schrie auf, doch die Puppen fingen die Uhr rechtzeitig auf, bevor sie auf den Boden kam. Doch da traf es mich wie der Blitz. Es war die Spieluhr. Ihre Kraft und ihre Schatten steckten in diesem einen Gegenstand, sie musste zerstört werden, um Luce zu besiegen. Ich holte zum Tritt aus, um ihr das Ding aus der Hand zu schlagen, als mein Bein plötzlich in der Luft abgefangen wurde. Die Schatten wickelten eine Kette um meinen Knöchel und ich verlor den Halt. Ich wartete auf den Aufprall auf den Boden, doch das passierte nicht. Ich hing verkehrt herum von der Decke und war nun mit Luce auf Augenhöhe. Sie lachte bei meinem Anblick. Ich zappelte und wandt mich und versuchte mich von der Kette loszureißen. Da hörte ich Luces klare Stimme neben mir.
„Ich an deiner Stelle würde das lassen. Meine Puppen warten nur darauf, dass du runter fällst, und dann werde ich sie an nichts hindern." Da sah ich, dass sich direkt unter mir eine Menge von Schattenpuppen gesammelt hatte. Augenblicklich hielt ich still, denn ich wusste, was sie mit Jenny angestellt hatten. Stattdessen beobachtete ich nun Luce und Dustin. Die Schattenpianistin hob einen elektrischen Bohrer auf. Dann lächelte sie kindlich fröhlich.
„Willst du... ein Teil meiner Sammlung werden?" Dustin machte ein paar Schritte rückwärts, doch die Schattenpuppen stellten sich ihm in den Weg und er stolperte. Luce packte ihn und drehte ihn auf den Bauch. Die Mistviecher hielten ihn an Armen und Beinen fest, dann stellte Luce ihren Fuß auf seinen Rücken und ließ den Bohrer an.
„Nein, Luce lass das!" Sie sah mich noch einmal mit funkelnden Augen an, dann widmete sie sich Dustin und bohrte ihm direkt in den Rücken. Er schrie. Sie hielt lachend den blutigen Bohrer hoch. Dann warf sie ihn zur Seite und drehte Dustin wieder auf den Rücken.
„Jetzt sieh genau hin!" Das Mädchen riss sein T-Shirt auf und holte mit der Hand aus. Ich ging davon aus, dass sie ihn schlagen wollte, doch ihre Hand fuhr durch seinen Bauch hindurch mitten in seinen Körper. Dustin riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Luce hockte direkt unter mir. Ich fasste mit der Hand nach unten und griff ihr in die Haare. Sie schrie auf und krallte sich in meine Hand, doch ich ließ nicht los. Ich blickte auf Dustin. An der Stelle, wo Luce ihm in den Körper gegriffen hatte, befand sich eine Art schwarzes Loch. Von diesem Loch gingen Risse aus, als wäre der ganze Junge aus Porzellan. Die Kette löste sich von meinem Knöchel und ich fiel auf die Mörderin. Sie packte mich an der Jacke und plötzlich lag ich unter ihr. Ich versuchte sie zu erwürgen, doch sie haute meinen Kopf ein paar mal auf den Boden, und ich war gezwungen von meinem Angriff abzulassen und mich zu verteidigen. Ein knirschendes Geräusch ertönte. Luce blickte erschrocken zu Dustin.
„Du Idiot, wenn du mich nicht loslässt wird er einfach nur sterben!" Auch ich sah mich zu dem Jungen um. Die Schwärze verbreitete sich über seinen gesamten Körper. Er versuchte sich mit seinen Armen wegzuschleifen, doch bei jeder Bewegung schien sein Körper mehr zu zerbrechen. Die Schattenpianistin verpasste mir mit ihren hölzernen Gelenken noch einen Schlag ins Gesicht und sprang schnell auf. Sie lief zu Dustin und fasste ihm wieder in das Zentrum des schwarzen Loches. Wieder blieb er wie erstarrt liegen. Daraufhin verbreitete die schattenartige Schwärze sich etwa doppelt so schnell. Luce schloss noch einmal kurz die Augen, als würde sie ihre Konzentration sammeln und riss im nächsten Moment ruckartig eine Art schwarze Kugel aus Dustins Körper. Kurz darauf hatte die Schwärze den Körper des Jungen komplett überfallen und er zerfiel zu tausenden Scherben. Ich stöhnte verzweifelt auf. Inmitten dieser Scherben lag eine kleine Stoffpuppe. Das war dann wohl alles was von ihm übrig geblieben war. Doch während ich noch um den verlorenen Freund trauerte, blicken die Schattenpuppen, die nun alle um Luce herum standen auf die Kugel nieder, die sich langsam zu einer weiteren Schattenpuppe formte. Wie ein Kind wiegte das Mädchen den Neuankömmling im Arm und für einen Moment lag eine friedliche Stille in der Luft. Dann setzte sie die Seele ab, stand auf und kam zu mir hinüber.
„So, mein Freund. Jetzt gibt es nur noch uns zwei. Ich muss sagen, ich hätte dich gerne in meine Familie aufgenommen." Diese Ansprache von ihr kannte ich. Sie würde mich töten. Ich lag noch immer am Boden, doch hatte jegliche Wehr aufgegeben. Nachdem ich nun ganz alleine war versagte mein Kampfgeist entgültig. Ich blickte dem Mädchen tief in die Augen und wartete mein Schicksal ab. Sie legte den Kopf schief und überlegte. Schließlich rücke sie mit dem Urteil raus.
„Du bist noch nicht so weit."
„Was?" Ich verstand nicht, was sie meinte. Sie lächelte.
„Keine Sorge, wir sehen uns wieder. Ich komme dich holen, wenn es so weit ist." Dann wurde alles um mich herum schwarz.
Als ich erwachte, war die Lagerhalle verlassen. Die Schattenpianistin und ihre Puppen waren fort. Vor mir lag noch immer die kleine Stoffpuppe. Ich hob sie auf und betrachtete Dustins neues Gesicht. Mit einem freunlichen Lächeln auf den Lippen sagte ich: „Komm mein Freund. Wir gehen nach Hause."

