Ich schluckte, als sich nach und nach die Köpfe in meine Richtung bewegten. Man musterte mich von oben bis unten. Ich wünschte mir fast, meinen Fettpanzer wieder um mich zu haben. Ich fühlte mich ungeschützt und wartete auf die ersten dummen Sprüche.

Doch sie kamen nicht.

Zumindest für den ersten Moment schien es ihnen die Sprache verschlagen zu haben.

Noch immer verunsichert ging ich zu meinem Platz, der direkt neben Jona Fitz war. Am Ende des zweiten Semesters wurde er neben mich gesetzt, weil ich nie ein Wort sagte und seine Klappe umso größer war. Für jeden Lehrer war das stets die ideale Kombination an Sitznachbarn, für mich war es ein Alptraum, der seinesgleichen suchte. Jona war ein Fiesling, wie es ihn in jedem Teenie-Film gab. Er war von Grund auf böse und schien es sich zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht zu haben, mir das Leben so schwer wie möglich zu machen. Einmal, hatte er mir einen in Kirschsaft getränkten Tampon in den Rucksack geschmuggelt und ein anderes Mal, hatte er mir einen Spicker untergejubelt und meine Lehrerin darauf hingewiesen, dass ich betrüge. Das Resultat war ein knallrotes Gesicht meinerseits und eine Sechs hinter meinem Namen im Klassenbuch.

Doch wie es mit Fieslingen so war, hatten sie auch immer irgendwie etwas Anziehendes. Ich gab es nicht gern zu, aber wenn ich manchmal abends im Bett lag und meinen Fantasien freien Lauf ließ, stellte ich mir vor, wie er zu mir kam und mir gestand, dass all seine Gemeinheiten nur Tarnung waren und er sich eigentlich in mich verliebt hatte. Dann küsste er mich und er stellte sich als supernetter Typ heraus. Irgendwie glaubte wahrscheinlich jedes Mädchen daran, dass hinter jedem Fiesling auch eine sensible Seite steckte.

Ich liebte meine Traumwelten, auch wenn mir bewusst war, wie lächerlich meine Fantasien waren.

Ohne Jona anzusehen, setzte ich mich neben ihn.

„Wie wäre es mit einer Begrüßung?", sprach er mich an.

Irritiert wanderte mein Blick zu ihm. Er sprach mich nie an und schon gar nicht begrüßten wir uns.

War das gerade ein Lächeln auf seinem Gesicht? Was für ein falsches Spiel war das denn schon wieder? Mir entging nicht, dass der Rest der Klasse uns beobachtete. Ich erwartete einen miesen Streich, der mir den Start ins dritte Semester verderben sollte. Kaum hatte der erste Schultag begonnen, da hatte ich auch schon wieder keinen Bock auf Schule.

„Habe ich irgendwie einen fetten Pickel im Gesicht oder warum starrst du mich so an?", hakte er nach, ohne jedoch Feindseligkeit mitklingen zu lassen.

Ich sah ihn erstaunt an und konnte nicht widerstehen, mich kurz an seiner Schönheit zu ergötzen. Seine Haut war so rein, sodass er jede Beauty-Kampagne übernehmen könnte. Ich war mir nicht mal sicher, ob er überhaupt Poren hatte. Jede Strähne seiner braunen Haare saß perfekt und man wurde das Gefühl nicht los, dass er das Meisterstück von Gottes menschlicher Schaffung war. „Verrätst du mir deinen Namen?"

Ich verstand die Welt nicht mehr und glotzte ihn an.

Er wollte meinen Namen wissen?

„Lina", antwortete ich und ärgerte mich, dass ich überhaupt auf ihn reagierte.

„Schöner Name. Ich bin Jona." Das Lächeln war nicht mehr aus seinem Gesicht zu bekommen. Hatte er heute Morgen ein Joint zu viel geraucht? „Wir werden eine gute Zeit haben. Eigentlich sitzt hier so ein Klopskind, aber offensichtlich taucht sie heute nicht mehr auf. Und wenn doch, soll sie ihren fetten Arsch woanders hinschwingen."

Erst jetzt fiel bei mir der Groschen. Er erkannte mich nicht. Keiner hier tat das. Ich hatte mich so sehr verändert, dass ich für sie das neue Mädchen war. Ich konnte es nicht fassen.

Frau Beyer betrat den Klassenraum und alle verstummten. Sie war eine Hexe mit knochigen Fingern und Beinchen wie Streichhölzern, die so dünn waren, dass sogar die schwarze Strumpfhose schlabberte. Der Charakter von Frau Beyer war böse und ich bezweifelte, dass sie überhaupt so etwas wie eine Seele hatte. Ihr Blick blieb an mir haften.

„Warum hat mir keiner gesagt, dass ich eine neue Schülerin im Kurs hab?", brabbelte sie genervt vor sich hin. „Wie heißt du?"

Selbst sie erkannte mich nicht? Das war doch unglaublich! Hatte ich mich wirklich so sehr verändert? Ich saß schließlich noch auf dem gleichen Platz wie letztes Jahr. Da war es doch auch nicht so abwegig, dass ich das Pummelchen war, das sie alle gemobbt hatten. Nur eben mit ein paar Kilos weniger auf den Rippen und einem kleinen Makeover.

Ich hätte sie alle in diesem Augenblick aufklären können. Ich hätte ihnen erzählen können, wie ich in den letzten Monaten jede einzelne Kalorie gezählt hatte, mich ins Fitnessstudio gequält und gegen meinen Schweinehund mit allen ABC-Waffen gekämpft hatte.

Aber warum sollte ich das tun?

„Lina Peterson", sagte ich entschieden. Dank der Scheidung meiner Eltern hatte ich Kaufmann als Nachnamen in den Ferien ablegen können.

Auf Frau Beyers Liste stand aber mit Sicherheit Pauline Petersen eingetragen, doch sie fragte nicht weiter nach und machte einfach nur einen Haken. Offensichtlich akzeptierte sie es, dass ich bei meinem Spitznamen genannt werden wollte. Ich war ihr dafür unglaublich dankbar.

„Willkommen im Kurs", sagte sie knapp und fing dann mit einer Rede über organisatorisches Zeug an.

Ich spürte einen leichten Stoß in meine Rippen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals von einem Mitschüler berührt worden zu sein. Für gewöhnlich wollte man mich nicht mal im Sport-Team haben und wie sie mir sagten auch nicht in der gleichen Umkleidekabine, da mein Anblick bei ihnen Übelkeit auslöste.

„Hey.", sagte Jona grinsend.

Was sollte das denn jetzt werden? Seine blauen Augen sahen mich an. Er war hübsch und das Schlimmste war, dass er das wusste. Typen, die sich ihrer Attraktivität bewusst waren, waren mit Abstand die Schlimmsten. Und Jona wusste genau, was für tolle Lippen er hatte und wie perfekt sich seine Wangenknochen abzeichneten.

„Soll ich dir in der Pause die Schule zeigen?", bot er mir an und schien das sogar ernst zu meinen.

Ich hatte noch nie geflirtet und mit Sicherheit hatte auch noch nie jemand mit mir geflirtet, aber in diesem Moment bekam ich das Gefühl, dass ich gerade eine Premiere erlebte.

Jona flirtete mit mir.

Er stand auf mich. 

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