der Schattenpianist 2, Part 1

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Viel Spaß, und wenn die Creepypasta euch gefällt, hinterlasst doch ein Kommentar!
PS: Wenn ihr zuerst den ersten Teil lest, wird euch die Geschichte noch mehr Spaß machen ;)


Es war ein angenehm lauer Frühlingsnachmittag, als ich, wie so oft in den letzten Tagen, Kartons ausräumte. Zwei Wochen war es her, dass ich nun entgültig in meine neue Wohnung gezogen war und es fühlte sich immer noch an, als ob es gestern gewesen wäre. Ich kam nur sehr langsam mit der Renovierung voran, was wahrscheinlich auch daran lag, dass ich vollkommen alleine war. Bisher hatte ich noch bei meinen Eltern gewohnt, doch vor kurzem hatte ich beschlossen, dass es Zeit wurde auf eigenen Beinen zu stehen, und mir diese Wohnung hier gemietet. Ich war ein junger Student und bekam nicht viel, obwohl mein Studium von der Uni finanziell unterstützt wurde. Deshalb hatten meine Eltern mir das ein oder andere Möbelstück aus meinem zu Hause überlassen. Gerade öffnete ich einen neuen Karton, als mein Blick auf das darin liegende Telefon meiner Eltern fiel. Ich lächelte, während ich noch einmal das alte Kabeltelefon betrachtete. Kein Mensch heute besaß mehr so eines, keiner bis auf meine gutmütigen Alten. Sie hatten darauf bestanden, dass ich trotz meines Smartphones immer auf Festnetz erreichbar sein sollte, und da ich mir kein neues Telefon leisten konnte, hatten sie dieses hier wieder aus dem Schrank hervorgekramt. Ich hob es aus der Kiste und schloss es gleich an, dann stellte ich es auf dem Fensterbrett ab. Dabei stieß ich offensichtlich einen Zettel herunter, der darauf gelegen hatte. Ich bückte mich, hob ihn auf und drehte ihn um, um zu sehen, worum es sich handelte. Es war ein Kinogutschein für die Premiere des Films „Nacht des Schreckens". Sofort hatte ich wieder das Bild des seltsamen Typen vor Augen, den ich letzte Woche hier kennengelernt hatte. Es war ein Junge in meinem Alter. Er war etwa einen Kopf kleiner als ich und trug eine riesige Brille auf der Nase. Sein Name war Brian. Ein riesiger Horrorfan. Wir hatten uns einmal getroffen und gleich am nächsten Tag war er vorbei gekommen, um mir diesen Gutschein zu schenken. Ich selbst hatte mich noch nie sonderlich für sowas begeistern können, aber Brian konnte kaum an etwas anderes als Horror denken. Am faszieniertesten, ja man könnte fast sagen besessen, war er von einer Mörderin, die, soweit ich das verstanden hatte, einem Mythos entsprang. Man nannte sie den Schattenpianisten, und Brian war davon überzeugt, dass sie wirklich existierte. Es hieß, sie würde ihren Opfern eine sanfte Melodie auf einer Spieluhr vorspielen, bevor sie sie umbrachte und in Puppen verwandelte.

Kopfschüttelnd legte ich den Gutschein bei Seite. Ich blickte aus dem Fenster in den kleinen Vorgarten meines Vermieter hinunter. Er war nichts besonderes und unterschied sich kaum von den Vorgärten der Nachbarn. Auch die Häuser, die auf beiden Seiten der zweispurigen Straße standen, unterschieden sich kaum voneinander. Es war eines dieser ordentlichen Viertel einer Vorstadt, in denen meist nicht viel los war. Mir in der Stadt selbst eine Wohnung zu mieten, wäre viel zu teuer gewesen. Plötzlich vernahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung von der anderen Seite der Straße. Ich blickte auf und sah im ersten Stock des gegenüberliegenden Hauses, also mit mir auf Augenhöhe, wieder das Mädchen, dass dort wohnte. Sie hatte langes dunkelblaues Haar und trug einen etwas zu großen braunen Rollkragenpullover, einen kurzen blauen Rock und Leggins. Sie war echt süß, das fand ich schon beim ersten Mal als ich sie gesehen hatte. Doch bis jetzt hatte ich noch kein Wort mit ihr gewechselt. Ab und zu, wenn ich sie am Fenster sah, beobachtete ich sie heimlich. Meist machte sie irgendetwas am Schreibtisch, der direkt am Frontalfenster stand, doch gerade war sie damit beschäftigt ein paar Kleider aufzuräumen. Es war auch schon zweimal vorgekommen, dass unsere Blicke sich trafen und sie mir zuwinkte, dann hob ich grüßend die Hand und wir versuchten unseren Blicken für den Rest des Tages aus Verlegenheit auszuweichen. Doch wie ich, versuchte auch sie zwischendurch immer wieder mal heimlich rüberzulinsen, und wenn unsere Blicke sich wieder trafen, begann sie leise zu kichern.
Als hätte sie meinen Blick gespürt, hielt sie auf einmal inne und sah mich direkt an. Sie lächelte und winkte mir wieder zu, ich hob zur Begrüßung die Hand. Da legte sie den Stapel Kleider weg und tippte sich mit dem Finger auf ihr Handgelenk. Dann schlug sie ein paar mal hintereinander den Daumen und die anderen Finger ihrer linken Hand aneinander, malte ein Fragezeichen in die Luft und sah mich erwartungsvoll an. Ich hatte natürlich keine Ahnung was sie meinte und so zog ich bloß fragend die Schultern hoch. Zur Antwort machte sie eine abweisende Handbewegung und verschwand plötzlich aus meinem Blickfeld. Ich hielt die Luft an. Hatte ich sie etwa beleidigt? Ich wartete ein paar Sekunden und kurz darauf kam sie mit einem großen Zeichenblock unter dem Arm wieder, beugte sich über den Schreibtisch und hielt ihn an die Scheibe. Darauf hatte sie mit dickem Edding eine Telefonnummer geschrieben. Erleichtert atmete ich aus, griff nach dem Telefon und tippte die Nummer ein. Das Mädchen setzte sich an den Tisch und nahm den Hörer ab.
„Hi", sagte ich.
„Hallo", drang ihre Stimme vom anderen Ende der Leitung zu mir hinüber. Mein Herz machte einen Sprung. Ihre Stimme klang hell und klar, aber gleichzeitig, auch sanft und lieblich. Sie klang einfach nur umwerfend. Wir sahen uns bloß an. Wir beide warteten darauf, dass der andere etwas sagte. Doch wir beide schwiegen. Nach ein zwei Minuten, mir kamen sie wie eine Ewigkeit vor, begann sie plötzlich mitten in die Stille zu kichern. Zuerst war ich irritiert, doch dann musste auch ich lachen. Wie konnte es sein, dass wir uns einfach nichts zu sagen hatten? Es war so absurt, dass es schon wieder lustig war, und ihr Kichern begann in lautes Lachen überzugehen. So saßen wir eine Weile da und lachten. Als wir uns wieder beruhigt hatten fragte sie:
„Du bist ganz neu hier, oder?"