Epilog
Fünfzehn Jahre später war ich ein erfolgreicher Mann. Ich arbeitete mich im Geschäft fleißig hoch und war schließlich gemeinsam mit meiner Frau an der Spitze einer hochgeschätzten Schmuck- und Modemarke. Endlich hatte ich begriffen, dass das einzige, was im Leben zählte Erfolg und Geld war. Meine Frau war mir in dieser Hinsicht sehr ähnlich. Seit den Ereignissen mit dem Schattenpianisten konzentrierte ich mich nur noch auf das Studium und ignorierte sämtliche zwischenmenschliche Aspekte wie Freundschaft oder Liebe, da mir klar war, dass sich mir sowas nur in den Weg stellen würde. Die einzigen Menschen auf Erden, an denen mir noch etwas lag waren meine Frau und Dustin. Doch vielleicht kam nun noch eine dritte Person hinzu. Ich ahnte es schon, als ich meinen Sekretär im Büro auf mich zuhetzten sah.
„Es ist so weit, Ihre Frau erwartet Sie im Krankenhaus." Ich wieß ihn an ein Taxi zu bestellen und wartete einen Augenblick, bis er fort war. Dann zog ich langsam die Schublade an meinem Schreibtisch auf und holte Dustin hervor.
„So, alter Freund", raunte ich. „Der Moment der Wahrheit ist gekommen. Treffen wir nun die Person, die mein Erbe antreten darf."

Als ich das Krankenhauszimmer betrat, saß meine Frau in einem Bett in der Mitte des Raums, das Kind in ihrem Arm. Sie lächelte.
„Hier ist sie", sagte sie.
„Sie?"
„Ein Mädchen."
„So..." Eigentlich hatte ich mir einen Jungen erhofft, aber nun gut. Ich ging zu dem Bett hinüber und betrachtete meine Tochter. Sie blinzelte mich kurz an und ich erkannte, dass ihre Augen leuchtend grün waren. Dann kniff sie die Augen wieder zusammen und begann sich unruhig hin und her zu winden.
„Sie ist zappelig." Meine Frau stöhnte. „Gerade auf der Welt und schon so unruhig. Mein Gott, dieses Mädchen wird uns noch großen Ärger bereiten."
Ich ging zu dem großen Fenster hinüber und starrte hinaus auf die große Stadt. Es überraschte mich selbst, dass ich keinerlei Emotionen bei diesem Kind verspürte. Möglicherweise waren meine Erwartungen höher gewesen.
„Wie soll sie heißen?", hörte ich meine Frau hinter mir fragen.
„Lucy", antwortete ich. „Nach einer alten Freundin von mir."

Danke fürs Lesen! :D
Falls die Mörderin euer Interesse geweckt hat, hier findet ihr Bilder zu ihr:

http://akito0405.deviantart.com/


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⏰ Last updated: Nov 05, 2015 ⏰

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