„Ja, ich wohn erst seit zwei Wochen hier."
„Gefällt dir die Gegend?"
„Ja schon. Ich bin vor allem hier, weil ich auf der Uni studiere."
„Ah ja. Hey, sag mal, du hast ja noch so ein altes Telefon", meinte sie. „Genauso eins habe ich auch!" Wie zum Beweis hielt sie es gegen das Fenster. „Ich dachte außer mir benutzt das keiner mehr!" Wieder begann sie fröhlich zu lachen.
„Stimmt, komischer Zufall. Meine Eltern haben es mir überlassen, die hatten das noch irgendwo rumstehen. Warum hast du so eins?"
Sie zuckte die Schultern.
„Ich mag diese Modelle sehr gerne. Die sind so schön handlich und unkompliziert."
In diesem Moment wurde mir klar, dass dieses Mädchen nicht nur süß, sondern auch etwas ganz besonderes war. In mir kam die Befürchtung auf, dass ich mich jetzt schon in sie verliebt hatte.

Wir unterhielten uns noch den ganzen Nachmittag über. Es wurde nicht eine Sekunde langweilig mit ihr und als ich am Abend ins Bett ging, war ich überglücklich. Ein Teil von mir wollte eigentlich die ganze Zeit nur aufspringen und zu ihr rüber laufen, aber ich beherrschte mich und blieb liegen bis ich eingeschlafen war.
Ich fuhr am nächsten morgen gegen acht mit dem Bus zur Universität. Vor dem Gebäude wartete Brian schon heftig winkend auf mich.
„Komm mit", rief er mir zu, als ich noch einige Meter entfernt war. „Ich stell dir meine Freunde vor!"
Die Gruppe seiner Freunde bestand aus einem Typen, der wohl das genaue Gegenteil von Brian zu sein schien und leicht wie ein Emo wirkte, einem sehr sportlichen muskulösen Jungen, von dem ich aber recht schnell merkte: große Klappe, nichts dahinter, einem Mädchen von dem ich mir nicht ganz sicher war, ob sie mit dieser Sportskanone zusammen war, auf jeden Fall tat sie gerne hin und wieder so. Außerdem einem Typen, der sich prächtig mit Brian verstand, da er seine leicht nervige Angewohnheit dumme Witze zu reißen mit Freude teilte. Der Unterschied war, dass Brian das was er sagte, vor allem im Bezug auf Horror toternst meinte, und der andere tatsächlich Witze machte. Und zum Abschluss gab es noch ein freundliches brunettes Mädchen, die die einzige zu sein schien, die einigermaßen normal drauf war. Anscheinend war sie mit dem Witzbold gut befreundet, was höchst wahrscheinlich der einzige Grund war, weshalb sie mit diesen Leuten rumhing. Es war schon eine seltsame Zusammenstellung, vor allem da ich nicht ganz sicher war, ob Brian wirklich mit allen befreundet war, oder ob sie ihn einfach aktzeptierten. Bei dem recht leicht bekleideten Blondinchen zum Beispiel, bei der ich mir inzwischen gemerkt hatte, dass sie Jennifer hieß, sah es eher so aus, als könnte sie ihn absolut nicht leiden und der Emo gab so gut wie nie etwas von sich, weshalb mir seine Gegenwart fast schon unangenehmer als die des protzigen Sportjungen war. Auf jeden Fall war mit diesem Freundeskreis jede einzelne Figur der Gruppe eines klischeehaften Horrorfilms abgedeckt. Kein Wunder, dass Brian gerne mit diesen Leuten abhing.
„Hey", meinte Brian. „Wie wärs wenn wir nächstes Wochenende alle zusammen etwas unternehmen?"
„Wieso?", fragte Jennifer in einem fast schon angewiederten Tonfall.
„Nur so, damit wir uns alle noch etwas näher kommen, und damit unser Neuling uns besser kennenlernt!" Mit „Neuling" war natürlich ich gemeint.
„Hm... Damit wir uns näher kommen", machte der Witzbold nachdenklich. „Hätte ich nichts dagegen", verkündete er, während er den Arm um Jennifer legte und ihr zuzwinkerte.
„Iiih, geh weg von mir!", war ihre entsetzte Reaktion.
„Alter, lass den Scheiß", mischte sich jetzt auch die Sportskanone ein und schob den Kerl mit einer Bewegung von dem Mädchen weg. Sie dankte ihm, in dem sie ihn verliebt anlächelte.
„Oh ich habs!" Alle sahen Brian erwartungsvoll an. „Eine Gruselnacht!"
„Klar, hätte ich mir denken können", stöhnte ich. Es klang mieser als beabsichtigt. Doch Brian war nicht beleidigt.
„Ne ne, jetzt warte doch mal, das wird cool", versicherte er. „Wir übernachten alle an einem mysteriösen Ort, den ich mir aussuche. Den untersuchen wir dann, und ich kann euch Geschichten von Luce Nightingale erzählen."
Das freundliche brunette Mädchen schaute irritiert.
„Luce Nightingale?" Sie schien tatsächlich noch nicht so lange zu Brians Freundeskreis zu gehören, denn selbst mir war inzwischen klar, dass Luce Nightingale seine Lieblingsmörderin, der Schattenpianist war. Die Gruppe, der Brians Vorschlag inzwischen wohl auch gefiel, unterhielt sich noch eine Weile über die bevorstehende Gruselnacht. Jennifer ließ sich noch garantieren, dass dafür gesorgt wurde, dass der Witzbold sie nachts nicht belästigte, und die Brunette, die offenbar Anna hieß, und wohl alles andere als begeistert von Horror war ließ sich von ihrem Sandkastenfreund dem Witzbold bestätigen, dass sie ruhig gehen dürfte, wenn es ihr zu gruselig würde. Und der Emo stimmte bei dem Plan einfach mit einem leichten Schulternzucken zu. Viel mehr bekam ich von der Unterhaltung jedoch nicht mehr mit, denn ich hing mit meinem Gedanken wieder an dem Mädchen von Gegenüber. Ob wir uns wohl heute treffen würden? Oder noch einmal telefonieren? Meine Gedanken wurden von dem Klingeln unterbrochen, dass uns anwies, wieder ins Gebäude zurückzukehren. Wir waren alle in unterschiedlichen Studiengängen. Der einzige in meinem Kurs war wiedermal Brian. Wir gingen zusammen in die Richtung zu unserem Saal. Ich bemerkte wie der Typ mich von der Seite musterte.
„Was ist?"
„Alter, du bist voll abwesend, was ist los?"
„Ich denke nur nach."
„Worüber denn?"
Ich versuchte mein Grinsen zu unterdrücken, doch Brian hatte es bemerkt.
„Uuuuh verstehe, Mädels wie? Okay, komm raus damit, wer ist es? Jennifer, Anna?"
„Ne ne, die sind nicht so ganz mein Typ." Er zuckte mit den Schultern.
„Meiner auch nicht. Komm schon, kenn ich sie?" Ich überlegte einen Moment, ob ich ihm wirklich von ihr erzählen sollte. Was solls...
„Sie wohnt gegenüber von mir. Ich glaub nicht, dass du sie kennst."
„Oh doch, meine Ex." Ich blieb stehen und starrte ihn geschockt an. Er lachte.
„Kleiner Scherz, sorry. Ne, die kenn ich nicht. Habt ihr euch getroffen?"
„Ehrlich gesagt haben wir nur telefoniert." Jetzt war es Brian, der mich schockiert ansah.
„Telefoniert, ist das dein ernst? Sie wohnt direkt gegenüber und ihr telefoniert nur? Alter, Frauen wollen erobert werden, und nicht nur doof angelabert." Es war ein Fehler, dass ich ihm davon erzählt hatte.
„Wie heißt sie?", fragte Brian interessiert. Ich stockte. Gute Frage. Wie hieß sie? Er konnte schon an meinem Blick ablesen, dass ich es nicht wusste.
„Vergisst der einfach nach ihrem Namen zu fragen. Du hast ja mal gar keine Ahnung von Frauen." Ich wurde leicht wütend.
„Und du schon oder wie?" Er zögerte kurz.
„Nein, aber ich bleib dran. Ich werde meine Luce niemals aufgeben. Weißt du, was das Beste an ihr ist? Egal wie alt sie ist, man sieht es ihr nie an."
„Du wünscht dir eine Beziehung mit einer bereits verreckten Mörderin?"
„Ey, sprich nicht so von meiner Luce! Sie hatte eine schlimme Vergangenheit. Sie hat ihren Vater sehr früh verloren. Weißt du, was ihr passiert ist? Drei ältere Brüder hatte sie, die sie, trotz ihres Talents, schlimm gemobbt haben. Das hat sie in den Tod getrieben. Seitdem sammelt sie die Seelen ihrer Opfer in Form von Schattenpuppen. Die Leiche wird zu einer richtigen Puppe. Und diese Schattenpuppen sind ihre Armee und ihre Familie. Sie braucht sie. Weißt du was? Ich glaube, sie macht das alles nur, weil sie einsam ist."
„Alter, du brauchst ne Freundin", war meine knappe Antwort. Brian verdrehte die Augen. Es erstaunte mich immer wieder, wie ernst er das alles nahm.
„Außerdem", begann er langsam, „wünsche ich mir gar keine Beziehung mit ihr. Mein wahrer Wunsch ist, eines Tages, wenn ich sterbe von ihr aufgenommen zu werden und Teil ihrer Schattenfamilie zu sein. Stell dir das mal vor! Sterben und dennoch unbeschwert weiterleben. Das wäre doch der Hammer!" Diesmal schwieg ich. Ich wollte ihm nicht entgültig die Illusion stehlen, wahrscheinlich bekam er sowieso schon oft genug von anderen zu hören, dass der Schattenpianist nicht existierte. Langsam aber sicher kam in mir der Verdacht auf, dass Brian selbst einsam war...

Als ich nach Hause kam, warf ich meine Tasche an die Seite und ließ mich auf mein Bett fallen. Da klingelte auch schon das Telefon. Ich nahm den Hörer ab.
„Hallo?"
„Hi", drang eine wunderschöne weibliche Stimme zu mir hinüber. Ich sah aus dem Fenster. Das Mädchen saß wieder am Schreibtisch, hielt sich mit einer Hand den alten Telefonhörer ans Ohr, und winkte mir mit der anderen sanft lächelnd zu. Sie musste mich kommen gesehen haben.
„Hey, wie geht's dir?", fragte ich und spürte wie mein Herz zu rasen begann.
„Ach, ganz gut, ich war nur ein wenig einsam. Wie war dein erster Tag in der Uni?"
„Ganz interessant. Hab ne Menge Leute kennengelernt. Weißt du, da ist so ein Typ namens Brian, absoluter Horrorfan. Und der will jetzt mit mir und noch ein paar anderen Leuten ne Gruselnacht veranstalten."
„Gruselnacht? Was passiert denn da?"
„Keine Ahnung. Wir übernachten an irgendeinem gruseligen Ort und erzählen uns Gruselgeschichten oder so. Ich hab ehrlich gesagt recht wenig Lust hinzugehen."
„Ach wieso? Klingt doch lustig." Mir lag eine Frage auf den Lippen, doch ich wagte es nicht sie auszusprechen. Ich musste erst noch ein wenig mehr auf das Thema eingehen.
„Bist du etwa auch ein Horrorfan?" Sie lächelte.
„Na ja, nicht direkt. Aber ab und zu ein wenig Spuk muss sein, findest du nicht?"
„Doch doch, ganz deiner Meinung." Das war gelogen. So hatte ich es vorher noch nie betrachtet. Jetzt war der richtige Zeitpunkt sie zu fragen.
„Hey, hast du nicht Lust am Samstag auch zu kommen?" Sie überlegte kurz. Ich hoffte nur, dass sie durch die Scheiben unserer Fenster nicht so deutlich erkennen konnte, wie mir das Blut in den Kopf schoss.
„Ja, ich hätte schon Lust, aber ich komme nur, wenn du auch kommst, okay? Alleine Gruseln macht keinen Spaß, und die anderen kenne ich ja gar nicht."
„Okay deal." Ich lächelte breit. Jetzt würde ich bestimmt auf jeden Fall hingehen. Ich stellte mir vor, wie sie neben mir saß, und sich vor Angst und Vergnügen an mir festklammerte. Ich würde auf mutig tun und sie schützend im Arm halten. Ich erlaubte meinen Gedanken nicht weiter zu gehen. Da fiel mir noch etwas ein.
„Du hast mir noch gar nicht deinen Namen gesagt." Sie kicherte leise.
„Du hast mir auch deinen nicht verraten." Da hatte sie Recht. Ich wollte mich gerade vorstellen, als sie auf einmal weitersprach.
„Weißt du was, lass es uns einfach dabei belassen. Ich finde, das hat irgendwie etwas Geheimnisvolles. Macht das Ganze spannender." Sie zwinkerte mir zu. Was hatte das zu bedeuten? Dachte sie auch an eine Beziehung? Stand sie auf mich? Ich musste Brian wohl oder übel recht geben. Von Frauen hatte ich keine Ahnung. Also nickte ich einfach. Sollte ich das Spiel eben noch eine Weile mitspielen. Sie hatte recht, es hatte irgendwie was. Außerdem würde sie mir sowieso spätestens beim Gruselabend ihren Namen sagen müssen, also was solls? Ich versuchte wieder auf ein Gesprächsthema zu kommen, da ich Angst hatte, ich könnte sie langweilen. Aber das einzige was mir jetzt noch einfiel, waren Brian und seine Gruselnacht.
„Hast du eigentlich schon mal vom Schattenpianisten gehört?", fragte ich schließlich.
Sie überlegte.
„Nicht sehr viel. Das war doch diese Mörderin."
„Ja genau. Brian ist total besessen von ihr. Er glaubt, dass es sie wirklich gibt." Das Mädchen lachte.
„Na wieso denn nicht?"
„Er erzählt mir immer, dass sie ihre Opfer in Puppen verwandelt, und dann ihre Seelen in Puppenform aufnimmt, und sie zu einem Teil ihrer Armee macht. Ich weiß, dass klingt bescheuert. Heute hat er mir erklärt, dass sie eine furchtbare Vergangenheit gehabt hätte, und, dass sie wahrscheinlich einsam wäre, aber weißt du, was ich glaube? Ich denke Brian ist selbst ziemlich einsam." Gott, ich kam mir so dumm vor, dass ich ihr das alles erzählte. Als ob sie sich dafür interessieren würde. Ich bemerkte, dass ihr Blick ziemlich ernst geworden war.
„Was genau erzählt er denn zu ihrer Vergangenheit?" Ich stockte. Sie interessierte sich doch dafür? Ich wünschte, ich hätte Brian besser zugehört, denn so ganz zusammen bekam ich es nicht mehr.
„Irgendwas mit drei älteren Brüdern, und das sie sehr talentiert gewesen sein soll." Ihre Miene erhellte sich wieder.
„Okay? Dieser Brian scheint ja echt verrückt nach ihr zu sein. Ich glaub, der braucht ne Freundin." „Ja, genau das hab ich ihm auch gesagt!" Wir beide lachten.

Am frühen Abend, als wir unser Telefonat endlich beendet hatten, fühlte ich mich außer stande noch irgendetwas produktives zu erledigen. Ich war zwar glücklich wieder mit meiner mysteriösen Nachbarin gessprochen zu haben, doch wenn ich mich in meiner Wohnung umsah, schrie es praktisch aus allen Ecken „Arbeit". Noch nicht ausgeräumte Umzugskartons, noch nicht aufgebaute Regale, noch nicht besorgte Utensilien und überall herumliegendes Werkzeug. Ich war eigentlich kein Chaot, aber so langsam hatte ich einfach keinen Bock mehr. Zwei Wochen schuften und kaum ein Fortschritt zu sehen. Ich ging in das zweite Zimmer meiner Wohnung, dass als Wohn- und Esszimmer dienen sollte. Hier sah es zumindest etwas besser aus. Ein entspannter Abend dürfte ja nicht schaden. Ich nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank und machte es mir auf einem Sitzkissen gemütlich. Zumindest war der Fernseher schon mal angeschlossen. Ich schaltete ihn ein und blickte kurz darauf auf das graue Störbild. Was war das denn? Erst vor ein paar Tagen hatte ich alles angeschlossen und es hatte funktioniert. Stöhnend stellte ich meine Flasche auf dem Boden ab und überprüfte die Anschlüsse. Hier war alles in Ordnung. Dann musste das Problem an der Antenne liegen. Fantastisch. Ich holte eine Leiter aus dem Keller meines Vermieters und lehnte sie außen an das Haus. Die Sonne hatte bereits begonnen unterzugehen und gab dem Himmel einen tiefroten Farbton. Der Abend war kühl und windig und es gab nichts worauf ich weniger Lust gehabt hätte, als jetzt auf's Dach zu steigen. Langsam kletterte ich Sprosse für Sprosse hinauf, damit die wackelige Konstruktion nicht umkippte. Noch mehr Mühe gab ich mir, keine Ziegel herunterzuschmeißen, denn ich hatte wenig Lust, gleich aus meiner ersten eigenen Wohnung wieder herausgeworfen zu werden. Ein paar Krähen saßen oben auf dem Dach und starrten mich an, als wollten sie mir jeden Moment die Augen ausstechen. Ich schlug mit einer Hand nach ihnen, und die Vögel flogen laut krächzend auf und landeten wieder auf der anderen Seite des Daches. Dann sah ich die Antenne. Offenbar hatte sich irgendetwas darin verfangen. Dann war das wahrscheinlich auch der Grund für das Störsignal. Je näher ich mich an die Antenne heranrobbte, desto besser konnte ich den kleinen Gegenstand darin erkennen.

Grinsend hielt ich Brian den Gegenstand vor die Nase.
„Weißt du, wo ich die gefunden habe? Auf meinem Dach. Keine Ahnung wie die da hoch gekommen ist."
„Wow", machte Brian begeistert, während er die kleine Stoffpuppe entgegen nahm.
„Oh mein Gott, das ist eine vom Schattenpianisten! Ich weiß es ganz genau, das hier war mal ein Mensch!"
„Ich wusste, dass du das sagst", erwiederte ich immer noch grinsend.
„Alter, es gab Bilder von genau solchen Puppen. Echt mal, kein Zweifel! Sieh nur, ihm fehlen die Augen. Wusstest du, dass man an den Puppen der Opfer erkennen kann, was sie ihm angetan hat? Krass, sie hat ihm lebendig die Augen ausgestochen. Armer Kerl."
„Aha."
Es war noch früh morgens, und unser Unterricht hatte noch nicht begonnen. Ich beobachtete, wie die Studenten nach und nach durch das Tor auf das Gelände der Uni kamen. Ich entdeckte Brians Emofreund, der unter einem Baum stand und ebenfalls durch die Menge blickte. Er hatte wohl wenig Lust sich zu uns zu gesellen. Konnte ich ihm nicht verübeln. Da gab Brian einen erschrockenen Laut von sich.
„Was ist?", fragte ich überrascht.
„Alter, weißt du was das hier heißt?", fragte er zurück und hiel mir die Puppen entgegen.
„Es ist ein Zeichen, dass uns gesandt wurde. Ein Zeichen, dass Luce hier in der Gegend ist. Sie streift nämlich umher und jetzt ist sie hier. Ihre treuen Schattenpuppen dienen übrigens nicht nur dazu, zu töten, sie haben noch eine andere Fähigkeit."
„Ach ja, welche denn?"
„Wenn sie sich um ihre Herrin herumwinden, können sie ihre wahre Gestalt somit decken und sie für uns, wie einen ganz normalen Menschen aussehen lassen. Sie kann aussehen wie sie will. Das bedeutet im Grunde könnte jeder hier der Schattenpianist sein. Sie zum Beispiel!" Er zeigte mit erhobener Stimme und ausgestrecktem Arm auf eine vorbeilaufende Studentin, die ihren Schritt daraufhin beschleunigte und ihn von der Seite ungehalten musterte. Ich verdrehte die Augen und drückte Brians noch immer ausgestreckten Arm wieder nach unten. Er grinste mich an.
„Ich muss das hier gleich den anderen zeigen. Kommst du mit?" Ich machte eine abweisende Geste.
„Nein danke, ich verzichte." Er zuckte mit den Schultern.
„ Alles klar, dann sehen wir uns im Kurs, bis gleich!" Mit diesen Worten rannte er davon. Ich blickte ihm noch kurz nach. Da bemerkte ich wie Jennifer auf mich zu kam.
„Hi." Sie wirkte ernst. „Können wir kurz unter vier Augen reden?" Ich nickte, konnte aber nicht einschätzen, wie sie sich fühlte. Wir gingen in einen kleinen Gang im Gebäude, der zu nur zwei Sälen führte. Dort befand sich niemand in Hörweite, vor allem, da die meisten vor ihren Kursen noch draußen oder in der Bibliothek waren. Ich sah sie erwartungsvoll an.
„Was ist denn los?"
„Es ist etwas passiert und ich muss es jemandem erzählen, sonst werde ich wahnsinnig. Ich hab das Gefühl, dass ich dir vertrauen kann." Ich nickte, trotz der Tatsache, dass wir uns erst seit einem Tag kannten. Die Leute in dieser Gegend schienen ja sehr kontaktfreudig zu sein. Jennifer sah zu Boden.
„Ich habe einen Stalker." Ich schwieg. „Du kennst ihn auch."
„Was?"
„Du erinnerst dich an den Typen, der immer mit Brian abhängt? Der, der immer versucht lustig zu sein. Sein Name ist Nicholas. Und er stalkt mich."
„Ich dachte, ihr wärt befreundet."
„Nein, bisher habe ich so getan, als würde ich es nicht bemerken. Aber gestern..." Sie schluchzte laut auf. Ich wusste nicht so recht was ich tun sollte, also blieb ich wie angewurzelt stehen und hörte ihr weiter zu.
„Was war gestern?"
„Er ist in mein Haus gekommen, während ich geduscht hab. Ich hab es nicht gleich bemerkt. Er hat Bilder..." Weiter kam sie nicht, denn danach brach sie in Tränen aus. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Beziehungen zwischen Brians sogenannten Freunden so schlimm wären. Ich umarmte Jennifer tröstend, um sie zu beruhigen.
„Ich hab Angst.", hörte ich sie flüstern. Ich war selber schockiert. Ich spürte, wie sie ihr Gesicht gegen meine Brust drückte. Lansam zog sie sich an mir hoch und ehe ich realisiert hatte, was gerade passierte, lagen ihre Lippen auf meinen. Schnell machte ich einen Schritt von ihr weg. Sie lächelte sanft.
„Jennifer", stieß ich hervor.
„Nenn mich Jenny", antwortete sie. Ich starrte sie bloß an.
„Komm schon", hauchte sie, während sie sich wieder auf mich zu bewegte. „Du willst es doch auch..." Sie legte ihre Hand auf meine Brust und drückte mich mit einer sanften Bewegung nach hinten. Mein Rücken stieß gegen die Wand.
„Ich dachte, du wärst mit dieser Sportskanone zusammen", brachte ich krächzend hervor.
„Marc?" Sie lachte auf. „Ach was..." Meine Kehle war wie zugeschnürt. Ich spürte, wie sie ihr Becken gegen meinen Körper drückte. Das Blut pulsierte in meinen Ohren. Ihre rechte Hand fuhr durch meine Haare und wieder versuchte sie mich zu küssen, als auf einmal das laute Klingeln ertönte. Genervt verdrehte sie die Augen, doch ich nutze diesen Moment, um mich aus ihren Fängen zu befreien.
„Tut mir leid..." Ich schnappte meine Tasche und versuchte ihrem Blick auszuweichen. Doch ich bemerkte ihren kalten Ausdruck. Ich räusperte mich.
„Ich rede mit Brian wegen der Stalkersache, mach dir keinen Kopf." Ich wollte mich umdrehen und gehen. Da nahm sie plötzlich meinen Arm und legte ihr Gesicht so nah an meines, dass sich unsere Wangen berührten.
„Wir sind noch nicht fertig", flüsterte sie amüsiert. Dann ließ sie mich los und ich konnte endlich aus ihrem Blickfeld verschwinden. Ich eilte in die Richtung meines Kurssaals und verfluchte mich durchgehend für das, was ich getan hatte. Ich war so dumm! Warum hatte ich ihr nicht einfach gesagt, dass ich nicht auf sie stehe? Ich fühlte mich, als hätte ich meine Nachbarin betrogen, noch ehe wir zusammen waren. Ich kam an meinem Raum an. Die Tür war noch offen, der Lehrer war noch nicht da, Gott sei Dank. Noch immer spürte ich die Stellen an denen mich Jennys Becken berührt hatte. Ich schüttelte meinen Kopf heftig, um meine Gedanken zu befreien. Seufzend ließ ich mich auf der Bank nieder. Da kam auch schon der Lehrer, und der Unterricht begann. Ich sah Brian auf der anderen Seite des Raums sitzen. Die Puppe lag vor ihm auf dem Tisch.

Die nächsten Tage verliefen relativ ruhig. Ich telefonierte noch ein paar mal mit dem Mädchen, lernte fleißig für die erste Prüfung, ließ mir von Brian mehr zur Gruselnacht und dem Schattenpianisten erzählen und versteckte mich so gut es ging vor Jennifer. Ich fühlte mich furchtbar, dass ich noch nichts wegen dem Stalker unternommen hatte und, dass die einzige feige Lösung, die mir einfiel mich verstecken war. Aber ich hoffte, dass Jenny so das Interesse an mir verlieren würde.
Es war nun Freitag.
In der zweiten Stunde, in Chemie saßen Brian und ich nebeneinander.
„Hey, am Dienstag vor dem Unterricht. Was wollte Jenny da eigentlich von dir?", hörte ich Brian neugierig fragen. Wieso fiel ihm das denn jetzt wieder ein?!
„Öhm... das muss ich dir nachher erzählen", lenkte ich ab. Ich hantierte gerade mit gefährlichen Säuren. Da war absolute Konzentration gefragt. Brian zuckte gleichgültig mit den Schultern. Er hielt, wie schon die ganze Woche über, wieder die Puppe, die ich auf dem Dach gefunden hatte in der Hand. Ich deutete auf sie.
„Sag mal ist dir das nicht langsam irgendwie peinlich?"
„Peinlich?! Das ist der absolute Wahnsinn!" Offensichtlich war seine Begeisterung für mein Geschenk noch immer nicht gesunken.
„Das hier ist mein neuer Glücksbringer. Auf das er mich eines Tages zum Schattenpianisten führt. So lange trage ich ihn immer mit mir herum." Er machte eine schwingende Handbewegung, wobei die baumelnden Beine der Puppe eines der Reagenzgläser streiften. Es kippte klirrend um und die Säure fiel über unseren Tisch her, wie eine Horde gieriger Termiten. Ich sprang zurück, um nicht ebenfalls von dem Zeug verätzt zu werden, wobei ich allerdings an den Tisch hinter mir stieß und ebenfalls zwei Reagenzgläser umwarf. Die Studenten wichen mit einem Aufschrei zur Seite aus.
„Was ist da hinten los?", schrie die Lehrerin und kam durch die Reihen gestapft. In diesem Moment trafen die beiden Säuren der Leute die hinter mir saßen aufeinander, und eine kleine Exposion entstand. Erschrockene Schreie klangen durch die Klasse. Die Dozentin warf schnell eine Löschdecke über den Tisch, bevor sie zornig aufsah.
„Wer ist für dieses Chaos hier verantwortlich?"
Ich meldete mich und forderte Brian mit einem zornigen Blick auf sich ebenfalls zu melden. Er gab nach.
„Aha, ihr zwei. Die Tische kann man wegwerfen. Also gut, zur Strafe kommt ihr beide heute Abend her, räumt den Saal auf und baut zwei Ersatztische auf, verstanden? Außerdem werdet ihr die Tische bezahlen." Mit diesen Worten drehte sich die Frau wieder um und ging zurück ans Pult, während ich Brian noch immer wütend ansah. Er kicherte verlegen. Für den Rest des Tages wollte ich kein Wort mehr mit ihm wechseln. Es reichte ja, wenn wir den Abend zusammen verbringen mussten. Wir hatten später beide eine Freistunde. Ich setzte mich in der Bibliothek an einen Tisch und laß ein Sachbuch über das menschliche Hirn. Da bemerkte ich, wie Brian sich mir gegenüber setzte.
„Hey, sorry wegen vorhin. Komm, die Straße runter ist ne Dönerbude, ich spendier dir ein Mittagessen, okay?"
„Psst", zischte ich, da mir der böse Blick der Bibliothekarin auffiel. „Ich will lesen." Brian betrachtete das Buch und grinste dann breit.
„Streber! Ach komm schon, du bist doch bloß beleidigt."
„Nein damit hat das gar nichts zu tun, ich will nur nicht wieder negativ auffallen", flüsterte ich. Er stöhnte.
„Na schön. Wir sehen uns nachher." Er ging. Ich versuchte mich in das Buch zu vertiefen, doch auf einmal kam es mir wie der letzte Mist vor und ich stand auf, um mir irgendwas anderes zu suchen. Unsere Bibliothek war sehr groß, und es gab viele Winkel und Ecken in denen man ungestört lesen konnte. Ich hatte das Buch in der allerletzten Abteilung gefunden und brachte es wieder dorthin zurück. Dann ging ich an dem langen Regal entlang, und schaute mich nach was spannenderem um. Auf einmal spürte ich, wie sich zwei Arme um meinen Bauch schlangen und jemand den Kopf auf meine Schulter legte.
„Na, suchst du nach etwas interessanterem?", hörte ich Jennys Stimme an meinem Ohr. Ich drehte mich um und sah sie an. Wie immer war sie stark geschminkt. Ihr hellblondes Haar trug sie offen, was ihr schönes Gesicht umrahmte. Mein Blick fiel auf ihr viel zu weit ausgeschnittenes Shirt. Hätte ich lieber nicht hingeschaut.
„Ich glaube, du hast es gefunden", wisperte sie amüsiert. Sie griff mich an der Jacke.
„Äh was, äh Jenny..." Weiter kam ich nicht, denn schon begann sie mich zu küssen. Wieder pulsierte das ganze Blut in meinem Körper, ich war wie gelähmt. Das war so falsch. Ich nahm sie an den Schultern und drückte sie von mir weg. Sie sah mich mit großen Augen an. Ich musste ihr sagen, dass ich nicht auf sie stand und, dass ich in ein anderes Mädchen verliebt war und, dass sie aufhören sollte. Es gab nur ein Problem bei der Sache: Es fühlte sich gut an.
Ich zog sie wieder an mich heran und küsste sie leidenschaftlich. Sie duftete nach Parfüm, der Geruch ließ mich vergessen, was ich tat. Ich spürte nur noch sie, und alles um uns herum war fort. Ich spürte ihre Hand in meinen Haaren, ihre Zunge in meinem Mund, ihre weichen warmen Lippen auf meinen trockenen und ihr Becken an meinem. Sie stöhnte genießerisch. Da schlang sie ihr Bein, um meine Beine und hängte sich an mich. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich verlor das Gleichgewicht und sie fiel mit dem Oberkörper auf einen der zwischen den Regalen stehenden Tische, doch dass schien sie nicht zu stören. Ihre Arme lagen immer noch um meinen Hals, so dass ich nun über sie gebeugt stand. Ihr Shirt war verrutscht und ich konnte ihren feinen Spitzen-BH sehen. Sie lachte, während ich ihren Hals und ihre Lippen küsste. Wundervoll! Plötzlich hörte ich einen Aufschrei hinter mir.
„Was ist denn das?! Sind wir hier in einer Universität oder in einem Stripclub? Macht sofort das ihr hier raus kommt!" Jenny und ich fuhren vor Schreck zusammen. Die wütende Bibliothekarin stand mit hochrotem Kopf vor uns. Ich erwachte aus meinem Trancezustand. Was hatte ich nur getan? Doch Jenny schien absolut nicht irritiert.
„Ja ja", machte sie nur genervt. Schnell verließ ich die Bibliothek, damit die Frau keine Zeit hatte sich mein Gesicht zu merken. Ich hetzte über den Hof. Ich konnte mich selber nicht verstehen. Was wollte ich eigentlich? Schon bereute ich es, dass ich nicht mit Brian zur Dönerbude gegangen war. Wollte ich etwa doch was von Jenny? Oder suchte ich in ihr nur die körperliche Nähe, die mir zu meiner Nachbarin fehlte, in die ich wirklich verliebt war? Ja, das musste es sein. Aber das war natürlich absolut falsch. Von wegen nicht mehr negativ auffallen. Da tippte mir jemand mit dem Finger auf den Rücken. Oh nein... Ich wagte es kaum mich umzudrehen, doch da ertönte ein Räuspern. Es war der Emo. Gott sei Dank.
„Ja?", fragte ich so neutral wie möglich. Der Emo hob einen Rucksack hoch.
„Du hast deine Tasche in der Biblothek vergessen." Überrascht nahm ich sie entgegen.
„Danke." Ich hätte nicht gedacht, dass der Typ so nett wäre.
„Wie heißt du nochmal?", fragte ich.
„Dustin."
„Okay, danke Dustin, ist echt cool von dir." Er nickte. Ich drehte mich um, um wohin auch immer, weiterzugehen, als plötzlich ein Schlag auf meinem Gesicht landete. Benommen fiel mir auf, dass ich am Boden lag. Was war passiert? Dann ein Tritt in meine Hüfte.
„Hör auf damit!", hörte ich Dustin rufen. Die Person reagierte nicht und trat noch ein paar mal zu. Ich bekam keine Luft mehr und krümmte mich, um die Tritte ein wenig abzuwehren. Dann wurde ich am Kragen gepackt und wieder auf die Beine gezogen. Wieder, wie so oft an diesem Tag, blickte ich in ein wütendes Gesicht. Ich war mit dem Typen auf Augenhöhe, was aber daran lag, dass ich zehn Zentimeter über dem Boden baumelte.
„So, du fängst also einfach was mit meiner Freundin an?"
„Marc, lass ihn in Ruhe, er war nicht Schuld!" Marc... Der Name löste etwas in meinem Kopf aus. Da fiel es mir wieder ein, die Sportskanone. Inzwischen waren auch andere Studenten auf uns Aufmerksam geworden und ein Kreis von Leuten sammelte sich um uns.
„Bitte, du willst sie haben? Dann kämpfen wir!" Was zum Teufel?! Er warf mich nach vorne und ich fiel in eine Menge von Studenten, die mich festhielten, so dass ich nicht wieder umkippte.
„Hör mal, du verstehst das falsch", versuchte ich ihm zu erklären, doch er hörte gar nicht zu. Ein paar kräftige Studenten versuchten ihn festzuhalten, doch der Kerl war so in Rage, dass niemand ihn aufhalten konnte. Jetzt bekam ich Panik.
„Ich will doch gar nichts von ihr!", schrie ich.
„Dann lass auch deine Finger von ihr!" Er schlug heftig mit der Faust in meine Magengrube. Ich sank auf den Boden zusammen und presste die Lippen aufeinander, um nicht zu weinen. Da mischte sich auf einmal noch eine Person ein.
„Ach, spiel dich nicht so auf." Es war Jenny.
„Aber du hast mich betrogen!"
„Betrogen? Waren wir jemals zusammen? Und übrigens ist überhaupt nichts passiert. Du tust so, als hätten wir Sex gehabt." Marc schwieg. Ich sah, wie er auf sie zu ging.
„Aber ich dachte, du liebst mich." Sie verdrehte die Augen.
„Loser." Mit diesem Wort drehte sie sich um und verließ den Kreis. Die umstehenden Leute tuschelten. Marc wurde zornig.
„Was ist? Habt ihr nichts besseres zu tun?", schrie er. „Verschwindet!" Die Menge löste sich auf und nur Dustin, Marc und ich blieben zurück. Nun sank auch Marc auf dem Boden zusammen. Ich glaubte, dass er weinte, war mir aber nicht sicher. Dustin ging zu Marc hinüber und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Lass sie. Die Schlampe ist es nicht wert. Auch wenn du sie liebst, mach andere nicht dafür verantwortlich, was sie dir antut." Zu meiner Überraschung nickte Marc, stand auf und kam zu mir herüber.
„Geht's?" Ich nickte, obwohl ich kaum Luft bekam und nichts sagen konnte. „Du, nimm's nicht persönlich, ich hab wohl etwas überreagiert..." In diesem Moment kam uns Brian entgegen.
„Was ist denn hier los?" Marc sah beschämt zu Boden, der Emo schwieg. Also antwortete ich.
„Nichts weiter, mir ist nur etwas übel, aber es geht schon wieder." Mit dieser Antwort ersparte ich sowohl mir als auch Marc die Blamage. Er haute mir freundschaftlich auf den Rücken.
„Okay Kumpel, sehen wir uns bei der Gruselnacht?" Ich nickte und zwang mich zu einem Lächeln. Dann ging er und ich ging, mit einem Arm auf Brian und mit dem anderen auf Dustin gestützt ins Krankenzimmer, doch es schien tatsächlich nichts schlimmes passiert zu sein. Schon nach einer halben Stunde ließ der Schmerz nach. Meine Laune blieb aber natürlich auf einem Tiefpunkt. Ich hatte heute einfach zu viele wütende Gesichter gesehen.

Um so mieser war es, später, nach Schließung der Uni im Unterrichtssaal zu sitzen und zwei Ikea-Tische zusammenzuschrauben. Vor allem da Brian, der die Ereignisse des Tages nur zum kleinsten Teil mitbekommen hatte, wieder unaufhörlich von irgendwelchen Horrorfilmen sprach, während er mit der Puppe spielte. Langsam konnte ich das Ding echt nicht mehr sehen.
„Brian, wie wäre es, wenn du mir einfach ein bisschen hilfst, okay?" Er sah mich beleidigt an.
„Ich helfe dir doch, ich hab den Saal gekehrt."
„Wow...", machte ich ironisch.
„Was soll ich denn sonst machen?"
„Du könntest zum Beispiel schon mal die kaputten Tische zersägen." Brian schien der Vorschlag zu gefallen. Er steckte die Puppe ein und begann ungeschickt an den halb verätzten Tischen herumzusägen. Da fiel mir noch etwas ein.
„Brian, es gibt da eine Sache, über die ich mit dir reden muss."
„Ach ja?"
„Es geht um deinen Freund Nicholas."
„Ach ja, der ist cool. Was ist mit ihm?" Ich überlegte, wie ich ihm das am Besten sagen sollte. Doch dann kam ich zu dem Schluss, dass der direkte wohl der beste Weg wäre.
„Jenny hat mir erzählt, dass er sie stalkt."
„Na ja, er steht halt schon lange auf sie und versucht sich deshalb manchmal an sie ranzumachen. Aber, das darf man nicht so ernst nehmen, der macht nur Spaß." Er hatte mich offensichtlich falsch verstanden.
„Ich meinte eigentlich, dass er sie wirklich stalkt. Vielleicht steht er ja auf sie, aber das geht zu weit. Das ist kein Spaß mehr. Er verfolgt sie nach Hause und dringt einfach ein."
„Was? Quatsch, du kennst Nicholas nicht, das würde er nie tun. Wann soll er denn bitte bei ihr zu Hause gewesen sein und vor allem, warum sollte Jenny sich das gefallen lassen. So wie ich sie kenne, hätte sie gleich die Polizei gerufen und es überall rumposaunt, nur damit sie sich wichtig fühlt." Ich überlegte kurz, wann sie es mir erzählt hatte.
„Also sie meinte, es war Montag, dass er bei ihr war. Sie hat gesagt, sie stand gerade unter der Dusche und er kam rein, und noch irgendwas mit Bildern, und das ist dann echt kein Spaß mehr."
„Ne, also Montag war Nicholas eigentlich fast den ganzen Tag bei mir, ich könnte mir das echt nicht vorstellen, dass er danach noch zu ihr ist."
„Ja, ich weiß es halt auch nicht sicher, aber sie hat mich eben gebeten was zu unternehmen, also, wenn dir irgendwas seltsames auffällt, dann ignorier es bitte nicht, okay?" Brian nickte.
„Alles klar, danke, dass du es gesagt hast. Ich achte mal drauf, aber wie schon gesagt, ich kann mir das echt nicht vorstellen." Ich war froh, dass das geklärt wäre und machte mich wieder an die Arbeit. Nach einer Weile begann Brian wieder mit seinem Lieblingsthema.
„Weißt du, was voll gruselig ist?"
„Lass mich raten, es hat was mit dem Schattenpianisten zu tun."
„Ja, du weißt doch, dass sie mal Puppen gesammelt hat, als sie noch ein Mensch war. Und dann hat sie angefangen, sich selbst zu einer Puppe umzubauen, vor allem die Gelenke. Mit ihren Fingern hat sie angefangen, weil ihre Brüder ihr mal..."
„Komm schon worauf willst du hinaus?" Ich hatte wenig Lust, mir wiedermal die Lebensgeschichte einer erfundenen Mörderin anzuhören.
„Okay, dadurch, dass sie so viel handwerklich gearbeitet hat, hat sie sich angewöhnt, immer nur mit Werkzeugen zu kämpfen, und wir haben hier doch so viel davon herumliegen, da hätte sie eine große Palette an Möglichkeiten, wie sie uns umbringt." Ich verdrehte die Augen.
„Apropos Werkzeug, wo ist der Schraubenschlüssel?"
„Keine Ahnung, müsste hier irgendwo..." Brian stockte.
„Was ist?"
„Hast du das gehört?" Ich lauschte.
„Was denn, ich hör nichts."
„Doch doch doch, da war was, so ein Kratzen..." Ich lauschte noch einmal. Da ertönte ein lautes Klirren. Ich zuckte zusammen.
„Schnell, mach das Licht aus!", zischte ich. Brian löschte das Licht und wir lauschten noch einmal.
„Was glaubst du was das ist?", flüsterte er. Ich schaute ihn mit ernster Miene an.
„Da bricht jemand ein, denke ich." Trotz fast vollkommener Dunkelheit, sah ich die Angst in Brians Augen. Lautlos nahm ich mir eines der noch losen Tischbeine und wieß Brian an, mir zu folgen. Er schnappte sich eine Taschenlampe, ließ sie aber zunächst ausgeschaltet und blieb dicht hinter mir. Ich öffnete vorsichtig die Tür und schlich in den dunklen Flur hinaus. Mein Herz klopfte so laut, dass ich befürchtete, derjenige könnte es hören. Am Ende des Flurs lag eine kleine Vitrine umgekippt am Boden. Das erklärte das Klirren. Da huschte plötzlich ein kleiner Schatten vorbei. Ich glaubte ihn erkannt zu haben.
„Was war das?", flüsterte Brian verängstigt.
„Eine Katze, glaub ich."
„Was macht eine Katze in der Uni?"
„Keine Ahnung, sie muss ein Schlupfloch gefunden haben. Aber sie muss hier raus. Los, mach das Licht wieder an. Ich warte hier." Brian verschwand in der Dunkelheit. Nach ein paar Sekunden drang auf einmal ein Ruf zu mir hinüber.
„Ähm, kleines Problem... Stromausfall."
„Wenn du mich verarschst, ist das nicht witzig."
„Nein, ernsthaft!" Ich stöhnte auf. Super...
„Okay, dann suchen wir sie so. Wir teilen uns auf, einverstanden?"
„Alles klar!"
Ich leuchtete mir mit meinem Handy den Weg. Trotzdem legte ich das Tischbein noch nicht aus der Hand, denn irgendetwas in mir befürchtete, dass sich hier nicht oder nicht nur eine Katze befand. Da huschte blitzschnell irgendetwas an mir vorbei.
„Komm kleine Mietze, hab keine Angst." Ich schnalzte mit der Zunge, um sie anzulocken. Gerade öffnete ich den Mund, um Brian zu verständigen, als ein Ruf zu mir hinüberdrang.
„Hab sie gefunden!" Mir blieb das Herz stehen. Er hatte sie gefunden? Was hatte dann ich gefunden? Ich spürte wie ich begann zu hyperventilieren. Wieder schnellte ein Schatten an mir vorbei. Ich rannte los.
„Brian!" Da tauchte eine Gestalt vor mir auf. Wir beide landeten auf dem Boden. Wie in Trance starrte Brian mich an.
„Brian?", flüsterte ich. Plötzlich ertönte ein lautes, schallendes Kinderlachen. Es klang, wie aus weiter Entfernung und dennoch absolut unverkennbar. Ich zitterte so stark, dass mir das Tischbein aus der Hand fiel.
„Sie ist hier", flüsterte Brian ruhig und langsam. Sein Kopf drehte sich langsam nach rechts. Ich folgte seinem Blick und schrie auf. Ein riesiger Puppenschatten legte sich vom Boden bis zur Decke über die Wand. Mein Herz raste und mein Puls war auf hundertachzig. Einen Moment lang starrte ich nur den Schatten an, doch dann fiel mir auf, dass es sich um den Schatten der Puppe handelte, die ich ihm geschenkt hatte. Sie saß auf dem Boden und dahinter lag die Taschenlampe, die Brian sich geschnappt hatte. Sie warf das Licht an die Wand und erzeugte damit den riesigen Schatten.
„Lass die Scheiße", schrie ich. Brian schüttelte den Kopf, als würde er nun aus dem Trancezustand erwachen. Dann stand er auf, schnappte sich die Puppe, hielt sie, wie eine Opfergabe in die Luft und rief laut: „Oh Schattenpianist, ich weiß du bist hier! Ist es das, was du begehrst? Hier ich bringe es dir zurück und bitte dich, nimm mich zu dir! Lass mich ein Teil von dir sein!" Ich hatte den Drang ihn einfach stehen zu lassen, und wegzulaufen, doch das brachte ich nicht über mich, denn irgendjemand war hier, egal ob es bloß Studenten waren, die uns einen Streich spielten, oder tatsächlich jemand, der uns Böses wollte. Also packte ich Brian an den Schultern und zischte: „Lass den Mist! Das hier ist nicht der Schattenpianist, wir müssen die Polizei rufen!" Brian sah mich an.
„Du hast sie auch gesehen. Die Schatten... Nimm mich zu dir!", schrie er noch einmal laut. Ich zuckte zusammen. Jetzt konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich stürmte davon in Richtung Ausgang. Irgendwo vor mir ertönte ein dumpfer Schrei. Ich blieb stehen und presste mir beide Hände auf den Mund und die Nase, da mein Atem immer lauter wurde. Dann wollte ich umdrehen, und in die andere Richtung rennen, doch plötzlich stolperte ich über irgendwas. Ich lag am Boden. Das Licht flackerte auf. Ich konnte niemanden sehen. Dann war es im Flur auf einmal wieder hell. Ich legte den Arm über meine Augen, um mich langsam ans Licht zu gewöhnen. Als ich ihn wieder runternahm, stand Brian vor mir.
„Hey, alles okay?" Er half mir auf. „Tut mir leid, wegen eben. Ich war grad beim Stromkasten. Die Sicherung war rausgeflogen. Hab's schnell wieder gerichtet. Was ist mit dir? Hast du sie gesehen?"
„Wen?"
„Luce!" Genervt klopfte ich den Dreck von meinen Klamotten.
„Jetzt hör doch endlich auf damit." Ich blickte auf den Boden, um zu sehen, worüber ich gestolpert war, doch da war nichts. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ich versuchte abzulenken.
„Wie hast du den Kasten eigentlich aufbekommen?"
„Er wurde aufgebrochen."
„Was?!"
„Hiermit." Er holte den verlorenen Schraubenschlüssel hervor. Ich schüttelte den Kopf.
„Also, wenn du mich nicht verarschst, dann verarscht uns irgendjemand." Brian sah mich ernst an.
„Werkzeug, Schatten, Mädchenlachen. Ich weiß, du willst mir nicht glauben, aber ich bin mir ganz sicher: Luce war hier."



der Schattenpianist 2Where stories live. Discover now